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7. Juni 2021
Redaktion

Digital mit vollem Programm

WOLFGANG BEST

 

Auch in diesem Jahr konnte der Kongress Technische Orthopädie pandemiebedingt nicht in Garmisch stattfinden. Die Organisatoren ließen sich dadurch aber nicht entmutigen und übertrugen einfach die komplette Veranstaltung am 23. und 24. April 2021 in die digitale Welt.
Foto: LIOST Bayern

Ausfallen lassen war für uns keine Option“, sagte Landesinnungsmeister Magnus Fischer in seiner Begrüßung zum ersten digitalen Kongress der Landesinnung Bayern für Orthopädieschuhtechnik. Noch bis Ende des vergangenen Jahres hatte man darauf gehofft, das 25jährige Jubiläum des Kongresses Technische Orthopädie vor Ort in Garmisch feiern zu können. Als sich abzeichnete, dass dies auch in diesem Jahr nicht möglich sein wird, legte man den Fokus auf den digitalen Kongress, der möglichst genau die Veranstaltung in Garmisch abbilden sollte. Neben dem vollständigen Kongressprogramm wurde auch der Szenetreff mit Fachvorträgen digitalisiert. Und selbst auf die Fachausstellung mussten die Teilnehmer nicht verzichten. Viele der langjährigen Aussteller präsentierten sich mit einem digitalen Messestand. Wie schon 2019 kooperierte die Landesinnung Bayern beim Fachprogramm mit der Deutschen Assoziation für Fuß und Sprunggelenk (D.A.F.), wodurch die Fußchirurgie wieder ihren festen Platz im Programm erhielt.  In einem Grußwort richtete sich der Präsident des Zentralverbandes Orthopädieschuhtechnik, Stephan Jehring, an die Organisatoren und Teilnehmer. Er rief dazu auf, sich in der Orthopädieschuhtechnik trotz aller derzeitigen Herausforderungen und Probleme auf die Chancen zu konzentrieren, die dieses Handwerk auch in Zukunft haben wird. {pborder}

 
Sprunggelenk vor Folgeschäden schützen
Die Prävention und die Therapie von Verletzungen an Fuß und Sprunggelenk standen im Mittelpunkt des Fachprogramms, das gleich mit einer der häufigsten Verletzungen startete. Als Distorsionen werden Ereignisse beschrieben, bei denen der physiologische Bewegungsspielraum des Gelenkes durch äußere Krafteinwirkung überschritten wird, erklärte Dr. Christian Plaaß, Hannover. Passiert das am Sprunggelenk, sind in 90 Prozent der Fälle die lateralen Strukturen von einer Schädigung betroffen. Nur in etwa 10 Prozent sind auch die medialen Strukturen beteiligt. Dann, so Plaaß, handelt es sich meist um komplexere Verletzungen. Diese Distorsionen am Sprunggelenk, häufig verbunden mit einer Außenbandruptur, passieren zu 50 Prozent im Sport und machen dort ein Viertel aller Verletzungen aus. Behandelt wird in der Regel konservativ und frühfunktionell mit Orthesen nach einem anerkannten Behandlungsregime. Gefürchtet sind die chronischen Instabilitäten, die sich nach dem Ende der Therapie einstellen können und etwa 30 bis 40 Prozent der Patienten betreffen. Deshalb, so Prof. Jürgen Freiwald, Wuppertal, ist die Prävention so wichtig. Freiwald fächerte in seinem Vortrag breit auf, welche Faktoren eine Rolle bei der Entstehung von Verletzungen spielen können. Er nannte hier als intrinsische Faktoren zum Beispiel den Trainingszustand, Kraftdefizite, neuromuskuläre Defizite, aber auch Defizite in der Antizipation der Verletzung oder die belastungsbedingte Ermüdung. Auch extrinsische Faktoren wie die Sportart selbst, nicht angepasstes Schuhwerk oder der Bodenbelag können eine Rolle bei der Verletzung spielen. Viele dieser Risiken lassen sich mit gezieltem Training minimieren. Ziele sind hier zum einen die Gelenkstabilisierung, aber auch eine Verbesserung der Antizipation der Verletzung mit entsprechender Reaktion. Nicht zu vergessen sind Hilfsmittel wie Orthesen oder Tapes, die bei der Sportausübung das Gelenk schützen. „Tun ist das Zauberwort“, betonte Freiwald. „Wir wissen schon relativ viel, aber wir müssen es auch umsetzen.“ Eine mögliche Ursache für die hohe Zahl an chronisch instabilen Sprunggelenken ist nach Ansicht von Prof. Heinz Lohrer, Wiesbaden, dass man Sprunggelenkverletzungen in der Vergangenheit oft als Bagatellverletzungen betrachtete und sie deshalb auch nicht richtig diagnostizierte und behandelte. Eine gute initiale Diagnostik und eine konsequente konservative frühfunktionelle Stabilisation und Therapie sind für ihn deshalb die Grundpfeiler, um eine mechanische oder funktionelle Instabilität des Gelenkes zu vermeiden. Für den Fall, dass eine chronische Instabilität entsteht, präsentierte Lohrer einen Algorithmus, der mit entsprechendem sensomotorischem Training und Stabilisierungshilfen beginnt und – falls das Gelenk dadurch nicht stabil wird – weitere diagnostische und therapeutische Optionen bis zur operativen Stabilisierung bietet. Über die Entstehung von Überlastungsschäden und Verletzungen am Sprunggelenk wurde schon viel geforscht. Ganz neue Einblicke verspricht eine Messtechnik, die an der Universität Stuttgart entwickelt wurde. Wie Prof. Wilfried Alt erläuterte, erlaubt es diese Messtechnik, die Achse des unteren Sprunggelenks einfach zu vermessen. Bislang war das sehr aufwändig, doch die vorliegenden Arbeiten würden zeigen: je stärker die Achse von der Fußlängsachse abweicht, desto mehr kann es Auswirkungen auf die Funktion der Muskulatur und die Entstehung von Überlastungsschäden haben. 
 
