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11. Januar 2021
Redaktion
Passt!

Wie ein Maßleisten entsteht

NIKE U. BREYER

 

Im Leisten steckt der Gewinn – für den Träger wie für den Schuhmacher. Denn nur ein perfekt ­passender Leisten ermöglicht einen perfekt passenden Schuh. Die Königsklasse ist der Maßleisten. Seine Herstellung erfordert ein komplexes Ausbalancieren von Anatomie, Biomechanik und ­Psycho­logie.
Foto: Dominik V. Wendel.

Wie das geht, stand beim 5.  deutschsprachigen Maßschuhmachertreffen Anfang ­Oktober ­vergangenen Jahres in Staufen/Breisgau im Mittelpunkt.

Metiri se quemquem suo modulo ac pede, verum est“. Zu deutsch „Den Schuh nach den Maßen des eigenen Fußes wählen, das ist wahre Kunst“. Mit diesen Worten empfahl der römische Dichter Horaz (65–8 v. Chr.) seinen Zeitgenossen, ihr Glück zu schmieden, indem sie ihre Eigenheiten erkennen und berücksichtigen. Was mindestens für die Fußbekleidung im Alten Rom – weitgehend sandalenartige Riemenschuhe – einfacher gewesen sein dürfte als heute. Denn einen Schuh, der so lala passt, bekommt heute zwar jeder problemlos im Handel. Einen Schuh, der die Individualität des Fußes verwirklicht, so wie es Horaz empfahl, kann dagegen nie ein Konfektionsschuh sein. Hierfür ist Handarbeit und ein Maßleisten erforderlich, den nur ein erfahrener Schuhmacher schaffen kann. Eine äußerst anspruchsvolle Aufgabe, bei der komplexe Informationen zu einem stimmigen Ganzen, dem Maßleisten, verschmolzen werden. Trotz moderner Scanner und umfassender Messdaten bewältigt diese Interpretationsleistung noch kein Computer-Programm in ähnlicher Perfek­tion.{pborder}
Maßleisten – modernes Hexenwerk
Das hat Gründe. Denn ob und wann etwas passt, ist mit Zahlen allein nicht hinreichend zu fassen. Vielmehr umschreibt „passen“ eine Verhältnisbeziehung von Fuß/Träger und Schuh und ist damit eine relationale Größe. Länge, Weite und Volumen des Leistens ist das eine. Aber wie diese Maße, wenn sie Schuh geworden sind, mit dem Fuß interagieren, ist das andere – und das ist nicht restlos standardisierbar. Weiches oder festes Bindegewebe verhält sich unterschiedlich, ebenso starke oder feinere Knochen, ein unterschiedlicher Muskeltonus und unterschiedliche Körperspannung. Sogar Hautfeuchte und Temperatur haben Einfluss, um nur einige Faktoren zu nennen. Dazu kommen unterschiedliche Vorlieben. Was der eine komfortabel findet, empfindet ein anderer als unerträglich. Darüber hinaus prägen Vorstellungen im Kopf unser Empfinden von dem, was „passt“, also Bilder, wie sie – meist unbewusst – der Zeitgeschmack, wechselnde Moden und kulturspezifische Körperbilder vorgeben. Was wir als attraktiv oder unattraktiv empfinden, ist zumeist weit weniger individuell als wir denken, vor allem bei der Leistenform. Während Farben und Materialien sehr persönlich sind, ist unsere Bewertung von Formen und Proportionen stark vom Zeitgeschmack überformt. Ein Schuh aus den 1980er-Jahren hat eine objektiv andere Form als ein Schuh aus den 1970ern oder 1990ern. „Und hier wären also meine Platt-, Spreiz- und Senkfüße“. Diesen Satz bekommt etwa Maßschuhmacherin Annabelle Stephan aus Hamburg beim Maßnehmen immer wieder zu hören. Darin steckt die ganze Herausforderung Denn den Zeitgeschmack mit der real existierenden Fußmorphologie zu einem stimmigen Gesamtbild zu verschmelzen, ist für jeden Schuhmacher immer wieder ein fast akrobatisches Kunststück.
Die getragenen Schuhe geben wertvolle Informationen. Foto: Nike U. Breyer. Die Brandsohle orientiert sich am Fußumriss, ist aber zugleich schlanker und länger. Foto: Nike U. Breyer. Vier Fuß-Umfangmaße werden in die Tabelle und die Umrisszeichnung eingetragen. Foto: Nike U. Breyer.
 Die am Fuß gemessene Zehenhöhe wird auf den Leisten übertragen. Foto: Nike U. Breyer.  Die Kunststofffolie wurde mit dem Fön erhitzt und über dem Maßleisten geformt. Dieser Pobeschuh gibt vollen Durchblick. Foto: Nike U. Breyer.

