Der Spreizfuß
Der Spreizfuß ist eine der am häufigsten gestellten Diagnosen in der Orthopädie. Dennoch gibt es wie bei kaum einer anderen Diagnose so wenig wissenschaftlich Fassbares und selbst in Lehrbüchern finden sich sehr kontroverse Auffassungen über die Pathobiomechanik, Entstehung und Behandlung. Selbst in der sonst so differenzierten amerikanischen Literatur der Fußärzte (Podiater) findet sich mittlerweile kein Eintrag zum „Splayfoot“ mehr. Teilaspekte des Spreizfußes werden unter Senkfuß, Plattfuß, Hallux valgus und Schneiderballen abgehandelt.
Dennoch scheint es gerade an dieser Stelle Sinn zu machen, den Spreizfuß mit seinen Teilaspekten einmal von Grund auf aufzuarbeiten Einigkeit herrscht darüber, dass dem Spreizfuß ein Auseinanderweichen der Mittelfußknochen zu eigen ist. Es gibt aber keine Angaben über exakte Winkelgrade, die die Grenze zwischen Normalen und Krankhaftem beschreiben.
Die Fußquergewölbe
Wenn das Augenmerk auf den Spreizfuß gelenkt wird, muss auch das Thema des queren Fußgewölbes in Betracht gezogen werden. Zum Thema Fußquergewölbe besteht ebenfalls keine Einigkeit und einige Orthopäden stellen seine Existenz gar in Abrede. Dabei kann im Atlas der Praktischen Anatomie von Lanz und Wachsmuth, in der Funktionellen Anatomie der Gelenke von Kapandji und in Hohmanns Buch über Fuß und Bein darüber nachgelesen werden und selbst Morton hat schon im Jahr 1935 eine schöne Abhandlung darüber geschrieben. Letztendlich demonstrieren zahlreiche Schnittbildgebungen (Kernspin- oder Computertomographien) des Fußes die Existenz eines hinteren queren Fußgewölbes, welches durch die Keilbeine und das Würfelbein gebildet wird, und die eines vorderen queren Fußgewölbes, welches durch die Mittelfußknochen seine Gestalt annimmt. Einige Fußexperten halten diese Bezeichnung für nicht korrekt, da die Mittelfußknochen, von den Basen abgesehen, keinen unmittelbaren Kontakt im Bereich ihrer Schäfte und Köpfchen mehr aufweisen, sondern mit Bändern verspannt sind. So ist die Bezeichnung „vordere Querverspannung beziehungsweise Querwölbung des Fußes“ schärfer, da sich die einwirkenden Kräfte nicht wie bei dem statischen Konstrukt des Gewölbes auf die einzelnen Bestandteile umverteilen, sondern der Kraftschub von Bändern aufgefangen werden muss.
Selbstverständlich reichen beim gesunden Fuß alle Mittelfußköpfchen gleichermaßen auf das Fußsohlenpolster, sodass in diesem Areal kein relevanter querer Fußbogen mehr zu konstatieren ist. Da das plantare Fettpolster in der Fußmitte unter den Mittelfußköpfchen um wenige Millimeter dicker ist, könnte sogar auch dort ein queres Gewölbe propagiert werden.
Die natürliche Geometrie des Fußes
Wird das Fußskelett in der Röntgenstandaufnahme von oben betrachtet, ergibt sich ein natürliches Auseinanderweichen der Mittelfußknochen, welches seinen Ursprung in der Divergenz von Sprungbein und Fersenbein nehmen kann. Meistens bleibt der Winkel zwischen Sprung- und Fersenbein aber erhalten und der Fuß „fächert“ erst in der sogenannten Lisfrancschen Gelenklinie zwischen Mittelfußknochen und Fußwurzel auf. Dabei bilden der erste und fünfte Mittelfußknochen einen Winkel von über 30°.
Dabei zielt die Sprungbeinlängsachse normalerweise zwischen den ersten und zweiten Mittelfußknochen und die Fersenbeinlängsachse verläuft parallel mit der Längsachse des fünften Mittelfußknochens. In der seitlichen Röntgenstandaufnahme des gesunden Fußes setzt sich die Längsachse des Sprungbeins im ersten Mittelfußknochen fort. Auf Grund der Form des Fersenbeins, welches das Sprungbein trägt, wird so das innere Fußlängsgewölbe gebildet. Auf der Fußaußenseite fügen sich Fersenbein, Würfelbein und der fünfte Mittelfußknochen zu einem relativ niedrigen äußeren Fußlängsgewölbe. Rückfuß, Fußwurzel und Mittelfuß bilden also ein Fußskelett mit einem Längs- und Quergewölbe.
