Folgen Sie uns
16. Januar 2018
Redaktion

Die Vorzeit lebt

Von Nike Breyer
Spektakuläre archäologische Funde zeichnen neue Szenarien von der Evolution des Menschen und rücken dabei Europa in den Blickpunkt. Passend dazu probt auch das Kino neue Perspektiven. 
Filmemacher Felix Randau erweckte die Südtiroler Gletschermumie „Ötzi“ für die Leinwand zum Leben und schickt uns auf eine Reise in die Jungsteinzeit. Unsere Vorgeschichte rückt uns näher –
und hält dabei immer wieder Überraschungen bereit.


Menschen,
Foto: PortAuPrincePictures/ Martin_Rattini

Im April 2017 trat ein Forscherteam um die Archäologin Madelaine Böhme vom Senckenberg Centre for Human Evolution mit der Nachricht an die Öffentlichkeit, dass man zwei bekannte Fossilien, einen vor Athen gefundenen Unterkiefer und einen Zahn aus Bulgarien, nach einer Neuanalyse nicht länger einem urzeitlichen Affen zuordne, sondern einer bislang unbekannten Vormenschenart (vgl. Böhme, 2017).

Mit rund 7,2 Millionen Jahren sei dieser Graecopithecus Freybergi, so Böhme, jedoch älter als die bislang älteste bekannte Vormenschenart aus Afrika, der 2002 gefundene, sechs bis sieben Millionen Jahre alte Sahelanthropus. Lebten Vormenschen also schon sehr früh auch im Mittelmeerraum? Womöglich früher als in Afrika? Bislang können wir nur spekulieren, denn Genaueres wissen wir nicht.

Doch kaum hatte sich die Aufregung über diese mögliche neue Topo­grafie unserer Vorgeschichte gelegt, kam die nächste Überraschung. In Trachilos an der Westküste der Insel Kreta stießen Forscher um Per Erik Ahlberg von der Universität Upsala im September 2017 auf 5,7 Millionen Jahre alte versteinerte Fußfährten. Zwei Abdrücke sind besonders gut zu erkennen und zeigen deutlich geradeaus gerichtete Zehen, einen verstärkten Großzeh und eine schmale vertiefte Fersenpartie (vgl. Ahlberg, 2017). Die im Ansatz verblüffend „moderne“ Fußarchitektur könnte damit zu einer bis dato unbekannten Vormenschenart gehören, die bereits habituell auf zwei Beinen lief.

Mit 5,7 Millionen Jahren sind die Spuren rund zwei Millionen Jahre älter als die ältesten bekannten Spuren von zweibeinig laufenden Australopithecinen in Laetoli Afrika. Ein Hinweis darauf, dass vor 5,7 Millionen Jahren, als die Insel Kreta noch mit dem griechischen Festland verbunden war, mutmaßlich be­reits frühe Vormenschen im Mittelmeerraum lebten.

Ähnlich wie „Ardi“ – aber älter

Wie um diese Perspektive weiter zu plausibilisieren, warteten tatsächlich nur­ knapp einen Monat später, Mainzer Forscher mit einem weiteren archäologischen Sensationsfund auf. Ein Grabungs-Team des Naturhistorischen Museums Mainz hatte in den sogenannten Dinotheriumsanden des Ur-Rheins im rheinhessischen Eppelsheim zwei winzige, offenkundig von einem Jungtier stammende fossile Zähne geborgen, die man durch Nachbarfunde im gleichen Sediment auf ein Alter von 9,7 Millionen Jahren datieren konnte. Der Clou: Die Zähne können keiner bekannten Menschenaffenart zugeordnet werden und zeigen stattdessen morphologisch Ähnlichkeiten mit dem 4,4 Millionen Jahre alten Vormenschen „Ardi“ (Ardipithecus ramidus) und der 3,2 Millionen Jahre alten Vormenschin „Lucy“ (Aus­tralopithecus afarensis), die jedoch beide rund 5 Millionen Jahre jünger als das Rheingau-Jungtier sind. Ob diese Arten wie in den anderen Fällen unabhängig voneinander entstanden sind, als Fall einer konvergenten Evolution, oder ob es Verwandschaftsbeziehungen gibt, lässt sich derzeit noch nicht abschätzen.

„Die Arbeit beginnt erst“, betont auch Harald Lutz, Leiter des Forschungsprojekts und stellvertretender Direktor des Mainzer Museums. Betrachtet man die Funde des letzten Halbjahres jedoch zusammen, verdichten sich immerhin die Hinweise, dass die Vorgeschichte des Menschen noch Überraschungen bereithält — sah die Forschung doch bisher ­alle Entwicklung, die zum Menschen führte, bis zur Zeit der ersten Wanderungsbewegung vom Homo erectus vor zwei Millionen Jahren, allein auf dem 
afrikanischen Kontinent.{pborder}

