Thermoplastische Kunststoffe
Grund genug, sich einmal grundsätzlich mit dem Aufbau und den Eigenschaften dieser thermoplastischen Kunststoffe zu beschäftigen. Aufgrund der Erfolge der Polymerchemie wurde Kunststoff in den 50er-Jahren des 20. Jahrhunderts zu einem günstig herzustellenden Werkstoff für die industrielle Massenfertigung. Relativ schnell fanden diese Kunststoffe auch ihren Weg in die Orthopädieschuhtechnik. In den 1960er-Jahren wurden sie erstmals in der Forschungswerkstatt am Annastift in Hannover erprobt. Es waren vor allem Gießharze, Thermoplaste und Hartschäume, die für den praktischen Einsatz getestet wurden. Fest, wo man Unterstützung benötigt, und flexibel, wo Bewegung möglich sein soll, und das alles bei sehr geringem Gewicht – das war das Versprechen der neuen Werkstoffe. Im Laufe der Jahre entwickelten sich aus den allgemein verfügbaren Basiskunststoffen spezielle Materialien oder Materialkombinationen, die genau auf die Anforderungen in Bezug auf Verarbeitung und Materialeigenschaften abgestimmt wurden. In den Werkstätten sind die Materialien vor allem unter den Markenzeichen der Hersteller bzw. Händler bekannt. Bezeichnungen wie Tepp, Thermit, Max oder Orca sind allen geläufig. Die genaue Zusammensetzung der Materialien, die ihnen ihre besonderen Eigenschaften verleihen, ist das Betriebsgeheimnis der Hersteller. Egal ob kompakt oder geschäumt, hart (als Verstärkung) oder weich (als Polster oder Bettung), die Verarbeitung verläuft ähnlich und ist dem Orthopädie-Schuhtechniker vertraut. Alle Materialien verbindet jedoch, dass sie unter Wärmeeinwirkung verformbar, also thermoplastisch sind.
Durch Wärme verformbar
Kunststoffe, die sich verformen lassen begegnen uns täglich, angefangen vom Joghurt-Becher aus Plastik bis zur Hülle für das Smartphone. Im Gegensatz zu Duroplasten, die nach ihrer Aushärtung nicht mehr verformt werden können, lassen sich thermoplastische Kunststoffe wiederholt und – theoretisch – beliebig oft verformen. Wörtlich übersetzt ist ein Thermoplast ein Stoff, der sich in der Wärme verformen lässt.
Das liegt an der besonderen Struktur des Materials. Thermoplaste sind aus langen und unverzweigten bzw. nur wenig verzweigten Ketten von Makromolekülen aufgebaut. Chemisch betrachtet fehlt den Thermoplasten im Gegensatz zu den Duroplasten die Quervernetzung. Es bestehen keine chemischen Verbindungen zwischen den Makromolekülen. Die Makromoleküle halten untereinander nur durch physikalische Anziehungskräfte zusammen. Erwärmt man einen Thermoplasten, geraten die Moleküle in Schwingungen, die Anziehungskräfte werden geringer und die Makromoleküle lassen sich gegeneinander verschieben. Das bedeutet, das Material lässt sich einfach verformen. Nach dem Abkühlen wirken wieder die physikalischen Anziehungskräfte der Makromoleküle und das Material wird fest. Jeder, der Thermoplaste verarbeitet weiß, dass es für die Verformbarkeit auf die richtige Temperatur ankommt. Wird das Material zu stark erhitzt, kann es komplett zerstört werden. Um die einzelnen Zustände zu beschreiben, werden vier unterschiedliche Bereiche definiert:
Hartelastischer Zustand
Dies beschreibt den Zustand bei geringen Temperaturen. Die Makromoleküle sind engmaschig miteinander verbunden. Das Material ist steif oder kaum beweglich.
