Wenn der Fuß den Kopf in Bewegung bringt
Hintergrund für die Entwicklung des Messgerätes war auch, endlich etwas Handfestes zu haben, was einem bei Versorgungen am Patienten Sicherheit gibt. Von Michael Weiß
In den vergangenen Jahren haben sich Ansätze in der Einlagenversorgung entwickelt, die über das bislang übliche Betten, Stützen und Entlasten hinausgehen. Diese „ganzheitlichen“ Betrachtungsweisen gehen davon aus, dass Veränderungen unter dem Fuß den Haltungsapparat und die Bewegungsabläufe aktiv beeinflussen können und so nicht nur auf die Fußstellung, sondern auf den ganzen Körper wirken.
Inzwischen gibt es viele positive Erfahrungen in der Praxis mit diesen Einlagen. Sowohl von wissenschaftlicher Seite als auch von Krankenkassenseite wird allerdings bemängelt, dass der Nachweis für den Nutzen dieser Einlagen noch nicht erbracht ist.
Wie alle therapeutischen Ansätze, die mit dem Patienten arbeiten und nicht ein Medikament verabreichen, tun sich sensomotorische, neurologische oder podo-ätiologische/-orthesiologische Einlagenversorgungen schwer damit, ihre Wirkung nach den derzeit geltenden wissenschaftlichen Kriterien nachzuweisen. Dies gilt im Übrigen auch für die klassischen Einlagen. Hier liegen auch nur für einige Indikationen ausreichend wissenschaftliche Nachweise vor.
Kopf und Fuß sind miteinander verbunden
Auch wenn der umfassende wissenschaftliche Nachweis noch fehlt, gibt es doch in der Medizin und Biomechanik inzwischen viele Arbeiten und Erkenntnisse, die Erklärungen zu den neuen Versorgungsansätzen bieten. Als erstes seien hier die Arbeiten zu den myofaszialen Ketten von Thomas Myers genannt, der die Funktion dieser Leitbahnen, die im Körper praktisch alles mit allem verbinden, beschrieben hat. Für die Wirkungsweise einiger der wichtigsten Leitbahnen für Bewegung und Haltung des Körpers liegen inzwischen auch wissenschaftliche Nachweise vor (Wilke, 2015).
Die Studien von Kirsten Götz-Neuman (Götz-Neumann, Gehen verstehen, 2006) haben gezeigt, dass der „Initial Contact“ der beim Aufsetzen des Fußes quasi als Initialzündung für die Muskulatur funktioniert, nicht mit zu weichen Materialien weggepolstert werden darf, da sonst das Zusammenspiel der Muskulatur zur Schrittabwicklung gestört wird. Ähnliches gilt auch für zu hohe Längs-, und Quergewölbestützen, da sie möglicherweise eher eine blockierende Wirkung haben.
In diesem Zusammenhang müssen auch die Arbeiten von René Jacques Bourdiol, Dr. Bernard Bricot, Karel Breukhoven, Lydia Aich, Wolfgang Schallmey & Ina ter Hamsel erwähnt werden. Sie alle haben sich intensiv mit der Wirkung von Einlagen auf die Körperstatik auseinandergesetzt und Konzepte für Versorgungen entwickelt, die den gesamten Körper mit einbeziehen.
Einen wissenschaftlichen Nachweis für den genauen Wirkmechanismus sensomotorischer oder neurologischer Einlagen kann auch dieser Beitrag nicht leisten. Es soll jedoch eine Methode vorgestellt werden, mit der einfach und schnell überprüft werden kann, ob Einlagen tatsächlich eine Wirkung vom Fuß bis zum Kopf haben.
Aufsteigende und absteigende Ursachen
Auch wenn wir Orthopädieschuhmacher am Fuß arbeiten, müssen wir uns bewusst sein, dass wir nicht alle Probleme und Schmerzen am Fuß, auch vom Fuß her therapieren können!
Kommt zum Beispiel ein Patient mit „Kreuzschmerzen“ zum Arzt, wird dieser ihn untersuchen und dabei vielleicht einen Beckenschiefstand finden. Hier stellt sich dann die Frage, ob dieser von einer anatomischen Beinlängendifferenz herrührt oder durch Dysbalancen, eingeschränkte Beweglichkeit in Gelenken oder durch Fehlstellungen und Blockaden im Halswirbel- oder Kieferbereich verursacht wird.
