Der Zyklus Belastung und Adaptation als Grundlage für Leistungsfähigkeit und Gesundheit
WOLFGANG LAUBE | MICHAEL KAUNE | GREGOR PFAFF
Der Zyklus Belastung und Adaptation prägt alle Lebensabschnitte. Er ist die Grundvoraussetzung für die physische und psychische Leistungsfähigkeit und Gesundheit. Die gute Nachricht dabei ist: Wer seinen Körper in sinnvollem Maß belastet – nicht überlastet – kann vielen Beschwerden und Krankheiten entgegenwirken und die Gesundheit aktiv stärken.
Im Kindes- und Jugendalter ist der Zyklus Belastung und Adaptation (Laube 2009d) essentiell, um die genetischen Potenzen der körperlichen und psychischen Funktions- und Leistungsmöglichkeiten nutzbar zu machen. Ungenügende altersadäquate Belastungen legen frühzeitig die Grundlagen für chronische Krankheitsentwicklungen. Im frühen und mittleren Erwachsenenalter sollte die Belastung die Funktions- und Leistungsfähigkeit erhalten und einen vorzeitigen Abbau verhindern. Bereits in diesem Lebensabschnitt ist dieser Zyklus ein Hauptelement zur Beeinflussung des Alterungsprozesses. {pborder}
Des Weiteren ist die physische Belastung und damit der Zyklus Belastung – Adaptation ein wichtiges Instrument, um chronische Schmerzsyndrome zu verhindern oder zu lindern. Untersuchungen der zerebralen Durchblutung (Peyron et al. 1999) zeigen eine sehr enge Verknüpfung der Hirnstrukturen der Sensomotorik mit denen für die Verarbeitung von Schmerzinformationen.
Viele Hirnstrukturen verantworten sogar zugleich Sensomotorik und Schmerz. Es besteht eine intensive positive, aber auch negative Interaktion zwischen Bewegung und Schmerz. Systematische Bewegung fördert die Organisation und Kapazität der Schmerzhemmung und ungenügend Bewegung fördert Störungen und Dysbalance der zugrunde liegenden cerebralen Mechanismen.
Belastungsarmer Lebensstil: Disposition für Erkrankungen
In der sogenannten modernen Welt fordert das tägliche Leben immer weniger physische Aktivitäten (Belastungen). Die chronischen physischen Unterforderungen bedeuten ungenügende Strukturreize für den gesamten Organismus. Die sensomotorische Lernfähigkeit und das Bewegungskönnen vermindern sich, Kraft und Ausdauer sind defizitär. Letztere bestimmt aber die Erholungs-, Regenerations- und Adaptationsfähigkeit. Das Ergebnis ist ein chronischer Dekonditionierungszustand mit verminderter Leistungsfähigkeit, Belastbarkeit und Belastungsverträglichkeit. Alltagsbelastungen erreichen die Belastbarkeitsgrenzen.
Die physische Inaktivität verantwortet die Stoffwechselerkrankungen Adipositas, metabolisches Syndrom und Diabetes mellitus Typ II und ebenso die Erkrankungen des Herz-Kreislauf-Systems Hypertonie und Arteriosklerose, neurodegenerative und einige onkologische Erkrankungen (diseasome of physical inactivity; Pedersen 2009). Auf der gleichen Grundlage bilden sich die degenerativen Wirbelsäulen- und Gelenkerkrankungen (Frank 2003).
Allen diesen Erkrankungen liegt die Insuffizienz der Muskulatur als endokrines Organ zugrunde. Die Muskelinaktivität verschiebt die Bilanz zugunsten der Signalstoffe des viszeralen Fetts. Es entsteht eine persistierende chronische, systemische, geringgrade und nicht schmerzende Entzündung. Sie verantwortet die „diseasome of physical inactivity“, die häufig auch mit chronischen Schmerzsyndromen verknüpft ist.
Zugleich verändern die deadaptativen und degenerativen Strukturveränderungen in der Muskulatur und den Bindegewebsstrukturen diesen Sensorstandort und somit deutlich nachteilig dessen „informatorische Funktion“ für das ZNS.
Im Gesamtergebnis entsteht mit hohem Zeitfaktor eine „atrophisch-degenerativ-entzündliche-nozizeptive-involutive (proaging)“ Körperstruktur. „Nozizeptiv“ bedeutet, dass die dekonditionierungsbedingt defizitäre Mikrozirkulation und damit eine chronische relative Ischämie (geminderte bis ungenügende O2- und Substratversorgung) in den myofaszialen Strukturen ein biochemisches Milieu bedingt, welches Schmerzafferenzen begünstigt und auch vermehrt. Zugleich zeigen sich die Mechanismen der Schmerzhemmung, vertreten durch die cerebrale Schmerzmatrix, weniger effektiv und gestört.