Diese Gewölbe werden sowohl durch passive als auch durch dynamische Strukturen gehalten. Passive Strukturen sind zum einen die Fußknochen mit ihren speziellen Formgebungen, die größtenteils keilförmig sind und dadurch die Gewölbe durch sich selbst stützen. Außerdem zählen zu den passiven Strukturen auch die sehr starken und straffen Ligamente, die Druckkräfte in Zugkräfte umwandeln. Insbesondere der Plantarfaszie kommt hier große Bedeutung sowohl für die Längs- als auch für die Querverspannung zu (siehe auch Orthopädieschuhtechnik 2/2016; 20-23).
Aktive Stabilisation des Quergewölbes und der Querwölbung des Fußes
Aktive Strukturen sind die extrinsischen Muskeln mit ihren Sehnen, die bei der Fortbewegung in den einzelnen Phasen des Gangzyklus im Wechsel die jeweils belasteten Strukturen stabilisieren.
Besondere Bedeutung kommt hier der Steigbügelfunktion von hinterem Schienbeinmuskel und langem Wadenbeinmuskel zu, welche von innen und außen unter dem ganzen hinteren Fußquergewölbe zur jeweiligen Gegenseite verlaufen und so eine dynamische Verspannung bilden. Beide Muskeln haben mit dem vorderen Schienbeinmuskel und dem kurzen Wadenbeinmuskel aber auch stabilisierende Funktion für die Längsverspannung des Fußskelettes.
Im intakten, balancierten Zustand des Fußes kann dieser die dynamischen Prozesse der Fortbewegung optimal umsetzen. Wie kann es da zur Strukturstörung des Spreizfußes kommen?
Ursachen der Spreizfußentwicklung
Sicher gibt es auch angeborene Spreizfüße mit anlagebedingten „Konstruktionsfehlern“ im Bauplan des Fußes, aber die Mehrzahl der Spreizfüße entwickelt sich mit fortschreitendem Alter.
Verkürzte Wadenmuskulatur
Eine schlüssige Betrachtungsweise für die Spreizfußentwicklung scheint in der verkürzten Wadenmuskulatur zu liegen. Wie schon in dem Artikel über den Plattfuß (Orthopädieschuhtechnik 5/2016; 40–46) beschrieben, neigt der Zwillingsmuskel der Wade als Muskel, der die Bewegungskette stabilisiert und hält, bei jedweder Störung (Instabilität, Verletzung, Entzündung, Deformierung usw.) stereotyp zur Verkürzung. Die larvierte Verkürzung der Wade bringt für das Fußskelett verschiedene Probleme mit sich. Da der Vorfuß im Gangzyklus nicht nach fußrückenwärts ausweichen kann, muss er in einem sehr frühen Stadium der Abrollphase des Gangzyklusses das ganze Körpergewicht übernehmen.
Was letztendlich die Folge dieses Problems ist, hängt von der individuellen Schwachstelle des Fußes ab.
Instabilitäten im Bereich der Chopartschen Gelenklinie und des Pfannenbandes können in einer Drehung nach außen zu einem abgeflachten Fußlängsgewölbe und einer Abweichung des Vorfußes nach außen führen. Bei einem sehr stabilen Fußskelett führt die Vorfußbelastung zu Schmerzen unter den Mittelfußköpfchen und dieses wiederum zum Anspringen der Zehenstrecker, die dem vorderen Schienbeinmuskel gegen die Wadenmuskulatur beispringen wollen. Das resultiert wiederum in einer Hammerzehendeformität mit Verlagerung des Fußsohlenpolsters nach vorne vor die Mittelfußköpfchen. Sowohl Übergewichtigkeit als auch eine anlagebedingte Bänderschwäche können diese Mechanismen noch verstärken.