2. Die Original-Ötzi-Schuhe sind im Iceman Museum in Bozen zu sehen (Foto: Iceman Museum Bozen) 2. Die Original-Ötzi-Schuhe sind im IcemanMuseum in Bozen zu sehen (Foto: IcemanMuseum Bozen)
3. Rekonstruktion der Ötzi-Schuhe, Anne Reichert (Foto: Senckenberg Gesellschaft für Naturforschung) 3. Rekonstruktion der Ötzi-Schuhe, AnneReichert (Foto: Senckenberg Gesellschaft fürNaturforschung)
4. Zirka 5500 Jahre alter Schuh, 2002 in der Areni-1- Höhle in Armenien gefunden, archaische Pampootie-Form. (Foto: PLoS ONE 5(6): e10984. https://doi.org/10.1371/journal. pone.0010984) 4 Zirka 5500 Jahre alter Schuh, 2002 in der
Areni-1- Höhle in Armenien gefunden, archaische
Pampootie-Form. (Foto: PLoS ONE 5(6):
e10984. https://doi.org/10.1371/journal.
pone.0010984)
5 Sensationsfund – Per Erik Ahlberg und sein Team entdecken im September 2017 in Trachilos auf Kreta mutmaßlich 5,7 Millionen Jahre alte hominine Fußfährten. Zu sehen: Drei sehr gut erhaltene Abdrücke von surface B2 (a – c), jeder als Foto gezeigt (l.), Laser-Scan der Oberfläche (Mitte), Scan mit Interpretation (r.). a. linker Fuß, b. und c. rechter Fuß. Scale bars, 5 cm. 1 – 5 benennt die Zehen; ba(ll), Ballen-Abdruck; he(el), Fersen-Abdruck. 5 Sensationsfund – Per Erik Ahlberg undsein Team entdecken im September 2017 inTrachilos auf Kreta mutmaßlich 5,7 MillionenJahre alte hominine Fußfährten.Zu sehen: Drei sehr gut erhaltene Abdrückevon surface B2 (a – c), jeder als Foto gezeigt(l.), Laser-Scan der Oberfläche (Mitte), Scanmit Interpretation (r.). a. linker Fuß, b. und c.rechter Fuß. Scale bars, 5 cm. 1 – 5 benenntdie Zehen; ba(ll), Ballen-Abdruck; he(el),Fersen-Abdruck.

Naturgewalten ohne Psychologie

Wiederum nur knapp einen Monat später kam Ende November letzten Jahres gewissermaßen perfekt terminiert „Der Mann aus dem Eis“ in die Kinos und setzte mit Jürgen Vogel in der Rolle des „Ötzi“ die Auseinandersetzung mit unserer Vorgeschichte nur mit anderen Mitteln fort.

Zwar handelt es sich beim Protagonisten dieser Steinzeit-Story um ein eher jüngeres Exemplar unserer Vorfahren, das mit einem Alter von rund 5000 Jahren bereits 25000 Jahre nach dem Aussterben des letzten Konkurrenten von Homo sapiens (Neandertaler, andere archaische Menschenarten) lebte und starb. Zudem liegt der Fund der Gletschermumie selbst bereits über 25 Jahre zurück. Doch Filmemacher Felix Randau gelingt ein Kunststück. Denn er unterhält und lehnt sich bei aller künstlerischen Freiheit des Plots in der Ausgestaltung von Requisite und Akteuren zugleich sehr eng an das an, was die Wissenschaft über diesen Jungsteinzeitmenschen und seine Zeit herausgefunden hat.

„Der Film haucht Ötzi Leben ein und bietet dem Zuschauer einen beeindruckenden und unmittelbaren Blick auf eine Zeit, die lange vergangen scheint und zugleich sehen wir uns gewissermaßen mit unserer eigenen Vergangenheit konfrontiert”, fasst es Albert Zink zusammen, Leiter des Institus für Mumienforschung und den Iceman am EURAC Institut Bozen, das die Gletschermumie seit 1998, als sie aus Innsbruck an Südtirol übergeben wurde, aufbewahrt und seit 2002 unter Zinks Leitung interdisziplinär erforscht (vgl. Zink, 2017). Und so darf sich der Kinobesucher wissenschaftlich geführt auf die Reise in eine Zeit begeben, als das Leben in der Natur vor allem Überleben bedeutete, als Geburt und Tod eng beieinander lagen und sehr unmittelbar erfahren wurden.

Die Handlung präsentiert sich in diesem Umfeld – und im Film — weitgehend frei von vertrauter Psychologie und ähnelt einer Naturgewalt, die sich zusammenbraut, dann entlädt wie ein Gewitter und schließlich weiterzieht. Eine Struktur, die für den Kinobesucher schwer erträglich ist, aber zugleich sehr authentisch wirkt und die Bedeutung dessen erahnen lässt, was wir heute leichthin als Gesellschaftsvertrag bezeichnen. Neben den grandiosen Naturaufnahmen ziehen in diesem Film vor allem die sorgfältig rekonstruierten Artefakte die Aufmerksamkeit auf sich, die wüsten Behausungen, die Werkzeuge und nicht zuletzt die Kleidung der kupferzeitlichen Bergbewohner, die vor 5000 Jahren weitgehend aus Fellen bestand.