Das sich ergebende nozizeptive Afferenzmuster ist chronischer Stress für die Neuronennetzwerke. Daraufhin unterliegen sie neurodegenerativen Veränderungen und es entsteht auch eine „nozizeptive“ ZNS-Struktur. Das ZNS generiert einerseits zunächst auf Afferenzen der Nozizeptoren eine intensivere Schmerzempfindung (Hyperalgesie) oder ehemals nicht schmerzauslösende mechanische Afferenzen werden fortschreitend mehr und intensiver nun auch als Schmerz empfunden (Allodynie).
Anderseits sind die bereits angesprochenen Schmerzhemmmechanismen dysbalanciert und weniger effektiv, was Schmerzen bei ansonsten schmerzfreien Bewegungen zur Folge hat. Eine „eigenständige“ Schmerzkrankheit ist entstanden.
Komplexer Zyklus
Der Zyklus „Belastung-Beanspruchung-Ermüdung-Erholung-Adaptation“ (Abb. 1) steht für eine belastungsabhängige und belastungsspezifische biologische Wirkungskette. Diese Wirkungskette funktioniert bei systematischer physischer Aktivität in Richtung des Strukturaufbaus (positive anabole Richtung), bei chronischer Inaktivität in Richtung des Strukturabbaus (negative katabole Richtung; vgl. Abb. 2).
Im Rahmen dieses Zyklus reagieren alle Strukturen des sensomotorischen Systems (Laube 2009a), der Logistik- und der generalisierten und lokalen anabolen Regulationssysteme spezifisch und mit differentem Zeitbedarf und Ausmaß auf die systematisch abverlangte Funktion. Das Bewegungskönnen generiert eine bewegungsspezifische Funktion des Nervensystems, die Ausdauer sorgt für eine gute Funktion der aeroben Energieproduktion und die Kraft sichert die Fähigkeit zur intensiven Muskelaktivierung und garantiert eine ausreichende kraftgenerierende Kapazität der Muskulatur.
Darüber hinaus verantworten Ausdauer und Kraft gemeinsam die erforderlichen Aktivitäten der lokalen und globalen anabolen Hormonregulationen. Die anabolen Hormone setzen die körperliche Anstrengung in den Strukturaufbau und damit Funktionsvorteil um. Aber auch der Abbau bei Inaktivität ist hormonvermittelt. Die Muskulatur produziert mit ihrer Aktivität eben auch antientzündliche Substanzen.
Belastung: Voraussetzung für Strukturentwicklung und -erhaltung
Die Belastung kennzeichnet alle physischen und psychischen Anforderungen an den Organismus, zu deren Bewältigung er eine biologische Antwort finden muss. Sie umfasst die Lebensbedingungen, wie zum Beispiel Klima und Lärm, die psychischen Anforderungen, wie zum Beispiel Lernen und Zeitdruck, und alle physisch konditionellen Anforderungen durch den Lebensprozess in Art (welche Bewegungen), Intensität (Anstrengungsgrad) und Umfang (Dauer oder Wiederholungsanzahl) der Bewegungen.
Beanspruchung: Biologische Funktion zur Bewältigung der Belastung
Die Beanspruchung ist der biologische beziehungsweise psychophysische Aufwand beziehungsweise das biologische Äquivalent, mit dem der Organismus die Belastung realisiert. Sie kennzeichnet den Aktivitätsmodus Lernen, Ausdauer und Kraft und den Anstrengungsgrad. Die Anstrengung ergibt sich aus dem Funktionsaufwand der Organsysteme in Relation zur jeweils maximalen Funktionsamplitude.
Somit kann sie anhand der subjektiven Anstrengungsempfindung und objektiver Beanspruchungsbeziehungsweise Funktionsparameter erkannt werden. Die gebräuchlichsten sind die Herzschlagfrequenz, die Laktatkonzentration, das Elektromyogramm, die Kraft selbst und weitere Funktionsmerkmale (vgl. Laube 2009c).