Bei einer anatomischen Beinlängendifferenz – einer aufsteigenden Ursache – ist der Längenausgleich durch Schuh oder Einlage möglicherweise die richtige Therapie. Steht das Becken jedoch bei anatomisch gleich langen Beinen schief, liegt die Ursache woanders. Einschränkungen und Fehlstellungen am Kiefer oder der Halswirbelsäule, ebenso viszerale Probleme, sogenannte absteigende Ursachen, können dafür verantwortlich sein, dass die Stellung der Hüfte verändert wird und die Beinachsen und damit auch die Füße aus dem Lot geraten. Dann wird das eigentliche Problem mit einem „Längenausgleich“ nicht adressiert.
Trotz dieser Störungen in der Statik versucht unser Körper weiterhin funktionstüchtig zu sein. Doch die Wirbelsäule reagiert mit einer Skoliose auf den vermeintlichen Längenausgleich, was wiederum häufig weitere Beschwerden provoziert. Diese Beschwerden können sich an sehr unterschiedlichen Stellen äußern, zum Beispiel an der Wirbelsäule selbst, an Hüfte, Knie, Sprunggelenk oder Fuß. Ebenso wird es eine Wirkung nach „oben“ geben, da Hüfte und Kiefer quasi eine Mobilitätseinheit bilden (Kathrin Riedlinger, 2008, LMU-München).
Dies entspricht auch meiner Erfahrung in der Praxis. Viele Patienten, die mit Fuß-, Bein- und Hüftschmerzen kommen, haben dort keine direkten Verletzungen oder Schäden. Wenn man sich nicht direkt den Fuß verletzt oder falsche Schuhe trägt, so dass die Schmerzen direkt zuzuordnen sind, sollte man immer in Betracht ziehen, dass die Ursache weiter oben in einer anderen Körperregion liegen könnte.
Die Kopfrotation als Maß für Veränderungen
Bei der Versorgung mit sensomotorischen Einlagen, die den Anspruch haben, auf die Körperhaltung zu wirken, stellt sich die Frage, ob und wie sich deren Wirkung messtechnisch nachweisen lässt. Meist kommt hierzu ein Rückenscanner zum Einsatz, der Veränderungen in der Körperhaltung anhand bestimmter Referenzpunkte am Becken, der Schulter und der Wirbelsäule erfasst.
Hier soll eine neue Methode vorgestellt werden, welche die Beweglichkeit der oberen Halswirbelsäule als Maß für den positiven oder negativen Effekt einer Einlagenversorgung heranzieht. Dabei wird die Kopfrotation, also die Fähigkeit, den Kopf nach links und rechts zu drehen, mit Hilfe eines Goniometers und eines Lasers gemessen.
Man setzt voraus, dass sich ein gesunder und schmerzfreier Körper uneingeschränkt bewegen kann, sprich die Kopfrotation in beide Richtungen nicht eingeschränkt ist.
Für die Bewertung der Kopfrotation gehen wir von folgenden Annahmen aus:
1. Handicaps, Blockaden und Schmerzen, egal auf welcher Körperebene, schränken die normale Bewegung ein und haben auch Auswirkungen auf die Kopfrotation.
2. Schuhe, Schuhzurichtungen und/oder Einlagen, gleich welcher Art, wirken – positiv oder negativ – über die Bewegungs- und Haltesysteme (Skelett, Gelenke, Muskeln, myofasziale Ketten, sensomotorisches System) unseres Körpers bis zum Kopf.
3. Wenn Manipulationen an oder unter den Füßen stattfinden, so kann man Veränderungen der Statik dann nachweisen, wenn sie über dem obersten Gelenk (Atlas-Schädelbasis) messbar sind.
Für den Zusammenhang zwischen Kopfrotation und Körperhaltung bzw. Einschränkungen im Bewegungsapparat beziehe ich mich auf Erkenntnisse aus der Manualmedizin und Physiotherapie.
