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13. Juli 2016
Redaktion

Muskelstimulierende Orthesen

Nach einem Schlaganfall können viele Betroffene ihren Fuß dauerhaft nicht mehr richtig anheben – die sogenannte Fußheberschwäche oder der Fallfuß. Mit der Folge, dass jeder Schritt höchste Aufmerksamkeit fordert und jede kleine Unebenheit zur Stolperfalle werden kann. Dem sollen spezielle Orthesen entgegenwirken. Von Kathrin Ernsting und Wolfgang Best


Foto: ProWalk GmbH

Nach einem Schlaganfall kann das zentrale Nervensystem dauerhaft geschädigt sein. Eine mögliche Folge: Das Gehirn kann eine Körperregion oder bestimmte Muskeln nicht mehr richtig ansteuern und koordinieren. Bei der Fußheberschwäche sind davon Muskeln in der Wade und im Fuß betroffen. Das bedeutet, dass sich der Fuß nicht mehr oder nur noch unzureichend heben lässt. Die Fuß­hebung ist aber sowohl für das Gangbild, als auch für die Sicherheit gegen das Stolpern während des Gehens essentiell. Kommt es zu einem Ausfall, entstehen Veränderungen des Gangbildes und somit erhebliche Beeinträchtigungen des Pa­tien­ten in seiner Mobilität und Lebensqualität.
Nach einem Schlaganfall setzt der Fuß häufig nicht mit der Ferse zuerst auf, sondern mit den Zehen oder der ganzen Fußsohle. Die Folge: Die Betroffenen müssen sich stark konzentrieren und sehr genau auf den Untergrund achten. Jede Teppichfalte, jede Bodenwelle kann zum Sturz führen. Schlaganfallpatienten schwingen das betroffene Bein oft mit der Hüfte nach vorne, laufen auf der Außenkante oder krallen mit den Zehen
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Therapieoptionen
Es existieren unterschiedliche Thera­pieoptionen zur Rekonstruktion der ­Dorsalextension. Zu den operativen Therapiemöglichkeiten bei einer Fußheberschwäche gehören Weichteileingriffe wie zum Beispiel Sehnentransfers, und osteosynthetische Eingriffe, wie zum Beispiel Arthrodesen, oder Kombinationen aus beiden Verfahren.
Die meisten Therapiekonzepte basieren auf der mechanischen Rückstellung des Fußes in die Neutralstellung durch eine Fußheberorthese.  Diese Fußheberorthesen gibt es in vielen verschiedenen Ausführungen, die je nach Grad der Lähmung beziehungsweise der benötigten Stabilisierung eingesetzt werden.
Bei textilen Konzepten wird der Vorfuß über elastische Bänder angehoben. Hier gibt es speziell konstruierte Sprunggelenkbandagen mit Zügeln zur Anhebung des Vorfußes, aber auch einfache Manschetten für den Unterschenkel mit einem Gummizug, der am Schuh befes­tigt wird und so für eine Fußhebung in der Schrittabwicklung sorgen soll.
Bei den festen Orthesen gehören die Peronäusschienen mit Waden- und Fersenaussparung aus Polypropylen, meist weiß oder transparent, auch heute noch zu den bekanntesten Modellen. Sie werden von verschiedenen Herstellern angeboten und begrenzen die Plantarflexion und verhindern damit das Herunterfallen des Fußes.
Mittlerweile gibt es jedoch auch viele Konstruktionen aus Carbon, bei denen die Federwirkung dieses leichten und stabilen Materials genutzt wird, um den Patienten einen dynamischeren und physiologischeren Gang zu ermöglichen.
Allen Orthesenkonzepten gemeinsam ist, dass sie die eigentliche Muskelfunktion nicht ersetzen können. Sie unterstützen die Dorsalflexion im Sprunggelenk während der Schwungphase und verbessern die Kniestabilität in der frühen Standphase, doch sie schränken auch die Sprunggelenksmobiliät ein. Auch die Begünstigung einer Kontraktur, mangelnder Komfort sowie ein Schuhkonflikt werden als Nachteile dieser
Orthesenkonzepte angeführt. Darüber hinaus sei mit der starren Rückstellung des Fußes in die Neutralstellung keine dynamische Komponente mit Adaption des Fußes an physiologischen Bewegungsabläufe möglich.

