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6. April 2017
Redaktion
Diabetes

Durchtrennung von Zehensehnen am Diabetikerfuß

Das Diabetische Fußsyndrom (DFS) ist eine lebenslange Erkrankung, das die Mobilität der Betroffenen bedroht und im Rahmen der Neuropathie Wunden verursachen kann. Läsionen der Zehenkuppen können mittels perkutaner Tenotomie der Sehnen Flexor Hallucis Longus (FHL) oder Flexor Digitorum Longus (FDL) in Lanzettetechnik sofort und dauerhaft entlastet werden. Die Therapie kann in der Regel ambulant und in Lokalanästhesie durchgeführt werden.
Foto: Engels

Das DFS ist eine schwerwiegende, häufige und zunehmende Konsequenz der Volkskrankheit Diabetes. Es ist mit viel Leid für die Betroffenen und hohem Ressourcenverbrauch für das Gesundheitssystem verbunden. Zwei Eigenschaften machen es einzigartig: Die unterschiedlichen Berufsgruppen, die an einem betroffenen Patienten gemeinsam aber zeitversetzt agieren und der Verlust des schützenden Schmerzempfindens im Rahmen der peripheren Polyneuropathie mit der typischen Entfremdung der Betroffenen gegenüber ihren Füßen, was ihnen die eigene Steuerung ihrer Versorgung zusätzlich erschwert.

Von Diabetes mellitus sind 7–10 Prozent der Bevölkerung betroffen, etwa vier Prozent ­davon erleiden pro Jahr ein aktives DFS. Etwa eine Million der derzeit in Deutschland lebenden Menschen wird im Laufe des Lebens ein aktives Diabetisches Fußsyndrom erleiden. Die Versorgung in einem eingespielten, arbeitsteilig angelegten Netzwerk hat sich als besonders effektiv gezeigt.

Foto: Dr. Gerald Engels
Klinisches Bild einer ausgeprägte Flexionsfehlstellung, insbesondere der Großzehe,
Foto: Dr. Gerald Engels
Ausgeprägte Flexionsfehlstellung, insbesondere der Großzehe, im Röntgenbild.

Entwicklung der Versorgungsstrukturen

Die Behandlung des DFS wird seit den 80er-Jahren durch die Diabetologie koordiniert. Dies hat, initiiert durch die AG Fuß der Deutschen Diabetesgesellschaft, in den letzten zehn Jahren zur weitgehend flächendeckenden Implementierung von zertifizierten Behandlungseinrichtungen für das DFS geführt. Diese werden in der Regel von Diabetologen geleitet.

Neben der Verbesserung der Verfahren zur interventionellen und operativen Therapie der arteriellen Durchblutungsstörung der unteren Extremität haben die strukturierten Konzepte zur Amputationsvermeidung durch den Aufbau von regionalen Netzwerken die Versorgungsrealität der betroffenen Patienten deutlich verbessert. Der interdisziplinäre und interprofessionelle Ansatz hat aber auch zu einer neuen Sichtweise in der Strategie der Behandlung der einzelnen Läsionsmuster geführt. Die Implementierung einer Dokumentationsstruktur der Behandlungen (DFS-Register) ermöglichte durch die Interpretation der Behandlungsdaten die Entwicklung einer Systematik anhand der Lokalisation der einzelnen Läsionsorte mit ihren pathobiomechanischen Phänomenen und prognostischen Faktoren (12).

Durch die Frage „Warum genau da?“ konnte eine überschaubare Anzahl an „Entitäten“ beschrieben werden, die über die Lokalisation der Wunde den therapeutischen Ansatz definiert. Hierbei wurde der Fokus auf pathobiomechanische Phänomene gesetzt (8, 9). Die wesentliche Bedingung für die Entstehung einer Fußwunde bei Menschen mit Diabetes ist die Neuropathie mit Verlust des ­schützenden Schmerzempfindens. Erschwerend treten die arterielle Durchblutungsstörung und die bakterielle Gewebeinfektion hinzu, die für die fulminante Zerstörung von Weichteil- und Knochenstrukturen verantwortlich ist.

Analysen des DFS-Registers zeigten, dass von knapp 60000 dokumentierten Behandlungsfällen 57,8% aller Ulzera an den Zehen auftraten. 28,9% aller Fußulzera entstehen durch Plantarisierung in Bereichen der Zehen, die unter physiologischen Bedingungen nicht belastet werden (10).

Die Plantarisierung entsteht durch Hyperflexion der Interphalangealgelenke, durch Torsion der Zehen D1 oder D5 oder durch Hyperextension des IP-Gelenks D1 beim Hallux rigidus. Da die diabetische Polyneuropathie dis­tal betont ist, fallen die intrinsischen Fußmuskeln bei Entwicklung einer motorischen Komponente der Polyneuropathie mit größerer Wahrscheinlichkeit vor der extrinsischen Muskulatur der Wade aus, was eine Dysbalance zur Folge hat (1, 2, 3). Der nicht mehr achsgerechte Sehnenzug verstärkt das Ungleichgewicht. Eine andauernde Hyperextension im Grundgelenk verlagert die Zugwirkung der Extensoren nach dorsal der Gelenkdrehachse, sodass sie ihre Streckfunktion verlieren und zu zusätzlichen Beugern der mittleren und distalen Phalangen werden (19), hierdurch wird zusätzlich der dorsale Druck auf die Mittelfußköpfe gesteigert.

Diese Dysbalance führt zur Plantarisierung der apikalen Zehenregion, die jedoch für diese Druckbelastung nicht ausgelegt ist. Gefördert wird diese Fehlstellung durch einen Pes planovalgus, zum Beispiel bei zeitgleicher Deformität im Rahmen eines Charcotfußes.

Die Läsionen erreichen den Knochen leicht und lösen überdurchschnittlich häufig Amputationen aus (8, 9, 10, 11).

Da äußere druckumverteilende Maßnahmen durch Hilfsmittel vom Trageverhalten des Betroffenen abhängig sind, ist der notwendige lückenlose Einsatz bei fehlendem schützenden Schmerzempfinden regelhaft nicht sicher gewährleis­tet. Das Ergebnis sind fehlender Wundschluss im Behandlungsfall und häufige Rezidive im Rahmen der Remissionsphase. Oft entwickelt sich daraus eine meist schwierige Patienten-Therapeuten-Beziehung, die leicht in Schuldzuweisungen an den Patienten mündet.

Der Fokus zur Indikationsstellung operativer Zehenkorrekturen liegt bislang entweder beim Schmerz oder bei kosmetischen Überlegungen. Die Behandlung von Menschen mit DFS erfolgt in der Regel durch Diabetologen, die zunehmend biomechanisches Verständ-nis entwickeln und die Kooperation mit Chirurgen suchen. Das reduzierte Schmerzempfinden bei Initialschäden ist das zentrale Merkmal des DFS. Das Ausmaß der Achtlosigkeit, welches Betroffene zeigen, ist für den damit unerfahrenen Therapeuten oft verblüffend. Dieses Phänomen wird als „Leibesinselschwund“ bezeichnet (20).

In der Indikationsstellung für operative Strategien müssen wir daher zunächst klären, ob der betroffene Patient einen Verlust des Schmerzempfindens hat oder nicht (4). Dies führt zu völlig unterschiedlichen Ansätzen bei der Indikationsstellung für operative Maßnahmen. Minimalinvasive chirurgische Strategien können eine innere Druckentlastung realisieren und sind häufig ambulant durchführbar.

Die operativen Maßnahmen zielen auf die Aufhebung der Plantarisierung als wundverursachenden Effekt ab. Es sind oft Verfahren mit geringem operativen Aufwand und überschaubaren, geringen Risiken. Beispielsweise ist die Tenotomie der langen Flexorensehne bei flexibler Plantarisierung an allen Zehen eine effektive, gut untersuchte, in der Regel einfache und unkomplizierte Maßnahme, die das Problem meist dauerhaft beendet. Um die unkomplizierte Durchführung mit einer Blutabnahmekanüle plastisch vor Augen zu führen, wurde sie unter anderem auch als „office procedure“ bezeichnet (16). Bei fixierter Fehlstellung kommen traditionell ausgedehntere Eingriffe wie die PIP-Gelenk-Arthrodese in Betracht. Konzepte der minimalinvasiven Fußchirurgie (MICA) zur Zehenkorrektur sind hierfür möglicherweise geeignete Alternativen (5).

Falls das knöcherne Endglied infiziert ist, kann die einzeitige Resektion der zerstörten Knochenstrukturen sinnvoll sein. Der Wundverschluss erfolgt in der Regel zweizeitig, das heißt die FHL-Sehne oder die FDL-Sehne wird durchtrennt und der destruierte Knochen reseziert. Nach einer kurzen Phase der durch die Tenotomie resultierenden Wundentlastung und gegebenenfalls Antibiotikagabe ist zu erwarten, dass die Infektionszeichen im Bereich der knöchernen Resektion abgeklungen sind und die Wunde operativ verschlossen werden kann. Eine relative Kontraindikation für die Tenotomie der FHL-/FDL-Sehne ist eine relevante arterielle Durchblutungsstörung, der Ausschluss einer arteriellen Durchblutungsstörung ist eine präoperative Verpflichtung. Bei einer gleichzeitig bestehenden Wunde, auch mit Osteomyelitis, sollte der Eingriff dennoch frühzeitig erwogen werden, um eine fortgesetzte Traumatisierung der Läsion abzustellen. Eine Osteomyelitis des Zehenendgliedes sollte nicht „reflektorisch“ zur Amputation der Zehe führen, die Resektion des zerstörten Knochens reicht oft aus. Bei Infektionen von Weichteilen oder Knochen ist eine erregerspezifische Antibiotikatherapie sinnvoll. Die Tenotomie der langen Beugesehne ist, wie auch andere operative Verfahren zur inneren Druckentlastung, auch bei älteren Menschen, bei Wunden mit Osteomyelitis oder bei geringfügiger Durchblutungseinschränkung mit gutem Ergebnis vornehmlich ambulant in Lokalanästhesie durchführbar (6, 7).