Thermoelastischer Zustand
Im thermoelastischen Zustand, bei leichter Erwärmung erhöht sich die Beweglichkeit des Materials. Der Kunststoff wird weichelastisch, teilweise auch gummielastisch. Das bedeutet, der Kunststoff kann in seiner Form verändert werden, kehrt aber von selbst immer wieder in seine Ursprungsform zurück. Die Verformung ist also nur elastisch und nicht plastisch bzw. dauerhaft). Die Anziehungskraft der Makromoleküle ist vermindert, aber immer noch stark genug, wieder die Ursprungsform anzunehmen.
Thermoplastischer Zustand
Im thermoplastischen Zustand, der durch die Erhöhung der Temperatur erreicht wird, wirken die Anziehungskräfte der Makromoleküle nicht mehr. Dadurch können die Molekülketten aneinander vorbei gleiten. Wird das Material verformt, bleibt die Verformung erhalten, sie sind also plastisch.
Thermische Zersetzung
Bei der thermischen Zersetzung, wenn die Temperatur zu hoch ist, werden die Molekülketten zerstört. Der Kunststoff plastisch oder flüssig zersetzt sich bei weiterer Erhitzung in seine Grundbestandteile. Die verschiedenen Zustände kennt mancher vielleicht aus eigener Erfahrung, wenn man zum Beispiel aus Versehen eine Plastikschüssel auf einer noch heißen Herdplatte abstellt. Merkt man es rechtzeitig, ist die Schüssel noch im thermoelastischen Zustand. Sie ist zwar flexibel, hat sich aber von sich aus, bzw. aufgrund der Schwerkraft noch nicht verformt und kann somit für die künftige Verwendung gerettet werden. Fällt das Versehen erst etwas später auf, hat sich die Schüssel schon thermoplastisch verformt. Theoretisch könnte man sie in diesem Zustand in die Ursprungsform zurückbringen. Praktisch ist sie aber meist ein Kandidat für die Mülltonne.
Kommt es zur thermischen Zersetzung auf der Herdplatte, zum Beispiel weil die Platte noch angeschaltet ist, fängt die Plastikschüssel an zu kokeln und zersetzt sich irreversibel. Dann ist es unter Umständen hilfreich zu wissen, wo ein geeigneter Feuerlöscher hängt. Die kontrollierte thermische Zersetzung kann aber durchaus auch gewollt sein. Bei der Müllverbrennung wird der ganze Kunststoff zerstört. Es entsteht Wärme und Rauch, aus dem die Schadstoffe gefiltert werden müssen. Beim Recycling werden die Kunststoffe eingeschmolzen, um daraus wieder neue Produkte herzustellen. Das gelingt am besten, wenn die Thermoplaste sortenrein gesammelt werden, da verschiedene Thermoplaste nur begrenzt oder gar nicht mischbar sind.
Amorphe und teilkristalline Thermoplaste
Innerhalb der Gruppe der Thermoplaste unterscheidet man weiter zwischen teilkristallinen Thermoplasten und morphen Thermoplasten.
Amorphe Thermoplaste
Die Molekülketten sind im festen Zustand vollkommen orientierungslos und in sich verknäult angeordnet. Das Material ist im Vergleich zu teilkristallinen Thermoplasten eher spröde, weniger temperaturbeständig und empfindlich gegenüber organischen Lösungsmitteln.
Den Temperaturbereich, in dem ein amorpher Thermoplast fest und spröde ist, nennt man Glasbereich (s. unten). Durch die relativ großen Abstände zwischen den Molekülketten kann viel Licht dringen. In diesem Zustand besitzt der Kunststoff ähnliche Eigenschaften wie Glas- er ist relativ spröde und (in reiner Form) transparent. Beispiele: PVC, Polycarbonat, Acrylglas.
Teilkristalline Thermoplaste
Die Molekülketten sind zum Teil orientierungslos, zum Teil aber auch parallel geordnet ausgerichtet. Hier können zwischenmolekulare Kräfte besonders gut wirken, daher sind die Thermoplaste in diesen kristallinen Bereichen besonders hart und stabil. Dadurch besitzen teilkristalline Thermoplaste höhere physikalische Kennwerte und sind temperatur- und chemikalienbeständiger als amorphe Thermoplaste.