So schreibt Lydia Aich: Gesteuert über die visuelle Kontrolle und das Gleichgewichtssystem beginnt jeder Schritt im Becken und breitet sich von hier sowohl in kaudaler als auch in kranialer Richtung zu den Extremitäten hin aus. Durch die Rumpfrotation beim Gehen und der Pendelbewegung der Arme wird es bei jedem Schritt auch zu einer Rotation in der Halswirbelsäule kommen. Die Kopfgelenke (C0/C1/C2) spielen hier eine besondere Rolle. Um einen guten Blickwinkel zu haben, sollte die Beweglichkeit der Halswirbel so groß wie möglich sein. Ihre Funktion wird unter anderem funktionell maßgeblich durch die Augenmuskulatur und die Funktionseinflüsse der Bisssituation auf die Kiefergelenke angesteuert. Die Mobilität der Hüftgelenke steht in Zusammenhang mit der Mobilität von C0/C1/C2 und umgekehrt (Vojta, Biedermann [KISS]).
Über den Priener Abduktionstest nach Marx lässt sich der Zusammenhang zwischen der Beweglichkeit von Hüfte und Kopfgelenken (C0/C1/C2) sehr gut nachweisen. Hierzu fixiert der Untersucher mit einer Hand einseitig das Becken des Patienten durch Druck auf die Spina iliaca anterior superior und beugt das kontralaterale Knie im Hüftgelenk auf 90 Grad und lässt es passiv endgradig in die Abduktion absinken. Bewertet wird das Ausmaß der Abduktion und das Bewegungs- und Endgefühl im Seitenvergleich (Schupp, 2013). Da er allerdings im Liegen ausgeführt wird, eignet er sich somit nicht, um Auswirkungen von pedalen Veränderungen im geschlossenen Kettensystem sichtbar zu machen.
Der Visus (die Sehschärfe) und die Kiefergelenkslage aber auch pathologische Veränderungen in oder an der Wirbelsäule, den Extremitäten oder im viszeralen System können immense Auswirkungen auf die gesamte Körperstatik haben.
Die Kontrolle der Funktion der Kopfgelenke ist hier ein wichtiger Parameter, um Einflüsse jedweder Art auf das Körpersystem überprüfen zu können – auch wenn über diesen Parameter nicht auf einzelne Ursachen geschlossen werden kann.
Messung mit Goniometer und Laser
Die Kopfbeweglichkeit lässt sich exakt mit einem von mir entwickelten Messgerät bestimmen. Die Messeinheit besteht aus einem digitalen Winkelmesser (Goniometer), einem grünen Linienlaser, einem Trägergestell für den Kopf und einem USB-Kabel, das mit dem Programm auf dem Rechner verbunden wird.
Bei einer Versorgung gehe ich, nach der Anfertigung der dynamischen Fußabdrücke, wie folgt vor:
1. Der Patient steht barfuß auf einer glatten, geraden Fläche.
2. Nun wird erfasst wie Kopf, Hals, Schultern, Wirbelsäule, Becken und die Beine mit den Füßen, stehen. Einfach mit zum Beispiel: Skizze (Abb. 2), oder aufwändiger mit Scanner, o. ä. In der Skizze kann man mit Farbe die Stellungen eintragen. Mit p (posterior) und a (anterior) lassen sich die einzelnen Körperpartien präzisieren. Hilfreich auch bei späteren Kontrollen.
3. Zunächst wird die Kopfrotation in Barfuß-Stellung gemessen. Dies ist die Basismessung, welche die Referenz für die nachfolgenden Messungen bildet. Dazu hat der Patient ein im 3D-Druck-Verfahren produziertes Gestell mit Goniometer und Laser auf dem Kopf. Der Laser ist wichtig, da er dazu dient, die Messungen auf einen externen Punkt zu kalibrieren, um die verschiedenen Messungen überhaupt miteinander vergleichen zu können. Für die Messung wird der Patient gebeten, seinen Kopf soweit wie möglich nach links und nach rechts zu drehen. Dabei legt der Untersucher die Hände auf die Schultern, damit die Schultern nicht mitdrehen. Der Goniometer auf dem Kopf erfasst die Bewegung und überträgt die Daten an den Computer. Das Programm schließt die Messung selbstständig ab.