Trittspur, Umriss und Kalkül

Auf dem 5. deutschsprachigen Maßschuhmachertreffen, das Anfang Oktober des Jahres in Staufen/Breisgau stattfand, hat Franz Kählin aus Brienz in der Schweiz (www.zwickmuehle.ch) einen Tages-Workshop zum Thema Leistenbau abgehalten. Er soll hier in geraffter Kurzform wiedergegeben werden, ebenso manche Anmerkung von Teilnehmern. Alles beginnt mit den richtigen Maßen.
Trittspur: Der belastete nackte Fuß des Kunden erzeugt auf Spezialpapier eine blau eingefärbte Trittspur.
Fußumriss: Der auf der Trittspur stehende Fuß wird mit senkrecht gehaltenem Bleistift umzeichnet. Da die Ferse sich über der Trittspur nach außen wölbt, ist der Fußumriss hinter der Ferse etwas länger (< 1 cm) als die Trittspur. Die Brandsohle ist später länger als der Fußumriss.
Leistengröße: Die Leistengröße kann aus dem Umriss (Fußlänge) plus 1 ­Pariser Stich (1 cm = 1,5 Stich) ­hochgerechnet werden und entspricht zugleich der Größe auf dem Heidermaß-Schieber (dt. Schuh­größe = Fußlänge in cm + 1,5 x 1,5). Aber bedenken: Leisten-/Schuhgröße sind Orientierungsgrößen. Die Vorfußlänge ab Ballen zur Spitze ist über die Zehenlänge hinaus Gestaltungssache. Ein Schuh mit ungarischer steiler Kappe benötigt kaum Längenzugabe. Eine flache italienische Schuhspitze braucht deutliche Länge (Vermeiden von Druck aufs Nagelbett), ebenso ein spitzer Schuh (Vermeiden von Stress auf das Großzehengrundgelenk). Pumps und Ballerinas benötigen für guten Halt strategische Untermaße in Länge und Weite.
Franz Kählin hat die Sohlenbahn des Leistens mit Gummileder verbreitert. Foto: Nike U. Breyer.„Fett“ oder knochig – Füße als Informanten
Nicht nur die Maße, auch die Physiologie des Fußes bestimmt wesentlich das Befinden im Schuh. Ist er eher fleischig oder hager, fest oder beweglich? Gibt es Bewegungseinschränkungen, Operationen, anatomische Besonderheiten, etwa Knickfuß, Senkfuß o.ä. (Hochstehende Zehennägel brauchen Platz nach oben). Welche Vorlieben: Eher lockerer Sitz? Eher fester Schluss im Schuh? Sinnvoll ist ein fester Fragenkatalog. Denn das Studium des Fußes und Körpers ist tendenziell unendlich. Großmeister Max Sahm differenzierte vor einem halben Jahrhundert schon zwischen „fetten, fleischigen“ Füßen und „knochig-sehnigen“. Maßschuhmacherin Annabelle Stephan aus Hamburg findet vor allem die Zusammenschau von Händen und Füßen aufschlussreich. Während Simon Doser aus dem bayerischen Dorfen (www.simon-doser.de) darauf schwört, die Füße sorgfältig zu befühlen. Patrick Frei aus Freiburg (www.freischuhe.de) geht die Fußprüfung systematisch an, indem er versucht, am voll belasteten Fuß mit Hand oder Maßband Volumen zu reduzieren. Manche Füße, so Frei, lassen sich leicht zurückdrängen, andere halten bombenfest die Form. Bedingt durch feste Haut, trainierte Muskeln oder intakte Faszien? Das bleibt offen. Bei den bombenfesten verzichtet Frei aber weitgehend auf Mindermaße am Schuh. Diese Beobachtung teilt auch Dominik V. Wendel. Als Maßschuhmacher am Theater Hannover geht es ihm um das schmerzfreie Stehen/Gehen des Fußes in ausdrucksstarken Theaterschuhen (Abb. 1) auf der Bühne. Problematisch seien dabei die hageren Füße, weil da der Knochen ohne Polster unter der Haut liegt. Neben dem Fuß geben auch die getragenen Schuhe des Kunden Informationen. Abrieb an Laufsohle und Absatz verraten das spezifische Bewegungsmuster: Gehen über die Spitze, Belastung der Fußaußenseite (Hohlfuß) oder Fußinnenseiten (Knick-Plattfuß) etc. Abrieb in der Vorfußmitte spricht für Spreizfuß. Abgeriebenes Innenfutter verrät vermehrten Druck durch Zehen-Fehlstellungen, Hammerzehen, besondere Fersenform.
Mit Fußmaßen zum Leistenvolumen
Nach der eingehenden Fußprüfung wird mit vier Maßen das Leistenvolumen ermittelt und die Maße auf dem Umriss-Blatt markiert (Abb. 4). Das Maßband sollte dabei satt, aber nicht zu stramm angezogen werden. Franz Kählin nimmt diese vier Maße: 1. Zehenmaß, 2. Ballenmaß, 3. Vorristmaß, 4. Ristmaß (Taillenmaß). Max Sahm verwendete nur drei Umfangmaße. Entscheidend ist, immer die gleichen Maße an der gleichen Stelle zu nehmen und später auch am Leisten zu markieren. Kählin mindert das Vorspannmaß am Leisten gegenüber dem gemessenen Fußmaß um ca. 1 cm. Sahm empfiehlt, 1,5 Pariser Stich (= ca. 1,01 cm) „abzubrechen“. Dieses Mindermaß verleiht guten Halt im Schuh (Ausnahmen! s.o.), damit der Fuß später nicht schwimmt.
Franz Kählin demonstriert das Ballenmaß. Foto: Nike U. Breyer.Die Brandsohle bestimmt das ­Leistenvolumen 
Kählin schärft ein: Auf eine schöne harmonische Form achten, die zum Schuhtyp passt. Die Brandsohle wird auf der Basis des Fußumrisses gezeichnet, ist aber nicht mit diesem identisch. Sie ist im Vorfuß länger, an der Ferse dagegen ca. 0,75 cm bis 1 cm kürzer (Fersenbalkon). Im Gelenkbereich ohne Bodenkontakt des Fußes (Ausnahme: Senkfuß/Plattfuß) kann die Brandsohle eingezogen werden. Auf eine schöne Form achten! Auch im Ballenbereich sollte die Sohle ca. 1,0 cm schmaler sein als die Umrissbreite. Im äußeren belasteten Gelenkbereich folgt die Brandsohle dagegen dem Fußumriss. Faustregel: Die natürliche Zehenlage im Vorfuß nicht gravierend modifizieren, um Form und Funktion des Fußes zu schonen. Die definitive Sohlenform wird erst mit dem Gestalten des Leistens festgelegt. Leisten und Brandsohlen müssen harmonieren.
Vom groben Klotz zum feinen Leisten  
Die Zeiten, als Schuhmacher den Leisten noch aus einem Holzklotz schnitten, sind Geschichte. Seit Mitte des 19. Jahrhunderts die Leistenfabrik Spenlé die erste Leistenkopiermaschine in Deutschland eingeführt hat, können Leisten identisch kopiert werden. Ausgangspunkt für den Maßleisten ist daher heute ein „fertiger“ Rohleisten. Als hilfreich erweist sich, eine „Bibliothek“ an Leistengrundformen von der Leistenfabrik seines Vertrauens aufzubauen, aus denen der Kunde nach seinen Wünschen auswählt. Die genommenen Fußmaße werden sodann auf den gewählten Leisten in passender Größe/Weite übertragen und dort markiert. Das hilft bei Korrekturen. Wo zuviel Holz ist, wird dies mit der Feile abgenommen und mit Sandpapier geglättet. Wo Holz fehlt, wird mit Gummileder angebaut. Fixpunkt ist der Ballenpunkt. Ein Versetzen gefährdet alle Proportionen. Brandsohlenschablone und Sohlenbahn des Leistens werden behutsam in Übereinstimmung gebracht. Wenn alles umgesetzt ist, wird der Probeschuh angefertigt und nach der Anprobe die letzte Leistenkorrektur vorgenommen. Thermoplastische klare Kunststofffolie (Abb. 6) ist schnell zu formen. Ein Leder-Probeschuh ist aufwändiger, kommt dem authentischen Laufverhalten aber  näher. Ist Entscheidungssache. Maßschuhmacherin Anna Rakemann aus Berlin (www.anna-rakemann.de) arbeitet immer mit einem Lederprobeschuh und sogar mit  einer plastischen Fußbettung. Kählin ist zum Ende gekommen, der Leisten ist fertig. Ein wahres Wunderwerk aus Natur, Wissenschaft und Kultur! Für einen Schuh, der unseren Fuß besser versteht als wir selbst und für ein einmaliges Gefühl von Wohlbefinden und Komfort.
Anschrift der Verfasserin:
Nike Breyer
Hinter der Mauer 1
06484 Quedlinburg
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Foto: Andrey Popov/Adobe Stock
Schuhsohle
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