Die Beanspruchung ist von den aktuellen strukturellen und damit funktionellen Eigenschaften des Organismus, also vom Trainings- oder Dekonditionierungszustand, abhängig. Dieser ergibt sich aus den physiologisch-konditionellen, kognitiven und psychischen Eigenschaften, welche den Gesundheits-, Entwicklungs-, Adaptations- und Alterungszustand prägen.
Der überproportionale Bewegungsdrang des Kindes sorgt für die biologisch erforderliche Beanspruchung zur physischen und psychischmentalen Entwicklung. Gegeben durch die damit generierte ZNS-Aktivität (vgl. Laube 2009b) erfolgt dessen Entwicklung. Bewegung ist immer auch Kognition. Bis zur Pubertät und relativ wenig Zeit darüber hinaus steht das sensomotorische Lernen im Vordergrund. Das bedeutet Entwicklung des Gehirns. Die „übergroße“ ZNS-Plastizität in diesem Lebensabschnitt fördert die positive Wechselwirkung zwischen biologischer Entwicklung, Lernen und mentaler und physischer Leistungsverbesserung.
So essentiell die Beanspruchung für die Entwicklung in der frühen Lebensspanne ist, so essentiell ist sie im mittleren Lebensabschnitt für die Erhaltung von Können und Kondition, und im letzten Drittel, um die physiologischen Folgen des Alterungsprozesses so zu beeinflussen, dass die Gebrechlichkeit möglichst weit an die Lebensgrenze hinausgeschoben wird. Über den gesamten Lebenszyklus steht die Beanspruchung für den Schutz vor chronisch degenerativen Erkrankungen (vgl. diseasome of physical inactivity).
Die mit der Beanspruchung verbundenen Aktivitäten der anabolen Systeme üben eine nicht ersetzbare Schlüsselfunktion aus. Sie vermitteln die strukturellen Anpassungen in allen Gewebetypen. Sie regeln zum Beispiel im ZNS die Vernetzung und Nervenzellneubildung, im Muskel die Hypertrophie, die „Produktionskapazität“ des Energiestoffwechsels, und Muskel und Knochen sowie Muskel und Gehirn kommunizieren miteinander.
Herausragend ist die Funktion der Achse Hypothalamus – Hypophyse – periphere Hormondrüsen beziehungsweise Leber als Hormonproduzent. Der Hypothalamus unterhält enge informatorische Verbindungen zur Tiefen- und Oberflächensensibilität und zur Schmerz- und Temperatursensorik sowie zum limbischen System, verantwortlich für Motivation, Emotionen und Verhalten.
Kraft- und Ausdauerbelastungen führen zum intensitätsabhängigen Anstieg der Ausschüttung von Wachstumshormon (GH), worauf die Leber die anabol wirksame Substanz insulinähnlicher Wachstumsfaktor (IGF-1) produziert. Ebenso wird die Testosteronproduktion der peripheren Hormondrüsen stimuliert. Des Weiteren produzieren leider „nur die tätigen“ Muskelfasern (Myokine), aber auch die Zellen des Bindegewebes und des Knochens, „eigene“ anabol wirksame Substanzen. Diese Substanzen aktivieren dann Signalwege zur Aktivierung oder Hemmung von Genen mit konkreter Strukturverantwortung. Art, Intensität und Umfang der Belastung bestimmen das Muster der Hormonantworten und somit das Muster der strukturellen und funktionellen Antworten (Hameed et al. 2003).
Die IGF-I-Konzentration steht mit dem Alter, der Adipositas und der aeroben Kapazität in enger Wechselbeziehung. Das Alter und die Adipositas haben einen supressiven Effekt, wobei die Adipositas diese Wirkung auch allein hervorruft. Im Altersgang ist die abfallende IGF-I-Konzentration eng mit der aeroben Kapazität verknüpft (Poehlman und Copeland 1990). Die aerobe Kapazität (die Kapazität, „biologisches Geld“ zur Verfügung zu stellen) ist das Ergebnis des klassischen Ausdauertrainings nach der Dauer- oder auch Intervallmethode.
Aber auch hoch intensives Intervalltraining (HIIT) steigert die aerobe Kapazität. Die Ausdauer steht für die entsprechende Leistungsfähigkeit, aber aus gesundheitlicher Sicht steht sie viel wichtiger für die Potenzen und Kapazitäten der restitutiven, reparativen und adaptiven Prozesse. Ausdauer ist Erholungs- und Kompensationsfähigkeit. In diesem Sinn ist Training eben auch gleich Training der Trainierbarkeit.
