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1. August 2016
Wolfgang Best

Myofasziale Ketten

Muskeln bilden mit den Faszien ein funktionelles Netzwerk, das den ganzen Körper umspannt. Zum besseren Verständnis der menschlichen Bewegungen, aber auch als neuer Ansatz in der Therapie dienen die sogenannten myofaszialen Ketten, die weit voneinander entfernte Muskeln über Muskelschlingen und Bindegewebe miteinander verbinden. Durch eine Auswertung zahlreicher Studien konnte nun erstmals für die Existenz und Funktion einige dieser Ketten der wissenschaftliche Nachweis erbracht werden.

Funktionelles Denken hat eine lange Tradition in der Orthopädie und in der Orthopädieschuhtechnik. Doch Traditionen werden nicht immer oder nicht immer von allen gleich gut gepflegt. So waren bis vor etwa zwanzig Jahren viele Versorgungsansätze in der Orthopädieschuh­technik stark von einem eher statischen Denken geprägt. Mechanische Abstützung und Korrektur zur Ausrichtung des Skeletts standen im Vordergrund.

Dieses Denken änderte sich zum einen mit der Verbreitung der sensomotorischen und neurologischen Einlagenversorgung, bei der auf einmal danach ­gefragt wurde, wie sich kleine Veränderungen am Fuß über die Muskelketten bis hin zur Halswirbelsäule auswirken können. Zum anderen stellte sich mit der Sportversorgung in Verbindung mit der Videoanalyse die Frage, wie sich Fehlstellungen oder Defizite in der muskulären Steuerung einzelner Segmente der unteren Extremität auf den gesamten Bewegungsablauf auswirken.

In beiden Bereichen beschäftigte man sich intensiv mit dem Zusammenwirken der Muskeln über mehrere Gelenke hinweg. Deshalb verwundert es nicht, dass auch die aktuellen Forschungen zu den Faszien und den myofaszialen Meridianen im Orthopädieschuhmacher-Handwerk auf großes Interesse stoßen. Sie erweitern das Wissen um die Wirkung der Muskelketten und versprechen tiefere Einsichten in die Entstehung von Schmerzen und Überlastungsschäden.

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Die klassische Anatomie betrachtete die funktionelle Arbeitsweise unseres  Bewegungsapparates lange nur unter dem Aspekt des Zusammenspiels von Muskulatur und knöchernem Skelett. Doch sieht man die Funktion einzelner Muskeln nur isoliert von ihrer Umgebung und dem Netzwerk, in das sie eingebunden sind, fällt es schwer, komplexe Bewegungen zu beschreiben und zu verstehen.
Durch die Faszienforschung wurde wieder ins allgemeine Bewusstsein gebracht, dass die Ausführung von Bewegungen auf einem ganzheitlich funktionierenden System beruht. Der Anatom Kurt Tittel beschrieb in seinem Standardwerk zur beschreibenden und funktio­nellen Anatomie des Menschen schon vor Jahrzehnten die Muskelgruppen, die sich zum gemeinsamen Handeln zusammenschließen, als „Muskelschlingen“. Die Faszienforschung hat dieses Modell erweitert, in dem sie auch die Funktion der Faszien für die Bewegung beschrieb. Heute geht man davon aus, dass die Muskeln des Körpers morphologisch nicht voneinander unabhängig sind, sondern unmittelbar durch fasziale Gewebe, wie zum Beispiel Sehnen, Ligamente, Aponeurosen oder Muskelfaszien miteinander verbunden sind. Das Zusammenwirken von Muskeln und Faszien wird als myofasziales Netzwerk bezeichnet.

Aus Sicht der Faszienforschung ist das Konzept des eigenständigen Muskels überholt. Entgegen früheren Vorstel­lungen sind Muskeln keine isolierten Krafteinheiten, sondern über das Fas­ziennetzwerk miteinander verbunden und damit auch bei der Kraftübertragung miteinander verflochten.

Die italienische Faszienforscherin Carla Stecco konnte für verschiedene Muskeln nachweisen, dass Muskelfasern direkt in umliegende Faszien inserieren und so zeigen, dass es auch eine mechanische Wechselwirkung zwischen Muskel und Faszie gibt. Nicht nur der Muskel überträgt die Kraft, sondern auch die Faszie beziehungsweise das Fasziennetzwerk.

Myofasziale Ketten

In jüngerer Zeit hat der amerikanische Manualtherapeut Tom Myers diese Denkweise mit seinem Konzept der  „Anatomy Trains“ populär gemacht. Direkt übersetzt bedeutet der Begriff „Anatomische Züge“. Im Deutschen werden für die von Myers beschriebenen Muskel-Faszien Strukturen mehrere Begriffe verwendet: Myofasziale Ketten, myofasziale Zuglinien, myofasziale Leitbahnen oder myofasziale Meridiane. Diese  Begriffe leiten sich aus der Vorstellung ab, dass hier unterschied­lichste Kräfte wie Druck, Spannung, ­Stabilität, Fixierung und Elastizität entlang bestimmter Linien im Körper weitergeleitet werden.