Hightech-Schuhwerk der Jungsteinzeit 

Leider kommt die Fußbekleidung im Film kaum in den Fokus – weder in der Handlung, noch der Kamera. Auf die Frage, ob er echte Nachbauten von Ötzis Schuhen getragen habe oder „beklebte Wanderstiefel“, antwortet Ötzi-Darsteller Jürgen Vogel (vgl. Zink) in einem Interview ausweichend. Wegen des fehlenden Profils der Sohle mussten sie, so Vogel, „etwas darunterbauen“, sonst hätte er in den eisigen Höhen nicht selbst drehen können.

Dem einen oder anderen Leser dürften Ötzis Stiefel dennoch ein Begriff sein, da sie nach dem Auffinden der Mumie 1991 in Südtirol nicht nur die Forscher und Konservatoren in Innsbruck (vgl. Reichert, 2005; Egg/Spindler, 2009), 
wohin die Mumie zunächst gelangte, sondern auch unabhängige experimentelle Archäologen zu Rekonstruktionen inspirierten. Relativ schnell wurde dabei klar, dass es sich um kunstvoll gearbeitete Gebilde handelt, die sich von dem nur wenige Jahrhunderte älteren und bis dato ältesten Schuh weltweit deutlich unterscheiden. Letzterer wurde erst 2010 in einer Höhle Armeniens an der Grenze zum heutigen Iran gefunden (vgl. Pinhasi) und ist ähnlich den „Pampooties“ der irischen Aran-Inseln aus einem Stück Leder geschnitten, das mit einem Riemen über dem Spann zusammengezurrt wird. Darin wird die Großzehe kräftig abgewinkelt, wie dies auch nach über 5000 Jahren noch gut sichtbar ist. Mit dem geräumigen Volumen und den vier Materialkomponenten – Sohle aus Bärenfell, Schaft aus Hirschfell, Innenschuhgeflecht aus Birkenbast plus isolierender Einlage aus Heu – ist Ötzis Fußbekleidung deutlich komplexer und dazu biomechanisch funktionell, indem kein direkter Druck auf die Zehen ausgeübt wird. Das scheinen die Füße der Gletschermumie zu bestätigen, deren Zehen keinerlei Ablenkung erkennen lassen.

Moderne Konstruktion — separate Sohle

Die Verarbeitung der Materialien hält allerdings auch Fragen bereit. So gab Petr Hlavacek, 2014 verstorbener tschechischer Schuhforscher aus Zlin, zu bedenken, dass das für die Sohle verwendete Bärenfell nicht besonders haltbar sei und wollte darum einen kultisch-animistischen Hintergrund nicht ausschließen. Auch die Tatsache, dass nicht gewickelt, sondern eine separate Sohle mit zwei Nähten am Schuhoberteil und am Innenschuh befestigt wurde (Abb. 3), wirkt erstaunlich modern.

Wie bei zeitgenössischen Schuhen bestimmte auch vor 5000 Jahren schon die Sohlenbefestigung die ganze Schuh­konstruktion. Dabei bleibt beim Ötzi-
Schuh offen, wie sich die Sohle aus Bären­fell verhielt. Bog sie sich im ­Tragen weich nach oben und formte sie eine Opanken-Optik, wie es Egg und Ciolek nahelegen (Egg/ Goedecker-
Ciolek, 2009)? Oder versteifte das Bärenfell im Wasserkontakt, so wie es heute noch bei alaungegerbten Fellen der Fall ist, und verformte sich nur leicht konkav, wie es Reichert vermutet? Damit würde die Bärenfellsohle einem Schneeschuh ähneln, auf dem das Oberteil gewissermaßen aufsitzt. Komplexer als das Pampootie-Prinzip, bei dem ein Stück Fell oder Leder den Fuß selbstformend umhüllt, ist diese Konstruktion so oder so. Zumal durch die beiden Nähte und das Bastgeflecht auch noch Raum für eine isolierende Heuschicht geschaffen wurde, wie es heute der Thermoschaum bei Moonboots leistet. Weitere geringfügige Differenzen der Expertenmeinungen betreffen den Schnitt des Oberleders. Während Hlavacek, Egg und Goedecker-
Ciolek aus dem erhaltenen Material rückschließen, dass nur der Vorfuß mit Fell bedeckt war und die Ferse nur durch das Bastgeflecht gehalten wurde, geht Reichert von einem rundum geschlossenen Fellschuh aus. Ob diese komplexe Konstruktion Ausdruck einer entwickelten jungsteinzeitlichen Kultur ist oder ob die darin steckende praktische Vernunft diese Kultur eher anschob, werden uns – wenn das neue Tempo beibehalten wird – hoffentlich bald weitere Forschungen eröffnen.

Anschrift der Verfasserin:
Nike Breyer
Leopold-Lucas-Straße 73
35037 Marburg

Ausgabe 01 / 2018

Artikel als PDF herunterladen

Herunterladen

Bilder aus dem Artikel:

Foto: Andrey Popov/Adobe Stock
Schuhsohle
Zurück
Speichern
Nach oben