Muskelstimulierende Orthesen
Diese Einschränkungen waren die Motivation für die Entwicklung von Versorgungskonzepten, mit deren Hilfe der Impuls an die Nerven der betroffenen Muskeln künstlich erzeugt wird, damit sich der Fuß wieder normal durch Muskelkraft heben lässt. Muskelstimulierenden Orthesen werden nicht nur nach
einem Schlaganfall, sondern auch bei Multipler Sklerose (MS), Zerebralparese (ICP), Schädel-Hirn-Verletzungen (SHT) oder einer inkompletten Querschnittslähmung eingesetzt.
Diese Orthesen arbeiten mit elektrischen Impulsen, welche über die Haut oder direkt am Nerv übertragen werden. Immer dann, wenn der Fuß angehoben werden soll, senden sie das entsprechende Signal an den Muskel. Ohne mechanische Unterstützung, mit eigener Muskelkraft soll der Fuß im Gangzyklus an­­gehoben werden. Dadurch soll nicht nur die Fallfußneigung ausgeschaltet werden.
Diese stimulierenden Orthesen sollen auch Bewegungseinschränkungen sowie durch die aktive Muskelkontraktion auch Muskelatrophien vorbeugen. Vor allem versprechen die Hersteller dieser muskelstimulierenden Orthesen ein besseres und physiologischeres Gangbild. Es gibt erst wenige Systeme am Markt. Drei sollen hier vorgestellt werden.

„WalkAide“
„WalkAide“ ist eine auf den Nutzer individuell eingestellte Myo-Orthese, die als Manschette am Unterschenkel getragen wird. Entwickelt wurde sie (Abb. 1) an der Universität Alberta (Kanada). Sie stimuliert den Peroneus-Nerv am Unterschenkel und veranlasst die Muskeln, den Fuß zu heben. Dazu misst ein Neigungssensor ständig die Stellung der Orthese. Unter Verwendung eines speziellen Softwareprogramms werden die Bewegungen des Beines und Fußes analysiert und die ­Stimulation wird von spezialisierten Technikern dem individuellen Gehmuster angepasst, damit die Orthese den Peroneus-Nerv zum richtigen Zeitpunkt im Gangzyklus stimuliert. Diese sanften, elektrischen Impulse fordern die Muskeln auf, den Fuß zum richtigen Zeitpunkt anzuheben. „WalkAide“ besteht aus einem batteriebetriebenen Einkanal-Stimulator, zwei Elektroden und entsprechenden Verbindungen. Das kleine Gerät lässt sich mit einer Hand selbst anlegen und hat einen vorprogrammierbaren Übungsmodus, mit dem man die Muskeln trainieren und üben kann, die Nerven zum Gehirn anzusprechen und Bewegungen anzubahnen.

„MyGait“
Auch „MyGait“ von Ottobock arbeitet nach dem Prinzip der Muskelstimulierung über den Hautkontakt und aktiviert bei einer Fußheberschwäche mit funktioneller Elektrostimulation (FES) von außen den Wadenbeinnerv.
Dazu wird eine Manschette mit Oberflächenelektroden am Unterschenkel angelegt. Ausgelöst wird das Signal über einen Fersenschalter, der in einer speziellen Socke getragen wird. Dieser erkennt, ob sich das Bein in der Schwung- oder Standphase befindet. Diese Information sendet er kabellos an den Stimulator, der in der Manschette am Unterschenkel
fixiert ist. Integrierte Elektroden an der Manschetteninnenseite geben diese Impulse über den Peronäusnerv an jenen Muskel weiter, der eine kontrollierte Fußhebung veranlasst.
Über das Einstelltool kann der Handwerker oder Therapeut Einfluss auf die exakten Bewegungen nehmen, indem er die Intensität und Dauer der Stimulation regelt. Zwei verschiedene Manschetten stehen zur Auswahl: Die Manschette „Original“ ist fest und kompakt gebaut, die Manschette „Soft“ zeichnet sich durch ein schlankeres Design aus. Beide können laut Hersteller mit nur einer Hand angelegt werden. Das sei besonders hilfreich, wenn eine Körperseite gelähmt ist. Durch die Socke und den Fersenschalter ist ein durch funktionelle Elektrostimulation unterstütztes Gehen auch ohne Schuhe möglich.