Besondere Gelenkkonfiguration
In der Betrachtung der Stabilisatoren der Mittelfußknochen zur Fußwurzel fällt auf, dass der erste Mittelfußknochen bisweilen mit dem ersten Keilbein ein Gelenk bildet, welches uns an unsere urgeschichtlichen Vorfahren erinnert, die noch in der Lage waren, den ersten Mittelfußknochen abzuspreizen, um sich mit dem Fuß festzuhalten. Dieses sphärisch geformte Gelenk scheint zur Hallux-valgus- und Spreizfußbildung zu prädisponieren. Die Basen der zweiten bis vierten Mittelfußknochen weisen dagegen nahezu konstant eine sehr stabile Verbindung mit der Fußwurzel auf. Dies liegt zum einen an der knöchernen Verzahnung und der Gelenkorientierung, die nahezu rechtwinklig zur jeweiligen Mittelfußlängsachse ausgerichtet ist und somit wenig Raum für Seitabweichungen lässt. Zum anderen besteht eine sehr straffe Bandführung in diesem Bereich, die nur geringste Bewegungen erlaubt. Die Basis des fünften Mittelfußknochens kann bisweilen eine Gelenkkonfiguration mit dem Würfelbein eingehen, die analog zur Fußinnenseite eine elliptische Gelenkfläche aufweisen kann.
Bei vermehrter Vorfußbelastung kann nun der erste Mittelfußknochen nach innen und oben und der fünfte Mittelfußknochen nach außen und oben entweichen, während die drei mittleren Mittelfußknochen zunächst in der ursprünglichen Position verbleiben. Da der erste und fünfte Strahl nicht wie vorgesehen an der Kraftaufnahme beteiligt ist, erhöhen sich die Druckspitzen unter den Mittelfußköpfchen zwei bis vier. Die reflektorische Anspannung der Zehenstrecker führt durch die rückwärts gerichtete Kraft der Grundphalanx auf das Mittelfußköpfchen jedoch noch zu einer weiteren Druckerhöhung und verschlechtert die Abfederung in diesem Bereich noch, da das Fußsohlenposter unter den Mittelfußköpfchen nach vorne weggezogen wird und damit zur Abfederung nicht mehr zur Verfügung steht.
Teilkomponenten des Spreizfußes
Hallux valgus
Je länger diese Prozesse unbehandelt wirken, umso mehr entwickelt sich der Spreizfuß. Eine Teilkomponente ist der Hallux valgus, der durch die Verlagerung der Sehnen nach außen durch die Abweichung des ersten Mittelfußknochens nach innen entsteht. Je weiter der erste Mittelfußknochen sich nach innen verlagert, umso mehr spannt sich zweiköpfige Großzehenabspreizmuskel (M. abductor hallucis) und verursacht so zum Teil groteske Hallux-valgus-Abweichungen.
Schneiderballen
Die andere Teilkomponente ist der sogenannte Schneiderballen, bei dem das fünfte Mittelfußköpfchen an der Außenseite des Fußes durch seine Prominenz Druckprobleme entstehen lassen kann. Beide, Hallux valgus und Schneiderballen, können aber auch für sich, ohne den Spreizfuß, entstehen.
Klinisches und radiologisches Erscheinungsbild
Klinisch finden sich häufig übergewichtige Patienten mit einem abgeflachten Fußlängs- und -quergewölbe. Dabei ist das Fußquergewölbe häufig umgekehrt zur natürlichen Position nach fußsohlenwärts konvex. Bei manuell wieder hergestelltem Fußgewölbe in der Untersuchungssituation lässt sich regelmäßig eine erhebliche Verkürzung der Wadenmuskulatur feststellen. Schwielen und bisweilen auch Druckgeschwüre finden sich an der Innenseite des Großzehengrundgelenkes, an der Außenseite des Kleinzehengrundgelenkes und unterhalb der zweiten bis vierten Mittelfußköpfchen.
Bei der Röntgenbetrachtung zeigt sich in der Standaufnahme von oben eine Verbreiterung des Öffnungswinkels des ersten zum fünften Mittelfußknochen und häufig ein sphärisch geformtes erstes Mittelfußkeilbeingelenk. Außerdem können alle radiologischen Kriterien des Hallux valgus vorhanden sein. In der Seitaufnahme des Fußes im Stand wird regelmäßig eine Abflachung des Fußlängsgewölbes beobachtet, die im Sprungbein-Kahnbein-Gelenk, im Kahnbein-Keilbein-Gelenk, im Mittelfuß-Keilbein-Gelenk oder in allen drei Gelenken mehr oder weniger lokalisiert ist. Außerdem können Zehenfehlstellungen und Luxationen beobachtet werden.