Das myofasziale System besteht aus etwa 430 Skelettmuskeln, die von Fas­zien umhüllt sind. Die Faszien verbinden die Muskeln untereinander und mit dem Skelett. Tom Myers hat 11 myofasziale Zuglinien definiert, die weit voneinander entfernte Körperteile über Muskelschlingen und das Bindegewebe miteinander verbinden. Diese myofaszialen Zuglinien, die für die Bewegungsorganisation wichtig sind, werden dabei überwiegend von den oberflächlichen Muskeln gebildet.

Das Konzept der myofaszialen Leitbahnen ist eng mit dem Bauprinzip der Tensegrity verbunden, das aus dem Ingenieurwesen und der Architektur bekannt ist. Tensegrity ist eine Zusammensetzung  aus „Tension“ (Zugspannung) und „Integrity“ (Ganzheit, Zusammenhalt). Damit lässt sich zum Beispiel ein stabiles Stabwerk beschreiben, in dem sich die Stäbe untereinander nicht berühren und lediglich durch Zugelemente, wie zum Beispiel Seile, miteinander verbunden sind.

In Bezug auf die myofaszialen Ketten sind die festen Teile die Knochen und die verbindenden, flexiblen Teile – die Seile – die Muskeln und das fasziale Gewebe. Die Grundidee dieses Modells ist, dass die Beeinflussung einer Komponente immer Auswirkungen auf benachbarte Strukturen hat. Auf diese Weise könnten etwa Spannungsveränderungen eines Gewebes nicht nur lokale Auswirkungen haben, sondern sich auch auf weit entfernte Bereiche erstrecken.

Neue Erklärungsansätze für Schmerzen und Therapien

Dieses Modell macht die myofaszialen Ketten besonders interessant für die ­Ursachenforschung und die Therapie von Schmerzen und Beschwerden am Bewegungsapparat. Denn sie könnten die Erklärung und das Modell dafür liefern, warum der Schmerz nicht immer dort entsteht, wo es wehtut, und warum man Schmerzen häufig durch Interventionen in ganz entfernten Körperregionen therapieren kann. In der Orthopädieschuh­technik könnte dies zum Beispiel erklären, warum eine Einlage auch bei Rückenschmerzen helfen kann.

Faszien spielen bei einer Vielzahl von Erkrankungen eine ganz entscheidende Rolle. Myofasziale Gewebe reagieren wie andere Strukturen auf muskuläre Überforderung, statisch ungünstige oder stereotype Haltungsanforderungen. Da die myofasziale Leitbahnen wesentlich für die Weiterleitung von Druck und Spannung, aber auch für Stabilität und Elastizität wichtig sind, kann unter Umständen eine Verspannung an der Fußsohle Schmerzen im unteren Rücken verursachen.

Doch wissenschaftliche Nachweise für die Existenz und die Funktion dieser Leitbahnen waren bislang rar. Tom Myers weist darauf hin, dass die Hypothese von der Kraftübertragung entlang der anatomischen Leitbahnen zwar von einigen Arbeiten unterstützt wird, ein wissenschaftlicher Nachweis aber noch aussteht.

Wissenschaftliche Evidenz

Ein wichtiger Schritt in diese Richtung ist die Arbeit von Jan Wilke und Kollegen vom Institut für Sportmedizin der Universität Frankfurt. Sie haben die wissenschaftliche Literatur zu diesem Thema gesichtet und ausgewertet.
Bei diesem Review wurden für sechs der 11 von Myers beschriebenen myofaszialen Ketten alle Studien unter die Lupe genommen, die eine wissenschaftliche Evidenz für deren Existenz liefern könnten. Dies waren die oberflächliche Rückenlinie, die oberflächliche Frontallinie, die laterale Linie, die Spirallinie, die funktionelle Rückenlinie und die funktionelle Frontlinie.