„ActiGait“
Unter die Haut geht die muskelstimulierende Orthese „ActiGait“ von Ottobock. „ActiGait“ ist ein Hybridsystem bestehend aus internen und externen  Komponenten (Abb. 3). Der Wirkmechanismus ist an der oberflächlichen funktionellen Elektrostimulation angelehnt und beruht auf eine Stimulation des motorischen Astes des N. peroneus communis. Durch einen kleinen operativen Eingriff wird eine Mehrkanal-Elektrode auf dem motorischen Ast des N. peroneus communis und eine Stimulationseinheit im Subkutangewebe des ipsilateralen Oberschenkels implantiert.
Über eine an der Haut angebrachte Antenne erhält der Stimulatorkörper des Implantats ein Signal, das er als elektrischen Impuls an den Wadenbeinnerv weitergibt. Der Nerv aktiviert die Unterschenkelmuskulatur, sodass sich die Fußspitze hebt. Auslöser für den elektrischen Impuls ist jeweils der Auftritt der Ferse. Über einen Fersenschalter, wird das Signal zur Fußhebung ausgelöst und an die Stimulationseinheit gesendet. Die Stärke des Impulses wird vom Orthopädietechniker im vorgegebenen Rahmen reguliert. Durch die Verwendung der Mehrkanal-Elektrode sowie die Stimulation direkt am Nerven sollen differenziertere Fußbewegungen provoziert werden und es können niedrigere Stromstärken als bei der Oberflächenstimulation verwendet werden.
Dadurch, dass „ActiGait“ teilweise implantiert wird, müssen keine Klebe­elektroden am Bein befestigt werden. Die Bestandteile, die außen am Körper getragen werden, können laut Hersteller leicht vom Patienten angelegt werden.
Potenzielle Anwender von ActiGait sind Schlaganfallpatienten mit einer Fußheberschwäche. Charakteristisch für Patienten, die von ActiGait profitieren können, ist, dass sie beim Gehen keinen normalen Fersenkontakt erzielen. Es muss möglich sein, dies mithilfe elektrischer Stimulation des Wadenbeinnervs (Peroneusnerv) zu erreichen. Vor einer Implantation der Elektrode muss deshalb abgeklärt werden, ob der Patient für ein Versorgung mit dieser Orthese in Frage kommt. Weitere Kriterien sind zum Beispiel, das der Patient fähig ist, mit beiden Fersen in Berührung zum Boden aufrecht zu stehen, während sich Hüfte und Knie in neutraler Position befinden. Das betroffene obere Sprunggelenk muss in
einem passiven Bewegungsbereich von mindestens 30 Grad bewegt werden können.
Ist „ActiGait“ anwendbar, setzt ein spezialisierter Chirurg das Implantat ein.
Etwa drei Wochen nach dem Eingriff sei die Haut vollständig verheilt. Erst danach könne das System aktiviert werden. Nach Angaben von Otto Bock wurden inzwischen 300 Patienten mit „ActiGait“ ­versorgt. Vor der Zulassung wurde die Wirkung in einer klinischen Zulassungsstudie mit 15 Schlaganfallpatienten ­untersucht. Die Ergebnisse ergaben, dass die Träger von „ActiGait“ im Durchschnitt um 20 Prozent schneller gehen und längere Strecken zurücklegen.
In einer aktuellen Studie, die unter anderem auf dem Symposium der Gesellschaft für Fußchirurgie im Dezember 2015 präsentiert wurde, standen andere Gang­parameter im Mittelpunkt. In dieser Studie konnte bei den vier Probanden nicht nur eine deutliche Zunahme der Dorsalextension beobachtet werden, sondern auch eine deutliche Annäherung der kinematischen Gangparameter an den physiologischen Bewegungsablauf. Im Knie wurde die
Hyperextension des Kniegelenks während der Lastantwort ausgeschaltet und es kam zu einer weitgehend physiologischen Stoßdämpfung mit einer Zunahme der Knieflexion. Alle Patienten hätten angegeben an, dass sie sich jederzeit wieder für den Eingriff entscheiden würden. z

Abbildungen: 1.-3.+5. Ottobock 4.ProWalk GmbH

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Foto: Andrey Popov/Adobe Stock
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