4. Nun wird diese Vorgehensweise mit der Versorgung wiederholt. Dabei ist es egal, ob ein Schuh ausgetestet wird, ein Verkürzungsausgleich, oder eine Einlage. Erstes Augenmerk gilt dabei immer der Hüft-Stellung. Diese soll sich physiologisch besser, möglichst waagrecht (SIPS/SIAS) ausrichten. Natürlich kann man auch testen, wie sich Veränderungen am Kiefergelenk durch zahntechnische Maßnahmen, oder durch eine Brille auf die Kopfrotation auswirken. Erhöht sich die Beweglichkeit und der Kopf kann weiter gedreht werden, gehen wir von einem positiven Effekt der Versorgung aus. Wird die Beweglichkeit eingeschränkt, müssen wir die Versorgung verändern und/oder nach anderen Ursachen suchen, die therapiert werden müssen. Die Messergebnisse werden graphisch auf einer mit Winkelgraden eingeteilten Scheibe dargestellt. So können Veränderungen direkt und schnell beurteilt werden.
5. Über die Software ist es auf einfache Weise möglich, eine Tabelle der gemessenen Werte zu erstellen (CSV). Die graphische Darstellung der Messwerte kann via Screenshot, auch als Dokumentation ausgedruckt und gleich an den Patienten weitergegeben werden. Mit den Messungen lässt sich anschaulich zeigen, ob das Hilfsmittel einen Effekt hat oder nicht.
Das Messgerät zeigt so, welchen Einfluss die Einlage tatsächlich auf C0/C1 und damit die Körperstatik hat. Die Messung sagt nichts darüber aus, wie die Wirkung vom Fuß zum Kopf weitergeleitet wird und auch nicht, was man bei ausbleibender Wirkung tun muss. Anamnese, funktionelle Untersuchung und Einlagenherstellung werden wie bisher durchgeführt. Wenn sich die Kopfrotation verschlechtert oder gar kein Effekt erkennbar ist, kann dies an der Versorgung liegen. Es kann aber auch sein, dass es sich um absteigende Ursachen handelt und das Problem gar nicht vom Fuß her therapiert werden kann. Hier ist dann das Fachwissen gefragt, um die möglichen Ursachen zu identifizieren.
Auch über längere Zeit lässt sich mit der Messeinheit der Versorgungsverlauf und die Wirksamkeit einer Einlagenversorgung darstellen und dokumentieren.
Praxis und Wissenschaft
In meinem Betrieb setze ich das Messsystem in dieser Form seit Februar 2016 zur Erstellung und Kontrolle meiner Einlagenversorgungen mit sehr gutem Erfolg ein. Auch einige Kollegen (D/A/CH) arbeiten schon damit.
Ob sich diese Technik als Methode für die Überprüfung der Wirkung von Einlagen und Versorgungen durchsetzt, bleibt abzuwarten. Es wäre auf jeden Fall wünschenswert, wenn diese einfache und schnelle Methode auch wissenschaftlich validiert wird. Aktuell wird die Messeinheit im Rahmen einer Studie zu Gleichgewichtsstörungen & Fallprävention an der Berliner Charité eingesetzt.
In der Praxis kann dem Kunden mit dem Messgerät schon heute deutlich gezeigt werden, dass unsere Anfertigungen (Einlagen, etc) oder die von uns angebotenen konfektionierten Schuhe und Laufschuhe, positiv auf seinen Körper wirken. Ebenso kann dem Kunden bei der Frage geholfen werden, ob zum Beispiel die mitgebrachten Schuhe/Versorgungen gut für ihn sind, oder sich eher „blockierend“ auswirken.
Als Techniker haben wir damit ein wenig mehr Sicherheit und können schon darstellen, beziehungsweise nachweisen, dass unsere Arbeit erstens nicht schädigt und zweitens im Sinne einer Rehabilitation des Patienten wirkt.
Anschrift des Verfassers:
OSM Michael Weiß
Mittlere Hofgasse 8
83278 Traunstein
Ausgabe 07 / 2017
Literaturverzeichnis können Sie im pdf einsehen: