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8. Februar 2017
Redaktion

„Der Kunde muss das leben!“

Ende der 1980er-Jahre sind lösemittelfreie Klebstoffe für Schuhe auf dem Markt. Inzwischen konnte die Industrie die Adhäsionskraft der Klebstoffe weiterentwickeln. Für Anwender gibt es im Umgang mit ihnen jedoch einige Besonderheiten zu beachten. Wie gehen sie mit lösemittelfreien Klebstoffen um und welche Erfahrungen haben sie gesammelt? Von Julia Knaut

1980er-Jahre
Foto: OSM Martin Buchholz

Jahrelang arbeitete OSM Siegfried Horsch in seiner Werkstatt im schwäbischen Nattheim mit lösemittelhaltigen Klebstoffen. Immer wieder musste er husten, der Husten wurde chronisch, bis Horsch schließlich Asthmaanfälle bekam. Der Lungenfunktionstest beim Spezia­listen zeigte Horschs eingeschränkte Lungentätigkeit durch Asthma bronchiale.

Die Diagnose: Siegfried Horsch reagiert allergisch auf die sogenannte Phthalsäure, die in nahezu jedem lösemittelhaltigen Klebstoff enthalten ist. Die Berufsgenossenschaft riet Horsch, den Beruf zu wechseln – das kam für den OSM allerdings nicht in Frage. Stattdessen machte er sich auf die Suche nach einem lösemittelfreien Klebstoff ohne Phthalsäure. Die Suche gestaltete sich problematisch, da viele Hersteller Phthalsäure auf dem Klebstoff bis zu einem bestimmten Grenzwert laut EU-Norm nicht ausweisen müssen. Ein Materiallieferant empfahl Horsch schließlich den Dispersions­klebstoff Aquilim von Renia.

Unterschiedliche Erfahrungen

„Umgestiegen bin ich im Jahr 2013 und am Anfang hat der Kleber super gehalten. Ich habe etwa ein Jahr lang gut mit Aquilim arbeiten können, dann gab es Probleme“, erinnert sich Siegfried Horsch. Der Sprühkleber sei flüssiger geworden und er hätte viele Reklamationen von seinen Kunden bekommen, weil sich etwa die Decksohlen gelöst haben. Siegfried Horsch arbeitete mit den Klebstoffen Aquilim 250 und Aquilim 315 (Hinweis: Aquilim 250 wird laut Renia wegen Einstellung der Rohstofflieferung nicht mehr hergestellt. Details und Ersatzprodukt siehe auch Marktübersicht ab Seite 11). Letzteren verwendete er vor allem für Fußbettungen sowie Einlagen und deren Bezüge. Nach Horschs Erfahrung hält der Streichkleber besonders gut auf PVC. Nach mehreren Tests arbeitet der OSM auch heute noch mit dem lösemittelfreien Kleber Aquilim, hat für seine Bedürfnisse aber eine Sonderlösung entwickelt.

Der Umgang mit lösemittelfreiem Klebstoff stellt Anwender vor besondere Herausforderungen, erfordert aber auch eine Umstellung der Arbeitsprozesse. „Wir haben auf unser Aquilim sehr unterschiedliche Rückmeldungen erhalten, die sehr positiv, aber auch negativ waren“, erklärt Dr. Martin Buchholz, Chemiker bei Renia in Köln. Diese Erfahrung bestätigt Michael Tiffinger, Geschäftsführer der Lederhandlung Kessler bei München: „Manche unserer Kunden kommen gut mit dem Kleber zurecht, manche nicht. Insgesamt ist da ein Umdenken bei der Verarbeitung nötig“, gibt Tiffinger zu bedenken.

Details sind entscheidend

Chemiker Martin Buchholz grenzt drei Problembereiche voneinander ab, die er bei der Verarbeitung sieht.