In einer eigenen Untersuchung von 138 Patienten mit DFS und Polyneuropathie, davon 90 Männer (65,2 %) und 48 Frauen (34,8 %) im mittleren Alter von 65,1 Jahren wurden insgesamt 291 Zehen mittels Tenotomie der FHL- oder FDL-Sehne operiert. Sie waren entweder akut von apikalen Zehenläsionen betroffen (92,1%) oder zeigten ein erhöhtes Ulkusrisiko (7,9 %). Die mediane Zeit bis zum Wundschluss betrug postoperativ 13 Tage (die mittlere 32, SD 53 Tage). Die mittlere Wundheilungszeit war bei höheren Wagnerstadien länger: Wagner 1–2: 14 Tage, Wagner über 2: 37 Tage. Von nosokomialen Infektionen waren 3,1 % der operierten Zehen betroffen. In der Ein-Jahres-Nachsorge waren 92,4 % der untersuchten Patienten an der operierten Zehe ohne pathologischen Befund. Rezidive des DFS traten meist in den ersten 6 Monaten postoperativ auf. Im ersten postoperativen Jahr blieben 68,1 % der Patienten in Remission.

93,7 % der Patienten mit Wagner 0 und 72,2 % der Betroffenen mit Wagner-Grad 3 waren im gesamten Nachbeobachtungszeitraum frei von Lokalrezidiven. Von Transferläsionen waren 13 % der Patienten innerhalb der ersten 1,5 bis 8,5 Monate betroffen (7, 14).

Ausblick

Foto: Dr. Gerald Engels
Flexionsfehlstellung der Langzehen mit apikalen Läsionen DII-II.
Foto: Dr. Gerald Engels
Perkutane Tenotomie der FDL-Sehne DII.
Foto: Dr. Gerald Engels
Plantarisierung der lateralen 5. Zehe bei Flexions-Torsionsfehlstellung mit infiziertem Schwielenhämatom.
Foto: Dr. Gerald Engels
Zustand nach Tenotomie der FDL-Sehnen DIII-DV und Débridement der Läsion.
Foto: Dr. Gerald Engels
Typische Transferläsion an DIII links nach Amputation der zweiten Zehe.

Die Entwicklung der operativen Fächer hat sich in den vergangenen 20 Jahren rasant entwickelt, zum Beispiel in der bariatrischen Chirurgie. Auch hier ist ein interdisziplinärer und interprofessioneller Ansatz mit dem nachhaltigen Erfolg der Therapie verknüpft.

Die Übertragung operativer Entlas­tungskonzepte der Fußchirurgie auf Menschen mit Neuropathie ist zwischen den beteiligten Disziplinen (Diabetologie/Chirurgie) allerdings immer noch fast völlig unterbunden (8, 9, 10).

Eine Verbesserung des interdisziplinären Austauschs dieser Fachgruppen ist für die Zukunft wünschenswert und vielversprechend.

Die perkutane Tenotomie der Flexo­rensehnen ist aus Sicht des Autors ausreichend untersucht und publiziert, um als flächendeckende operative Therapie apikaler Zehenläsionen bei Menschen mit Neuropathie eingesetzt zu werden (7, 13, 14, 15, 16, 17, 18, 21).

Zusammenfassung

Das Diabetische Fußsyndrom (DFS) ist eine lebenslange Erkrankung, die in aktiven und inaktiven Phasen verläuft. Es bedroht die Mobilität der Betroffenen. Veränderungen der Biomechanik, die bei Menschen mit erhaltenem Schmerzempfinden zur Einforderung therapeutischer Hilfe
führen, können bei denjenigen mit aufgehobenem Schmerz im Rahmen der Neuropathie Wunden verursachen, die kontinuierlich weiter belastet werden.
Läsionen der Zehenkuppen bei flexiblen, in ausgewählten Fällen auch fixierten Hyperflexions- und Torsionsfehlstellungen der Zehenend-phalanx durch „Plantarisierung“ physiologisch unbelasteter Zehen-anteile bei Menschen mit DFS (Neuropathie) können mittels perkutaner Tenotomie der Sehnen Flexor Hallucis Longus (FHL) oder Flexor Digitorum Longus (FDL) in Lanzettetechnik sofort und dauerhaft entlastet werden. Die Therapie ist für die  Betroffenen kaum belastend und kann in der Regel unter ambulanten Bedingungen in Lokalanästhesie durchgeführt werden.

Anschrift des Verfassers:

Dr. Gerald Engels MVZ St. Marien GmbH,

Sektion Wund-chirurgie, Klinik für Diabetologie und Endokrinologie, St. Vinzenz Hospital

Merheimer Straße 221–223, 50733 Köln-Nippes

 

Artikel aus OST-Ausgabe 04 / 2017

 

Foto: Andrey Popov/AdobeStock_495062320
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