Prof. Christina Stukenborg-Colsman (l.), gestaltete mit der D.A.F. das Kongressprogramm mit und moderierte gemeinsam mit LIM Magnus Fischer (r. ) Teile des Kongresses. Foto: LIOST Bayern
 
Achillessehne: schwierig und langwierig
Achillessehnenbeschwerden gehören zu jenen Diagnosen, die auch mit der Lage der Achse des unteren Sprunggelenks in Verbindung gebracht werden. In seinem Vortrag über Fersenschmerzen und Achillodynie zeigte OSM und Heilpraktiker Robert Haimerl jedoch die ganze Bandbreite an möglichen Ursachen für diese Diagnose. Ein wichtiger Punkt für ihn ist, dass der Fuß durch das Tragen von Schuhen seine natürliche Funktion als Sinnes- und Greiforgan nicht mehr ausführen könne. Die Folge sei eine Verkümmerung der Muskulatur, weshalb Haimerl bei der Suche nach den Ursachen neben den funktionellen Test und der Schuhinspektion auch immer nach den Auswirkungen von Fehlfunktionen der Muskulatur auf die Schmerzen sucht. Haimerl zeigte in seinem Vortrag, wie wichtig die Beachtung der Muskelfunktionen auch für die Therapie von Beschwerden ist, unabhängig davon, ob man mit Triggerpunkten, mit Kinesiotape, mit Schuhzurichtungen oder mit Einlagen arbeitet. Wie jede Struktur im Körper benötigt die Achillessehne nach einer Belastung Zeit für die Regeneration. Sonst, so Dr. Andreas Lieschke, Regensburg, könne es zu Mikroverletzungen und Entzündungen kommen. Eine Belastungsreduktion sei deshalb immer eine Option, bevor man sich klassischen Therapien wie Einlagen, Injektionen, Orthesen oder funktionellen Übungen zuwende. Bei der Therapie der Achillodynie müsse man Zeit mitbringen, so Lieschke. Und je länger die Vorgeschichte sei, desto länger dauere die Therapie. Die frühfunktionelle konservative Therapie setzt sich auch immer mehr bei Achillessehnenrupturen durch, erklärte Dr. Heiko Durst, Regensburg. Studien zeigten, dass die frühfunktionelle Nachbehandlung gleich gute Ergebnisse erziele wie ein operatives Vorgehen. Auch bei der Rerupturrate gebe es keine Unterschiede. Ähnlich wie von Prof. Lohrer gefordert, sei auch hier die konsequente Einhaltung der Therapie der Schlüssel zum Erfolg. Die frühe, geschützte Belastung sei dabei grundlegend für die Therapie. Erst dadurch würden sich die Fasern so ausrichten, dass die Sehne wieder stabil und belastbar wird, so Durst. 
 