Nach seiner Einschätzung wird das Klebeergebnis maßgeblich von den verwendeten Pinseln und der Auftragsstärke beeinflusst, zum anderen aber auch vom Verhalten der OSM sowie von Trockenzeiten und Materialkombinationen. Buchholz empfiehlt für die Verarbeitung von Aquilim-Streichklebern Pinsel aus möglichst feinen Synthetikborsten; diese ermöglichen einen sehr feinen und dünnen Kleberauftrag und saugen sich im Gegensatz zu Naturborsten nicht voll. In jedem Fall sollte der Pinsel sofort nach Gebrauch in Wasser oder zurück in die Klebelösung gestellt werden, da der Pinsel sonst schnell aushärtet und der Kleber nicht mehr zu lösen ist. Ein Blick in die chemischen Grundeigenschaften lösemittelfreier Klebstoffe verdeutlicht die Ursachen. Bei Klebern wie Aquilim handelt es sich um dispergierte, nicht gelöste Klebesysteme. Das heißt, der Kleber besteht aus Feststoffen, die in Wasser gebunden sind. Die Festigkeit des Klebers entsteht durch Verdampfen des Wassers, die zuvor gebundenen Feststoffe „rücken“ im Klebefilm enger zusammen, bis schließlich keine Dispersion mehr übrig und die endgültige Klebefestigkeit erreicht ist. Die Feststoffe lassen sich danach nicht wieder in Wasser lösen, das Verdampfen der Dispersion ist ein irreversibler Prozess. Ist ein Pinsel mit lösemittelfreiem Klebstoff also einmal angetrocknet, kann er nicht mehr genutzt oder mit einem Lösemittel gereinigt werden. „Fest ist fest, deshalb sollte der Pinsel gleich ins Wasser gestellt werden“, hebt Martin Buchholz hervor. Sein Appell lautet daher: besser auf Arbeitsmittel achten. Am Ende des Arbeitstages sollte der Pinsel auf jeden Fall ge­reinigt werden.

Neben der Pinselwahl und -aufbewahrung hat auch der Klebeauftrag entscheidenden Einfluss auf das Klebe­ergebnis. Aufgrund des wesentlich höheren Festkörperanteils lösemittelfreier Klebstoffe können Anwender eine größere Fläche mit einer dünneren Klebeschicht bestreichen, sodass sie auch die insgesamt benötigte Klebstoffmenge reduzieren können. Zum Vergleich: Lösemittelhaltige Kleber enthalten zwischen 10 und 20 Prozent Festkörper, während diese bei der lösemittelfreien Alternative Aquilim zwischen 45 und 55 Prozent ausmachen.{pborder}

Anpassung der Arbeitsprozesse erforderlich

Sprühkleber punktet ohnehin durch einen geringeren Materialverbrauch, für OSM empfiehlt Martin Buchholz, eher größere Flächen mit Aquilim zu besprühen, das heißt Teile ab 20 bis 30 Zentimeter Länge. Vor allem sollten sie den Kleber zunächst an Materialien testen, mit denen sie bisher gearbeitet haben. Nur so könnten sie herausfinden, wie viel Kleber sie für welches Material benötigen beziehungsweise wo dessen Möglichkeiten und Grenzen liegen. „Der Klebstoffauftrag erfordert Übung, man muss erst ein Gefühl für die Verarbeitung bekommen“, fasst Martin Buchholz zusammen.

Er weist aber auch darauf hin, dass es „Problemmaterialien“ gibt, bei denen lösemittelfreier Kleber nicht hält. Schwierig ist etwa der Umgang mit stark saugenden PUR-Materialien. Hier muss der Anwender zum Teil drei bis vier Mal Kleber auftragen und dann noch das Wasser verdampfen lassen. „Fünf bis zehn Minuten wie bei lösemittelhaltigen Klebern reichen hier nicht, da muss der OST die Zeit entsprechend anpassen“, meint Buchholz. Dieser Prozess kann jedoch über Trocknung im Ofen beschleunigt werden, um die Klebeteile dann im Tiefziehgerät zu verbinden. Eine andere Möglichkeit ist laut Buchholz das Auftragen einer Sperrschicht: Das PUR sollte der Anwender einmal dünn mit einer Klebeschicht vorstreichen, diese trocknen lassen und dann noch eine zweite dünne Klebeschicht auftragen. Der Trockenprozess lässt sich mit einer Heißluftpistole oder einem Umluftofen beschleunigen, da Aquilim nicht brennbar ist.

Wenn diese Arbeitsabläufe nach einigem Ausprobieren einmal sitzen, kann der OSM sogar noch schneller als mit ­lösemittelhaltigem Klebstoff arbeiten, zeigt sich Martin Buchholz überzeugt. Als Beispiel führt er die Verklebung von EVA-Einlagen an: Aquilim 315 auftragen, im Ofen trocknen und gleichzeitig das EVA auf 120 Grad Celsius aufheizen. Anschließend die Einlage in der Vacuumpresse formen.

Insgesamt habe die Industrie lösemittelfreie Kleber in puncto Festigkeit, Einsatzspektrum und Verarbeitung weiterentwickeln können, momentan sei lösemittelhaltiger Klebstoff allerdings noch multifunktioneller einsetzbar, vor allem für Spezialmaterialien. Buchholz empfiehlt OSM, die an einem Umstieg auf die lösemittelfreie Alternative interessiert sind, zunächst in einem Teilbereich mit dem Kleber zu arbeiten und ­Erfahrungen zu sammeln. Nicht zu vernachlässigen sei zudem die Lagerung von Aquilim. Die auf Wasserbasis dispergierten Klebstoffe sollten nicht unter 4 Grad Celsius, optimal bei 20 Grad Celsius gelagert werden.

Marktpotenzial für lösemittelfreie Kleber

Michael Tiffinger von der Lederhandlung Kessler bestätigt auf Basis der Rückmeldungen seiner Kunden, dass lösemittelfreier Klebstoff sensibel in der Verarbeitung ist. Der Anwender müsse die zu verklebenden Materialien frisch aufrauhen, Staubpartikel abblasen und die Trockenzeiten genau einhalten. Probleme machten seinen Kunden zufolge vor allem pflanzlich gegerbte Leder als Überzüge von Einlagen. Auch Michael Tiffinger bekommt von seinen Kunden ganz unterschiedliche Reaktionen auf Aqui­lim: Während ein Kunde aus der OST (mit drei Mitarbeitern) seit fünf Jahren nur noch mit Aquilim arbeitet, also komplett auf lösungsmittelfreien Kleber umgestiegen ist, sind andere Kunden wieder zum lösemittelhaltigen Klebstoff zurückgekehrt. „Viele fahren aber auch zwei­gleisig und verwenden beide Klebstoff­arten“, erklärt Tiffinger. Insgesamt sieht er ein großes Potenzial für den Kleber und glaubt an einen steigenden Bedarf der Kunden. Momentan agierten seine Kunden aber noch vorsichtig und das nötige Bewusstsein für weniger gesundheitsschädlichen Kleber habe sich noch nicht durchgesetzt. In Bezug auf den Einsatz lösemittelfreien Klebstoffs resümiert Michael Tiffinger: „Der Kunde muss das leben, sonst funktioniert es nicht.“

Selber experimentieren

Sven Berneis von der berneis natürlich-aktiv GmbH in Dresden arbeitet seit über zwei Jahren mit Aquilim. Er verwendet Aquilim derzeit als Sprühkleber in der Einlagenherstellung und für Fräseinlagen. Die Einlagenherstellung findet bei Berneis in einem separaten Raum statt, dort sind Sprüharbeitsplätze mit spezieller Absaugung und Filtersystem eingerichtet. Der OSM bewertet die Klebeergebnisse als „durchweg positiv“. Er weist aber auch darauf hin: „Vor der Einführung neuer Bezugsstoffe oder Materialien ist man zum Testen der Klebefähigkeit gezwungen – es klebt halt nicht alles.“ Zudem hätte die Einarbeitungszeit der Mitarbeiter und die Umstellung der Arbeitsprozesse nur kurz gedauert, wichtig sei aber vor allem die Überzeugungsarbeit, die bei den Mitarbeitern geleistet werden müsse.

Als nächstes will Sven Berneis lösemittelfreien Streichkleber im Schaftbau erproben. Sprühkleber kann er in diesem Bereich nicht verwenden, da eine entsprechende Absauganlage fehlt. Daher müssten im Schaftbau momentan noch Arbeitsabläufe umgestellt werden. Eine Zeitersparnis wie beim Einsatz von Sprühkleber erwartet er beim Streichkleber nicht.

