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3. Juli 2019
Redaktion

Physiotherapie und ­Orthopädieschuhtechnik – Eine Zusammenarbeit, die es ermöglicht, sich der Umwelt „zu stellen“!

STEPHANIE MÜLLER


Unser Gehirn hat die Fähigkeit, sich immer wieder neuartigen ­Anforderungen anzupassen. Das ist nicht nur nach einem Schlaganfall wichtig für die Rehabilitation. Das Ziel der Physiotherapie ist, ­gemeinsam mit den Patienten verloren gegangene Fähigkeiten neu zu lernen und wieder herzustellen. Eine wichtige Rolle bei der Wiedererlangung der Gehfähigkeit spielen Orthesen. Sie müssen die nötige Stabilität ­liefern, dürfen aber auch nicht den Lernprozess ­behindern. Das beste Hilfsmittel für den Patienten findet
man ­deshalb am besten im engen interdisziplinären Austausch.

Foto: snaptitude/Adobe Stock

Diese Fußheberschwäche, diese fehlende Muskulatur in den Beinen für die benötigte Vorwärtsbewegung, dieses Schwanken nach rechts und links, diese einseitige Belastung … „Wie soll das bloß werden?“, dachte ich, als ich meine Patientin den Stationsflur entlanggehen sah. So, das war mir klar, wollen wir sie nicht aus unserer Einrichtung entlassen.

Was kann ich als Behandlerin in solchen Fällen tun? Grundlegend für unsere Arbeit ist das Wissen, dass die Patienten aus ihren gewohnten Bewegungsmustern herausgerissen sind. Der vorgegebene Bauplan, inklusive Ausführung  im Gehirn, ist komplett durcheinandergeraten. Egal ob die Ursache geplatzte Gefäße sind, sklerotische Veränderungen (Multiple Sklerose), raumfordernde Prozesse wie Tumore, Sauerstoffmangel oder auch ausgelöste Thromben der Halsschlagader (Karotis): Die normale, komplexmotorische Bewegung existiert nicht mehr.

Komplexe Motorik benötigt alle Systeme und Sinne

Koordinationsübungen für die Hände sind ein wichtiger Bestandteil der TherapieAber was ist eigentlich eine normale Bewegung? Was heißt es, normale Bewegungsabläufe nicht mehr abrufen zu können? Eine komplexmotorische Bewegung ist, vor allem im Gegensatz zu einer „einfachen“ passiven Bewegung, in der Regel immer mehrdimensional, aktiv, lokomotorisch, das heißt in der Fortbewegung, antigravitatorisch (gegen die Schwerkraft) und vor allem zielgerichtet durch Greifen und Hantieren. Ein Beispiel für eine extrem komplexe motorische Leistung zeigt das Bild auf dieser Seite neben der Überschrift.

Um das alles zu koordinieren und umzusetzen, benötigen wir neuronale Systeme und eine Skelettmuskulatur die von Regelkreisen gesteuert wird, bei der es Spieler und Gegenspieler (Agonist und Antagonist) einer Muskelgruppe gibt, die sich nicht gegenseitig behindern. Diese Regelkreise sind sowohl effizient und ökonomisch als auch sinn- und zielgerichtet.

Zusätzlich benötigt man intakte Sinnesorgane mit taktil-kinästhetischen Rezeptoren, ein visuelles und auditives System und ein funktionierendes Gleichgewichtsorgan im Innenohr, das Vestibularsystem. Das Gesamtspiel von Koordination, Kraft, Gleichgewicht, Schnelligkeit und Beweglichkeit ist Voraussetzung für adäquate physiologische Bewegungsmuster.

Erkrankung zerstört die eingeübten Bewegungsmuster

Und jetzt ist da die Störung. Ich sehe meine schief sitzende Patientin: Die eine Seite wird nicht beachtet, der Arm ist nicht körperbezogen abgelegt, er wirkt wie ein Fremdkörper, das Bein ist nicht symmetrisch abgestellt, die Füße sind nicht parallel, der Rumpf ist asymmetrisch und der Kopf zu einer Seite geneigt. Ein ähnliches Bild im Stand. Das Gewicht überwiegend auf einer Seite, die Patientin steht sozusagen „auf einem Bein“, der Oberkörper sieht verdreht aus, sie sucht nach Halt, benutzt nur die gesunde Seite.