Arthrose: Arthrodese oder TEP?
Knorpelschäden im Sprunggelenk gehören zu den schwierigen Aufgaben in der Fußchirurgie. Das wurde im Vortrag von Dr. Christoph Becher, Heidelberg deutlich. Mit der Mikrofrakturierung, Spongiosaplastiken oder Mosaikplastiken stehen zwar verschiedene Therapien zur Verfügung, doch der Schritt zur nächsten Therapiestufe ist häufig unvermeidlich. Prof. Dr. Kiriakos Daniilidis betonte, dass gerade nach diesen Eingriffen die Hilfsmittel der Orthopädieschuhtechnik gefragt seien, weil es sich dabei nicht um eine funktionsverbessernde, sondern um eine schmerzreduzierende Operation handele und die fehlende Funktion durch Hilfsmittel kompensiert werden müsse. Die Alternative zur Arthrodese am Sprunggelenk ist die Endoprothese, welche die Funktion des Gelenkes erhält und so auch die benachbarten Gelenke schützt. Allerdings ist hier ein guter Einbau sehr wichtig für die Funktion und die Stabilität, erklärte Prof. Christina Stukenborg-Colsman, Hannover. Und nicht jeder, der sich eine Sprunggelenkendoprothese wünscht, erhalte auch eine. Kontraindikationen für den Einbau einer Endoprothese seien zum Beispiel eine Infektion, eine talare Nekrose, eine Charcot-Arthropathie oder schwere Fehlstellungen, die nicht korrigiert werden können. Sowohl bei Arthrodesen als auch bei Endoprothesen sind die Dienste der Orthopädieschuhtechnik gefordert. OSM Magnus Fischer, Burglengenfeld, gab zunächst einen Überblick über die Arthrodesen am Fuß, die für die Orthopädieschuhtechnik relevant sind, um dann anhand von Fallbeispielen einzeln auf die unterschiedlichen Versorgungsmöglichkeiten einzugehen. Wichtig bei Arthrodesen sei die Unterscheidung zwischen der postoperativen und der definitiven Versorgung. Postoperativ müsse das Hilfsmittel entlasten, stützen und versteifen, bis der Knochen ausreichend durchbaut ist. Bei einer Endoprothese im Sprunggelenk komme es dagegen vor allem auf die achsengerechte Stellung des Fußes an, die der OSM mit seinen Hilfsmitteln sicher oder durch eine Korrektur erreichen muss. Entscheidend sei immer die individuelle Situation, die der OSM erfassen müsse, wozu zum Beispiel auch Röntgenbilder und Begleiterkrankungen gehören. In einem weiteren Vortrag gaben Prof. Stukenborg-Colsman und Dr. Christian Plaaß ungewohnte Einblicke in ihre Arbeit. Anhand von drei Fallbeispielen mit Fußinstabilitäten zeigten sie, warum die initiale Therapie trotz umfassender Diagnose am Fuß nicht wirksam war. In allen Fällen lieferte erst die Kenntnis über eine Rotationsfehlstellung im Unterschenkel den Schlüssel zur richtigen Therapie. Amputationen am Fuß sind nicht immer vermeidbar. Wenn es soweit ist, kommt es darauf an, die für die Indikation und den Patienten passende Amputationstechnik und anschließende Hilfsmittelversorgung zu wählen. Weil beides zusammengehhört, wurde der Vortrag über die Techniken und die Versorgung auch von einem Arzt, Prof. Hans-Henning Wetz, und einem Orthopädieschuhmacher, Michael Möller, gemeinsam gehalten. Den Bogen von der Theorie zur Praxis schlugen beide, indem sie Fallbeispiele mit ganz unterschiedlichen Indikationen für eine Amputation vorstellten.
 