Aufgrund der teilweise parallel liegenden Molekülketten kann weniger Licht durchdringen, deshalb sind teilkristalline Kunststoffe ohne Farb- und Zuschlagstoffe opak (durchscheinend, milchig) aber nicht glasklar durchsichtig. Beispiele: Polyethylen, Polypropylen, Polyamid.
Glasübergangstemperatur
Die Glasübergangstemperatur ist die Temperatur, bei der Polymere bzw. Kunststoffe vom zähelastischen oder gummielastischen Zustand in den glasigen, hartelastischen Zustand übergehen. Der Begriff Glas bezeichnet hier eine erstarrte Flüssigkeit. Der Glasübergang wird deshalb auch „Erweichungstemperatur“ genannt. Diese ist bei jedem Kunststoff anders, weshalb man Kunststoffe anhand ihrer Glasübergangstemperatur unterscheiden kann. Das in der Branche bekannte Ortholen zum Beispiel hat eine Glasübergangstemperatur von -95 °C. Im Bereich zwischen Glasübergangstemperatur und Schmelztemperatur lösen sich die teilkristallinen Strukturen auf und der Kunststoff ist nur noch amorph. Beim Abkühlen bilden sich deutlich unterhalb der Schmelztemperatur die teilkristallinen Bereiche wieder aus. Das kann man zum Beispiel bei einer Hart-PE-Platte sehr gut erkennen, da sie im kalten Zustand weiß opak (also durchscheinend) ist, im Schmelzbereich glasklar durchsichtig wird und in der Abkühlphase langsam wieder opak wird. Prinzipiell kann die Art der Abkühlung maßgeblichen Einfluss auf die späteren Materialeigenschaften nehmen. Wird die Ausbildung der teilkristallinen Bereiche gebremst oder verhindert, dann ist das Material deutlich spröder als erwartet. Manche Materialien verhalten sich hier eher gutmütig und fehlertolerant, andere sehr empfindlich. Aus diesem Grund sind unbedingt die Verarbeitungsrichtlinien der Hersteller einzuhalten. Aus den Kennwerten Glasübergangstemperatur und Materialstruktur ergibt sich der praktische Einsatzbereich der Kunststoffe.
Amorphe Thermoplaste
Einsatz unterhalb der Glasübergangstemperatur.
Teilkristalline Thermoplaste
Einsatz unterhalb und oberhalb der Glasübergangstemperatur. Obere Grenze ist meist die Schmelztemperatur.
Duroplaste
Einsatz unterhalb der Glasübergangstemperatur. Obere Grenze ist die Zersetzungstemperatur.
Elastomere
Einsatz oberhalb der Glasübergangstemperatur. Obere Grenze ist die Zersetzungstemperatur.
Polyethlyen und Polypropylen
Thermoplastische Kunststoffe können auf der Basis unterschiedlicher Rohmaterialien hergestellt werden. Hier gibt es eine Vielzahl von Spezifikationen mit sehr unterschiedlichen Materialeigenschaften. Polyethlyen (PE) und Polypropylen (PE) sind zwei in der Orthoädieschuhtechnik häufig verwendete Ausgangsstoffe, die als Plattenmaterial für individuelle Versorgungen oder als Ausgangsmateriale für konfektionierte Hilfsmittel eingesetzt werden. Diese Werkstoffe sind relativ preisgünstig und recht einfach mit der üblichen Werkstattausrüstung zu verarbeiten. All diese Materialien sind allerdings problematische Klebepartner für die üblichen Kontaktklebstoffe. Dies gilt besonders für die Verklebung mit sich selbst aber auch für die Verklebung mit anderen Materialien. Bei Bedarf sind Spezialklebstoffe erhältlich, zum Beispiel Kontaktklebstoff „Ortec“ (Fa. Renia) für die Verklebung mit vielen anderen Materialien und ein 2K-Konstruktionsklebstoff K75 (Fa. Exact Plastics) für die Verklebung mit sich selbst oder vielen anderen Materialien. Die Verformungstemperatur ist nicht nur vom Material selbst, sondern auch von anderen Faktoren wie zum Beispiel Plattendicke, Heiztechnik, Verformungstechnik und Verformungsgrad abhängig. Deshalb ist es recht schwierig, absolute Temperaturen zuverlässig anzugeben und vor allem auch bei der handwerklichen Verarbeitung einhalten zu können. Der Schmelzbereich liegt bei den PE-Typen bei 130–145 °C und bei PP etwas höher bei 160–165 °C.