Mitarbeiter müssen überzeugt sein

Die Mitarbeiter der Schuhmarke Trippen in Berlin setzen seit mehr als 13 Jahren verschiedene lösemittelfreie Klebstoffe ein. Heute ist der Maßschuhhersteller zu 85 Prozent auf den Klebstoff umgestiegen, wobei die Mitarbeiter in der Werkstatt nur für Gummiformsohlen, die nicht genäht werden, lösemittelhaltigen Klebstoff verwenden. Michael Oehler, Mitbegründer der Schuhmarke, erklärt, es habe mehrere Jahre gedauert, alle Mitarbeiter von der lösemittelfreien Alternative zu überzeugen. „Insbesondere die Wartezeiten [zum Ablüften und Verdunsten des Wassers, Anm. d. Red.] und die kurze offene Zeit wurden als leistungshemmend empfunden“, erinnert sich Oehler. Problemen bei der Verarbeitung des Klebers kommen die Mitarbeiter mit gut geschärftem Leder zuvor, zum Klebeerfolg trägt zusätzlich heiße Luft bei, die die Materialien geschmeidiger macht. Um die Ablüftzeit des lösemittelfreien Klebers zu kompensieren, braucht man Michael Oehler zufolge ausreichend Platz in der Produktion, sodass mehrere Stücke trocknen können und keine Arbeitsplätze blockiert werden. Die Luftqualität in der Werkstatt hat Trippen zusätzlich verbessert, indem der verbleibende Anteil lösemittelhaltiger Klebstoffe nur in einem separaten Raum mit Absauganlage verarbeitet wird.

Doch wie sollen Ein-Mann-Werkstätten und kleinere OST-Betriebe mit geringerer Schuh- und Einlagenproduktion die lösemittelfreie Klebealternative erfolgreich einsetzen?

OSM Siegfried Horsch hat für seine Bedürfnisse bei der Einlagenverklebung eine eigene Kombinationslösung gefunden: Die Einlage streicht er mit dem Neopren-Kleber Europren 2618 ein, der als eines der wenigen Produkte am Markt gar keine allergieauslösende Phthalsäure enthält. Das Bezugsmaterial besprüht er mit Aquilim 315. Das sei für ihn die einzige Möglichkeit, eine gute Haftung des Klebers zu erzielen, ohne dass der Kleber auf dem Einlagenbezug durchschlägt, meint Siegfried Horsch. Probleme bereiteten ihm beim Testen der Material-Kleber-Kombinationen vor allem Polstermaterialien sowie mit tierischen Fetten gegerbte Lederbezüge. Jetzt kann er die gute Haftung des Neoprenklebers Europren 2618 mit dem geringeren Materialverbrauch des Aquilim-Sprühklebers kombinieren, ohne von Lösemitteln gesundheitlich beeinträchtigt zu werden.

Asthmafrei dank Sonderlösung

Für Laufsohlen nutzt Horsch den lösemittelfreien Universalkleber Aquilim 250, den er verstreicht. Die Klebeergebnisse bewertet er positiver als bei Aquilim 315, allerdings würden ihn die Arbeitsschritte viel Zeit kosten. Zunächst halogeniert Horsch die Laufsohle mit dem Renia-Primer Rehagol, dann lässt er die Sohle etwa 60 Minuten ablüften und streicht sie im Anschluss mit Aquilim 250 plus Härterzusatz ein. Die eingestrichene Sohle lässt er dann nochmals mindestens 30 Minuten ablüften, wobei die Zeitspanne zwischen Sommer und Winter schwankt, je nach Luftfeuchtigkeit und Umgebungs­temperatur. Horsch beschleunigt diesen Prozess mit einem kleinen Wärmeofen, dennoch braucht er für die Sohlen einen Ort zum Ablüften – Platz, der in seiner Werkstatt knapp bemessen ist, zumal er in dieser Zeit nicht an der Sohle weiterarbeiten kann. Ob kleinere oder größere Werkstatt – Faktoren wie Umgebungs­temperatur, Luftfeuchtigkeit, Ablüftzeit und Platzangebot erfordern im Umgang mit lösemittelfreien Klebstoffen eine Anpassung der Arbeitsprozesse. Vor allem kleinere Betriebe sind dabei gezwungen, ihre Abläufe straff zu organisieren, wenn sie wie Siegfried Horsch nur an bestimmten Wochentagen zum Beispiel Einlagen fertigen.

Unumstritten bringen lösemittelfreie Klebstoffe langfristig einen großen gesundheitlichen Vorteil für den Anwender. Wer auf den Alternativkleber umsteigen möchte (oder muss), dem empfiehlt es sich, zunächst mögliche Material-Kleber-Kombinationen zu testen und dann die Arbeitsabläufe anzupassen.

Ausgabe 02/ 2017

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Foto: Andrey Popov/Adobe Stock
Schuhsohle
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