Sensomotorik: Indikationen beachten
„Es gibt mehr Kontraindikationen als Indikationen!“ Mit dieser Aussage verblüfften Dr. Ulrich Hafkemeyer, Coesfeld, und OSM Michael Möller, Ottmarsbocholt, die Zuhörer, gelten beide doch als ausgewiesene Verfechter sensomotorischer Einlagenversorgungen. Das sind sie weiterhin, aber beide betonten, dass sensomotorische Einlagen die beste Wirkung haben, wenn die Indikation stimmt, handwerklich sauber gearbeitet wird und eine kompetente Abnahme durch den Arzt erfolgt. Indikationen sehen sie vor allem im Bereich der funktionellen Fehlstellungen, wie zum Beispiel dem kindlich-hypotonen Knick-Senkfuß. Der frühkindliche Knick-Senkfuß sei hingegen keine Indikation. Auch den leichten Spitzfuß beim Kind sehen sie als Indikation, nicht jedoch den sporadischen habituellen Spitzfuß. Als Kontraindikationen nannten sie unter anderem schwere USG- und OSG-Arthrosen, progrediente Muskeldystrophien, spinale Muskelatrophien, schwere trophische Veränderungen und Diabetes mellitus. Man müsse immer beachten, wozu ein Fuß noch fähig sei, betonte Ulrich Hafkemeyer. In einem zweiten Vortrag stellten beide eine Versorgungsmatrix für den Knick-Senkfuß und den Spitzfuß vor. Dafür entwickelten sie eine Klassifikation der Fehlstellungen, zu denen jeweils die Versorgungsziele formuliert und entsprechende Versorgungshinweise gegeben werden. Damit soll bei diesen Krankheitsbildern mehr  Klarheit in der Therapie geschaffen werden. OSM Jürgen Holterhus, Quakenbrück, berichtete bezüglich der Einlagenversorgung über ein Projekt, bei dem eine Gruppe von 120 Orthopädieschuhmachern ihre Versorgungen evaluiert. Ein Befundungstool strukturiert die Untersuchung und die Analyse und vor und nach der Versorgung werden Schmerzen und Zufriedenheit der Patienten abgefragt. 17000 Datensätze konnten so ausgewertet werden und die Ergebnisse zeigen, dass die Einlagenversorgung in den allermeisten Fällen einen deutlich positiven Effekt hat. Zudem liefern die Daten auch Hinweise über den Zusammenhang von Fußfehlstellungen und Beschwerden. Ausblicke für die Weiterentwicklung des Orthopädieschuhmacherhandwerks boten die beiden Vorträge von Prof. Klaus Peikenkamp, Münster, und Prof. Stefan Sesselmann, Weiden. Peikenkamp stellte die Studiengänge zur Technischen Orthopädie in Münster-Steinfurt vor, und Sesselmann führte in die Technik des 3D-Drucks ein, der seiner Ansicht nach auch für die Orthopädieschuhtechnik interessante neue Anwendungsmöglichkeiten bietet. Der diesjährige Kongress markierte das 25jährige Jubiläum dieser Veranstaltung. Grund genug in der Erne-Maier-Gedächtnis Vorlesung auf die Entwicklung der Orthopädieschuhtechnik zurückzublicken. Unter dem Titel „Von der Statik zur Dynamik“ zeichnete „Orthopädieschuhtechnik“-Chefredakteur Wolfgang Best die Entwicklung der Orthopädieschuhtechnik zu einem Handwerk nach, das heute sehr viel biomechanischer und funktioneller denkt und handelt als noch vor 25 Jahren. Mehr zu diesem Thema lesen Sie in der kommenden Ausgabe. Dort werden wir auch ausführlich über die Round-Table-Gespräch „Quo vadis Orthopädiesschuhtechnik“ mit Vertretern aus der Ärzteschaft, dem Handwerk und den Kostenträgern berichten.
 
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Foto: Andrey Popov/Adobe Stock
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