Polyethylen (PE)
Polyethylen entsteht durch Polymerisation von Ethen, einem gasförmigen Stoff, der aus Erdöl gewonnen wird. Wenn keine Farbpigmente zugesetzt werden, ist Polyethylen durchscheinend, jedoch nicht völlig durchsichtig. Nur wenn man Polyethylen zu einer sehr dünnen Folie verarbeitet, wird es durchsichtig. Polyethylen ist gut resistent gegen viele Chemikalien. Weich-Polyethylen hat eine gute Zähigkeit, allerdings eine niedrige Festigkeit, Steifigkeit und Härte. Es ist empfindlich gegen Spannungsrissbildung (Weißbruch) Hart-Polyethylen ist steifer und fester als Weich-PE. Es ist das Standard-Material für verschiedene Anwendung in OST und OT, zum Beispiel für Orthesen und Korsetts. Auch Hart-PE ist empfindlich gegen Spannungsrissbildung (Weißbruch) Hoch- und ultrahochmolekulares Hart-PE ist in der Branche zum Beispiel unter den Handelsbezeichnungen Subortholen (500) und Ortholen (1000) bekannt. Es ist steifer als Hart-PE und hat sehr gute Gleit- und Verschleißeigenschaften. Es ist zudem sehr ausreiß- und weiterreißfest und kalt treibbar (wie Blech).
Polypropylen (PP)
Polypropylen wird durch Kettenpolymerisation von Propen hergestellt. Propen ist ein farbloses, brennbares Gas, das durch thermische Spaltung der bei der Erdölverarbeitung anfallenden Leichtbenzine entsteht. Seine Eigenschaften ähneln dem Polyethylen. Polypropylen hat jedoch eine höhere Steifigkeit, Härte und Festigkeit als Hart-PE. Die Spannungsrissbeständigkeit ist gut (besser als bei Hart-PE) und es ist ähnlich zu verarbeiten wie Hart-PE, jedoch im heißen Zustand deutlich klebriger.
Faserverbundwerkstoffe
Faserverbundwerkstoffe haben komplett andere Eigenschaften als die unverstärkten thermoplastischen Kunststoffe. Wie der Name schon erkennen lässt handelt es sich hierbei um ein Verbundmaterial aus Fasern und Kunststoff. Die Kraftaufnahme erfolgt über hochfeste Verstärkungsfasern, die in einen Kunststoff eingebettet sind. Die Fasern haben extrem höhere Kennwerte in Bezug auf Festigkeit und Steifigkeit als die Kunststoffmatrix und erlauben eine richtungsgebundene Verstärkungswirkung in Faserlängsrichtung. Dadurch lassen sich deutlich steifere, leichtere und dünnere Hilfsmittel und Einbauelement eherstellen als mit unverstärkten Platten aus thermoplastischem Material. Die Kunststoffmatrix kann dabei duroplastisch oder auch thermoplastisch sein. Die Herstellung kann in verschiedenen Arbeitstechniken erfolgen, zum Beispiel im Handlaminierverfahren oder im Vakuumverfahren. Es gibt heute aber auch ein System (Easypreg), bei dem die Fasern bereits mit einem thermoplastischen Kunststoff vorimprägniert sind. Mit diesem System hat man eine Auswahl an verschiedenen Verstärkungsmaterialien zur Verfügung, die man mit wenigen Zusatzkomponenten in den branchenüblichen Tiefziehgeräten.