Ermüdung: Biologisches Ergebnis der Beanspruchung
Die Ermüdung ist das Ergebnis der Beanspruchung. Sie ist am Leistungs- und/oder Qualitätsverlust der Bewegungshandlungen zu erkennen. Sie ist ein reversibler Funktionsverlust der peripheren und zentralen Strukturen des sensomotorischen Systems, der Logistik- und der Regulationssysteme.
Ermüdung ist die zwingende Voraussetzung für die Auslösung struktureller und funktioneller Adaptationen, weshalb die Trainingsmethodik den Grundsatz der Mindestbelastung kennt. Mindestbeanspruchung steht für die ausreichend hohe beanspruchungsspezifische Aktivierung der essentiell für alle Adaptationen verantwortlichen anabolen hormonellen Systeme.
Erholung: Phase der Restitution, Reparation und Adaptation
Die Erholung ist der Zeitraum, in dem die spezifischen Ermüdungsmuster unter Vermittlung der anabolen Substanzen in Struktur umgewandelt werden. Zunächst gleichen die regenerativen und reparativen Prozesse den reversiblen Funktionsverlust aus. Die energetischen Ressourcen werden aufgefüllt und mittels zelleigener physiologischer Reparaturmechanismen die „physiologischen strukturellen Schädigungen“ repariert (siehe u. a. Muskelkater).
Diese Vorgänge gehen fließend und überlappend in die anabolen Strukturverbesserungen über. Dadurch werden die biologischen Voraussetzungen geschaffen, dass eine gleichartige Belastung unter gleichen Bedingungen zu einer verminderten Beanspruchung führt. Deshalb kennt die Trainingsmethodik den Grundsatz des Bedarfs steigender Belastungen mit fortschreitend verbessertem Trainingszustand.
Die IGF-1-Familie ist essentiell für das Muskelwachstum (Goldspink 2003) mit verantwortlich. Dessen Aktivierung ist im Muskel bereits nach einer Belastungseinheit nachweisbar. Des Weiteren induzieren die Mitglieder der IGF-Familie die Kollagensynthese in den Bindegewebsstrukturen und bestimmen dessen Adaptation (Heinemeier et al. 2007) für eine adäquate mechanische Belastbarkeit.
Die IGF-Familie ist aber nicht nur im Bereich der Muskulatur aktiv. IGF-I gelangt problemlos in das Gehirn (Bondy und Lee 1993) und fungiert als neuronaler Überlebensfaktor (Torres-Aleman 2000). Es ist essentiell an der belastungsbedingten Neubildung von Neuronen (Trejo et al. 2001, van Praag et al. 1999a) beteiligt und ist somit ein Faktor der Gedächtnisleistung (Radaka et al. 2001).
Gleichfalls werden die hochwichtige Gefäßneubildung im Gehirn wie auch in der Muskulatur generiert sowie das O2-Management der Neuronen und deren lebenswichtiger Glucosemetabolismus gesichert.
Belastung ist essentiell für die Gesundheit
Da ausschließlich Belastung und somit Beanspruchung Körperstrukturen und Funktionen entwickeln, sichern oder verbessern, sollten sie ein prägendes Merkmal des gesamten Lebensprozesses sein. Werden die Beanspruchungen durch systematische physische Belastungen jeweils dem aktuellen Zustand angepasst (keine chronischen Überbelastungen), sorgen die resultierenden peripheren und zentralen Anpassungen für eine „somatischeeutrophe/hypertrophe-antientzündliche-antinozizeptive-antiinvolutive (anti-aging)“ Körperstruktur. Die aerob und kontraktil gut ausgestattete Muskulatur nimmt in diesem Prozess eine Schlüsselstellung ein.
Nur eine systematische Muskelaktivität als Ergebnis der sensomotorischen Funktionen Bewegungskönnen, Ausdauer und Kraft vermag eine chronisch inaktivitätsbedingte „atrophische-degenerative-entzündliche-nozizeptive-involutive“ Körperstruktur wieder in die gesunde Richtung zu beeinflussen. Die Muskelaktivität ist als Regulator des gesundheitlichen Status des Organismus der einzige Schlüssel dazu.
Es gibt eine gesetzmäßige Wechselbeziehung zwischen Belastung, Beanspruchung, Adaptation und Leistung. Das Training, eine systematische körperliche Aktivität, ist die einzige Methode, um diese Komponenten miteinander gezielt und gesundheitlich vorteilhaft zu verknüpfen.
Anschrift für die Verfasser:
PD Dr. med. sc. (habil) Wolfgang Laube
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