Die Therapie des Spreizfußes
Die Behandlung des Spreizfußes ist zunächst konservativ. Die regelmäßig verkürzte Wadenmuskulatur, die zur Vorfußüberlastung führt, lässt sich, je jünger der Patient ist, umso besser krankengymnastisch behandeln. Ein Rezept über Dehnungsbehandlung der Wadenmuskulatur mit Triggerpunktbehandlung (siehe Janet Travell und David Simons, Handbuch der Muskel-Triggerpunkte, Urban Schwarzenberg Verlag), Antagonistentraining (vorderer Schienenbeinmuskel), Koordination, Kräftigung der Außen- und Innendreher des Fußes wird ebenso ausgestellt wie ein Rezept über ein Paar handwerklich nach Formabdruck gefertigte, langsohlige Sustentakulumstützeinlagen mit retrokapitaler Pelotte und rückverlagerter Abrollsohle.
Operative Verfahren werden bei der Spreizfußtherapie kontrovers gesehen. Bandplastiken und Sehnenumsetzungen oder –zügelungen haben selten dem Anspruch standgehalten. Dabei sollte an dieser Stelle Erwähnung finden, dass die problematische Verkürzung der Wadenmuskulatur nur unzureichend adressiert wird. Möglicherweise hat auch diese Tatsache manchen Behandler um seinen Erfolg gebracht.
Da die Behandlung der verkürzten Wadenmuskulatur an der Ursache des Problems ansetzt, richtet sich das operative Vorgehen bei erfolgloser konservativer Behandlung selbstverständlich an diese Struktur. Hier stehen verschiedene Verfahren zur Verfügung. Je nachdem, ob nur der Zwillingsmuskel der Wade betroffen ist, kann die Operation nach Strayer mit der queren Durchtrennung der Aponeurose des Zwillingsmuskel der Wade erfolgreich sein oder bei Verkürzung aller dreier Wadenmuskeln die z-förmige Verlängerung oder die nach Hoke, die perkutan durchgeführt wird.
Bei den knöchernen Stabilisationen hat sich die Versteifung des ersten Mittelfußkeilbeingelenkes in der Technik nach Lapidus bewährt und stellt heute ein Standardverfahren dar. Die meisten medizinischen Intrumentenhersteller bieten heute die unterschiedlichsten Platten und Schrauben für speziell diese Operation an. Die Versteifung des fünften Mittelfußwürfelbeingelenkes wird bisher nur selten angewendet. Sie kann aber, wie im Beispiel gezeigt, bei strenger Indikationsstellung durchaus hilfreich sein.
Die Versetzung der Mittelfußköpfchen nach kopfwärts in der Technik nach Weil wird gerne und häufig durchgeführt, setzt aber am falschen Ende der Pathologie an und dürfte kaum zu langfristigem Erfolg führen, wenn der Eingriff als Monotherapie eingesetzt wird.
Zusammenfassung
Der Spreizfuß stellt eine dreidimensionale Strukturstörung des Fußes dar, die geprägt ist von einem Auseinanderweichen der Mittelfußknochen und einem Höhertreten der Köpfchen des ersten und fünften Mittelfußknochens. Neben einer seltenen, angeborenen Ursache kommen vor allem Übergewicht, eine verkürzte Wadenmuskulatur sowie Bandinstabilitäten bei der Entstehung des Spreizfußes in Betracht.
Durch die Verbreiterung des Vorfußes kommt es zu vermehrter Druckbelastung im Bereich des inneren Großzehengrundgelenkes und des äußeren Kleinzehengrundgelenkes. Durch die Druckumverteilung zu Lasten der zweiten, dritten und vierten Mittelfußköpfchen entstehen dort schmerzhafte Schwielen, die im Falle der Hammerzehenentwicklung durch die damit verknüpfte Verlagerung des Fußsohlenpolsters vor die Mittelfußköpfchen noch verschärft werden können.
Die Behandlung ist primär konservativ mit Krankengymnastik, Einlagenversorgung und Schuhzurichtung. Nur bei Therapieresistenz kommen operative Verfahren zur Anwendung.
Anschrift des Verfassers
Dr. Ludwig Schwering, Ärztlicher Leiter der Technischen Orthopädie
Mathias-Spital Rheine, Frankenburgstr. 31, 48431 Rheine
Ausgabe 03 / 2017