Das bedeutet, ich sehe einen abnormen Haltungs- und Bewegungstonus, Lähmung auf der betroffenen Seite (Hemiparese), zu viel Tonus auf der nicht betroffenen Seite, Verlust oder mangelnde Körper- und Raumorientierung. Die gesamten Geschehnisse auf der betroffenen Seite werden nicht wahrgenommen – ein sogenannter visueller oder körperbezogener Neglect. Oft sind Oberflächensensibilität (spürbar über die Haut) als auch die Tiefensensibilität gestört. Diese ist wichtig, um die Stellung der Gelenke im Raum zu erfassen. Es kommen Apraxie (gestörte Handlungsplanung), Aphasie und Dysphagie (Sprach- und Schluckstörungen), Harn-und Stuhlinkontinenz vor.  Sehstörungen – die sogenannte Hemianopsie und auch Gleichgewichtsdefizite reihen sich in die Symptomatik mit ein.

Der Bewegungsübergang von der Rückenlage in den Sitz und dann in den Stand, bedeutet, sich immer den gegebenen Einflüssen der Umwelt anzupassen. „Die Positionen ausrichten“ bedeutet, ein Alignment (to align – ausrichten) zu schaffen, wo alle Anteile eines Gelenkes oder Knochen, Muskulatur und Bänder während einer Bewegungssequenz in einer optimalen Ausrichtung zueinander stehen. Das  Ziel ist es, koordinierter und effizienter im Bewegungsablauf zu sein.

Anpassungsfähigkeit des Gehirns für die Therapie nutzen

Die Anpassungsstrategien eines Menschen nach einem Schlaganfall sind phänomenal. Es werden Kompensationsstrategien entwickelt und andere bestehende Schaltkreise aktiviert. Durch die Fähigkeit des Gehirns, sich neuartigen Anforderungen anzupassen, können die vorhandenen unphysiologischen Muster bearbeitet und ersetzt werden. Das heißt, ein Lernen und Ausbau neuronaler Netze ist im Krankheitsverlauf beziehungsweise Regenerationsprozess möglich. Dies ist die sogenannte Plastizität des Gehirns.

Forschungen zeigen, dass Synapsen sich neu bilden,  dass Nerven sich durch Fazilitation (das gezielte Setzen von Reizen, um Bewegungen anzubahnen, zu unterstützen und zu erleichtern) neue Verbindungen suchen und andere Gehirnzellen die Funktion übernehmen. Es gibt die Aktivierung schlafender Synapsen oder die regenerative kollaterale Aussprossung. Die Plastizität ist ein lebenslänglicher Umbau der Nervenzellverbindungen, der besonders im ersten Lebensjahr, während der Pubertät oder nach einer Schädigung stattfindet.

Die Behandlung meiner Patientin basiert auf Befunderhebung und ist ein fortwährender Prozess, der sich täglich neu an den Problemen der Patientin orientiert und in dem ich mir die Frage stelle, was hindert die Patientin daran, eine Bewegung normal auszuführen und wie ist die Qualität der Bewegung?

Die posturale Kontrolle ist dabei ein wichtiges Kriterium. Die Begriffe Gleichgewicht, „posturale Kontrolle“ und „Equilibrium“ werden synonym benutzt, um den Mechanismus zu beschreiben, mit welchem der menschliche Körper sich vor dem Fallen schützt oder das Gleichgewicht bewahrt (Ragnasdottir 1996). Um das Gleichgewicht aufrecht zu erhalten, müssen die auf den Körper einwirkenden internen Kräfte (Bewegung des Körpers) und externen Kräfte (Schwerkraft, Umwelt) ständig kompensiert werden (Shumway- Cook & Woollacott 2007).

  1. Kraft, Koordination und Ausdauer sind wichtige Fähigkeiten, die in der Rehabilitation und im Idealfall auch danach trainiert werden

Orthesen müssen die Therapie unterstützen

Patienten mit pathologischem Gangbild gehen langsamer, um den Energieverbrauch pro Zeiteinheit gleichzuhalten. Das bedeutet aber auch, dass sie länger für dieselbe Strecke benötigen (Foto: AdobeStock_rawpixel_com)Orthesen sind ein wichtiger Bestandteil der Therapie, um die Geh- und Steh­fähigkeit der Patienten wieder herzustellen.  Wenn man sich vergegenwärtigt, dass die Patienten sich im Prozess des Bewegungslernens befinden, aber gleichzeitig Unterstützung und Stabilisierung benötigen, dann werden an die Orthesen gleich mehrere Anforderungen gestellt.  Im therapeutischen Alltag muss eine Orthese ausreichende Funktionen anbieten (Fußheber, Sprunggelenksbeweglichkeit) und eine gute Stabilität schaffen, damit sich der Patient seiner Umwelt im wahrsten Sinne des Wortes stellen kann. Die Orthese muss also einerseits die anatomischen Gegebenheiten unterstützen und andererseits neue Strategien und Bewegungsmuster auch zulassen.

Das gelingt leider nicht immer. In meinen mehr als zwanzig Jahren Berufserfahrung habe ich schon einige negative Beispiele gesehen. Die Orthese sollte nicht so stark drücken, dass Dekubiti (Druckstellen) entstehen und dadurch Bewegung abgelehnt wird und das Gehen sich aufgrund einer Schmerzsymptomatik verschlechtert (verkürzte Standbeinphase, fehlende Gewichtsübernahme, etc.).

Auch ist es nicht hilfreich, wenn durch Unsicherheit in der Bewegung mehr Spastik hervorgerufen wird, anstatt sie zu hemmen. Unsicherheit entsteht beispielsweise aufgrund eines geschwollenen Fußes oder weil die Orthese nicht mehr passt. Unsicherheit entsteht auch aufgrund einer Wahrnehmungsstörung der unteren Extremität. Der Patient spürt die Orthese nicht (hyposensibel) oder zu sehr (hypersensibel). In der Summe führt mehr Unsicherheit dazu, dass der Patient versucht, die Instabilität auszugleichen und der Tonus sich erhöht. Gleichzeitig gibt es mehr assoziierte Reaktionen in anderen Gebieten, die in einem normalen Bewegungsablauf nicht gewünscht sind. Das, was man physiotherapeutisch aufgebaut hat, wird somit erschwert.

Ein anderer Aspekt ist die fehlende Sprunggelenksbeweglichkeit – der Patient hat gar nicht die Möglichkeit, das Sprunggelenk in die Dorsalextension zu bringen, wodurch die Funktion der Fußheberorthese ausgeschaltet wird. Es gibt leider immer wieder auf beiden Seiten, bei Therapeuten und Orthopädiehandwerkern, „schwarze Schafe“, die eine Orthese und einen Fuß zusammenbringen und sagen „passt schon“. Eine Stangenware-Orthese gehört meiner Meinung nach nicht an den Fuß!
An einer guten Orthese schätze ich, dass die posturale Orientierung und posturale Strategien umgesetzt werden können. Was bedeutet das?

Die Plastizität des Gehirns ist der wichtigste Verbündete in der Rehabilitation. Synapsen bilden sich neu und Nerven suchen sich neue Verbindungen. So ist ein Lernen und ein Ausbau neuronaler Netze möglichEine gute Orthese hält das Alignment zwischen den Körperabschnitten aufrecht und gewährleistet die Interaktion zwischen Körper und Umwelt. Man muss eine vertikale Orientierung besitzen, um der Schwerkraft entgegenzuwirken. Ein Ausgleichen des Körperschwerpunktes im oberen Sprunggelenk, das Wiedergewinnen des Körperschwerpunktes über ein Ausgleichen der Hüfte und eine Schritt-Strategie, wenn der Körperschwerpunkt die Unterstützungsfläche verlässt.

Vor der Orthesenversorgung steht immer die Frage: Wo soll die Reise meiner Patientin jetzt hingehen? Wie können wir uns therapeutisch mit dem Fachwissen einer Orthopädieschuhtechnik ergänzen und nicht gegenseitig behindern? Wie kann eine orthopädische Schuhversorgung bei Schlaganfall und Lähmungen unterstützen?

Zuerst nehme ich Kontakt mit dem Orthopädieschuhmacher auf. Nach einer Stand- und Ganganalyse sehen wir die vorhandene Problematik noch deutlicher und können verschiedene Versorgungsmöglichkeiten besprechen. Dabei steht uns die gesamte Palette des orthopädischen Handwerks zur Verfügung. Dieser Prozess geschieht immer im Austausch und in Beratung mit der Patientin. Dadurch finden wir die beste Lösung, nämlich jene, welche die gewünschte Funktion hat und auch von der Patientin akzeptiert wird.

Nachsorge muss geregelt sein

Wie geht es dann weiter mit unserer Patientin, wenn sie die Therapie bei uns beendet hat und ins häusliche Umfeld entlassen wird? Mir ist bewusst, dass von Seiten der Krankenkasse eine Bewilligung von individuellen Schuh- oder Orthesenversorgungen einige Wochen in Anspruch nehmen kann.  Somit heißt es: Geduld.

Die Übergangsphase ist für die Patienten sehr wichtig, damit das, was in der Therapie erreicht wurde, danach nicht verloren geht, sondern weiter ausgebaut wird. Deshalb ist es sehr wichtig, dass die adäquate Weiterversorgung im häuslichen Setting weitergeführt wird – seitens der Orthopädieschuhtechnik und seitens der ambulanten Physiotherapie. 

Anschrift der Verfasserin:
Stephanie Müller
Leitung Physiotherapie
Evangelisches Geriatriezentrum Berlin gGmbH
Reinickendorfer Straße 61
13347 Berlin

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Bilder aus dem Artikel:

Foto: Andrey Popov/Adobe Stock
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