Die Autoren suchten in den einschlägigen wissenschaftlichen Datenbanken und bewerteten die Studien nach ihrer wissenschaftlichen Aussagekraft und ihrem Bezug zur Fragestellung. Von ursprünglich über 6000 gefundenen Arbeiten konnten am Ende 62 Studien in das Review einbezogen werden.
Für drei der sechs untersuchten Meridiane konnten in der Literatur Nachweise für eine umfassende strukturelle Kontinuität nachgewiesen werden. Diese sind die oberfächliche Rückenlinie, die funktionelle Rückenlinie und die funktionelle Frontallinie. Nicht ganz so eindeutig waren die Ergebnisse für die laterale Linie und die Spirallinie. Hier zeigten die Studien nur eine mäßige Evidenz für die Verbindungen zwischen den Muskeln. Deshalb seien die Ergebnisse als ambivalent einzustufen. Keine Evidenz konnte in den untersuchten Studien für die Existenz der oberflächlichen Frontallinie gefunden werden.
Allerdings weisen die Autoren in ihrem Beitrag ausdrücklich darauf hin, dass man aus der Tatsache, dass man nur für drei der untersuchten sechs myo­fasialen Leitbahnen eindeutige wissenschaftliche Evidenz für die Verbindungen zwischen den Muskeln gefunden haben, nicht schließen dürfe, dass die anderen Leitbahnen eventuell nicht existieren. Da das Interesse groß sei, gebe es vielleicht in der Zukunft weitere Studien, welche die fehlenden Nachweise liefern.

Zweifel melden die Autoren jedoch schon heute an der Existenz der oberflächlichen Frontallinie an. Es gebe keine strukturelle Verbindung zwischen dem M. rectus femoris und dem M. rectus abdominis. Der M. sternalis, der die craniale Fortsetzung des M. rectus abdominis sein soll, existiere nur bei einem kleinen Teil der Bevölkerung und habe keine durchgehende Verbindung zu diesem Muskel.

Therapeutische Konsequenzen

Eine direkte therapeutische Konsequenz lässt sich aus dieser Studienauswertung nicht ableiten. Noch gibt es kaum Stu­dien, die Therapien auf der Basis der myo­faszialen Leitbahnen untersuchten. Dennoch gibt es einige Hinweise auf die funktionelle Bedeutung dieser Leitbahnen. So weisen Patienten mit chronischen lumbalen Rückenschmerzen Verhärtungen und Stiffness sowie eine reduzierte Flexibilität der ischiocruralen Muskulatur auf. Ein Stretching der rückseitigen Oberschenkelmuskulatur, die über die oberflächliche Rückenlinie mit der Lendenwirbelfaszie beziehungsweise dem Rückenstrecker-Muskel in Verbindung steht, könnte daher geeignet sein, potenziell pathologisch veränderte mechanische Eigenschaften der Gewebe im Lumbalbereich zu normalisieren. Die funktionelle Rückenlinie könnte eine Rolle bei Schmerzsymptomatiken der Schulter spielen. (Dissertation Wilke, 2016)
Für die Wirksamkeit von Therapien wie zum Beispiel Rolfing, Manuelle Therapie, Bindegewebsmassage, myofasziale Releasetechniken, welche direkt oder indirekt die myofasziale Spannung beeinflussen kann die Erforschung der myofaszialen Zuglinien neue Erkenntnisse zum Verständnis der Wirkungsweise liefern. Auch ganz einfache Therapieansätze, wie die Dehnung der Wadenmuskulatur für die Behandlung einer Plantarfasziitis, lassen sich über die myofaszialen Zuglinien erklären. Nach dem Konzept der Zuglinien korrespondiert dieses „Projektionsmuster“ des Schmerzes von der verkürzten Wadenmuskulatur zur Fußsohle sehr gut mit der oberflächlichen Rückenlinie.

Ausgabe 5/2016

 

Literatur
  • Biesenbach, St.: Myofasciale Schmerzsyn­drome; Deutsche Gesellschaft für Musku­loskeletale Medizin (DGMSM) e. V.; http://www.dgmsm-ev.de
  • Schleip/Baker: Faszien in Sport und Alltag, Riva, 2015
  • Wilke J. et al.: What is Evidence-Based About Myofascial Chains: A systematic Review. ­Archives of Physical Medicine and Rehabilitation, 2016; 97:454-61
  • Wilke J.: Die Bedeutung myofaszialer Ketten für das Bewegungssystem unter besonderer Berücksichtigung des mechanischen Krafttransfers. Inauguraldissertation; Johann Wolfgang Goethe-Universität, Frankfurt am Main, 2016
Literatur
  • Biesenbach, St.: Myofasciale Schmerzsyn­drome; Deutsche Gesellschaft für Musku­loskeletale Medizin (DGMSM) e. V.; http://www.dgmsm-ev.de
  • Schleip/Baker: Faszien in Sport und Alltag, Riva, 2015
  • Wilke J. et al.: What is Evidence-Based About Myofascial Chains: A systematic Review. ­Archives of Physical Medicine and Rehabilitation, 2016; 97:454-61
  • Wilke J.: Die Bedeutung myofaszialer Ketten für das Bewegungssystem unter besonderer Berücksichtigung des mechanischen Krafttransfers. Inauguraldissertation; Johann Wolfgang Goethe-Universität, Frankfurt am Main, 2016
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Foto: Andrey Popov/AdobeStock_495062320
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