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5. September 2017
Annette Switala
Abschied von Prof. Gert-Peter Brüggemann

Die biologische Antwort auf mechanische Reize verstehen

„Es war eine spannende Reise“ – so fasste Prof. Gert-Peter Brüggemann bei seiner Abschiedsvorlesung am 11. Juli 2017 34 Jahre Forschung und Lehre an der Deutschen Sporthochschule Köln zusammen. ­Pointiert beleuchtete er die für ihn faszinierendsten Erkenntnisse der Biomechanik und die wichtigsten ­Arbeiten seines Forschungsteams aus dieser Zeit.
Prof.
Foto: Brüggemann
Prof. Gert-Peter Brüggemann begleitete unsere Zeitschrift mit wertvollen Beiträgen und seinem fachlichen Rat. Bei unseren eintägigen Seminaren im Anschluss an die Messe ORTHOPÄDIE SCHUH TECHNIK öffnete er die Tore zu seinem Forschungslabor und begeisterte die Teilnehmer für biomechanische Fragestellungen.

Rund 350 Zuhörer hatten sich im großen Hörsaal der Hochschule eingefunden, darunter Wegbegleiter, Freunde, Hochschulangehörige und Studierende. Brüggemanns Rückblick auf seinen Berufsweg war zugleich ein Parforceritt durch wichtige Erkenntnisse der biomechanischen Forschung aus dreieinhalb Jahrzehnten.

Wegbereiter

Drei große Forscher aus der Biomechanik seien es gewesen, die ihn besonders beeinflusst hätten, sagte Brüggemann im Rückblick auf seine Laufbahn. In den 80er-Jahren faszinierte ihn, wie James G. Hay erstmals die Bewegungen einzelner Sportarten aus biomechanischer Sicht strukturierte und ihre Leistungsdeterminanten analysierte.

Ebenfalls wichtig für seine eigene Forschung sollten die Untersuchungen Vladimir Zatziorskis vom Institut für Biomechanik in Moskau werden. Mit Röntgen­scan­nern erfasste dieser gesunde, athletische Menschen mit Schnitten von nur zwei Millimetern und konnte ganz neue Erkenntnisse über die Eigenschaften des menschlichen Körpers, insbesondere über seine Dichte, Massen­verteilung und Trägheitsmomente, gewinnen. „Vorher hatte die Forschung nur Daten von 15 Leichen, jetzt standen plötzlich Daten von hundert gesunden, lebenden Körpern zur Verfügung! Das hat die biomechanische Welt verändert“, betonte Brüggemann.

1981 lernte er Benno Nigg kennen, der erstmals auf einem Symposium in Heidelberg das heute so bekannte Schema präsentierte, das die vertikale Bodenreaktionskraft beim Laufen in unterschiedlichen Geschwindigkeiten abbildete – und das Funktionen in umgekehrter U-Form zeigte. Schon damals erklärte Nigg, dass sich die Werte bei verschiedenen Menschen unterscheiden und dass Belas­tung sowohl positive als auch negative Wirkungen auf den Körper haben kann. Benno Nigg war es auch, der Prof. Brüggemann entscheidend darin bestärkte, 2004 den Ruf in das heutige Institut für Biomechanik und Ortho­pädie an der Deutschen Sporthochschule Köln anzunehmen.

Spitzensport als Fundgrube neuer Forschungsfragen

„In den ersten Jahren stand die Biomechanik einzelner Sportarten im Mittelpunkt unserer Forschungen“, erinnerte sich Brüggemann an seine ersten Jahre an der Deutschen Sporthochschule. „Es ging um das Beschreiben, das Erklären und Verstehen, aber auch das Prognostizieren von sportlichen Leistungen.“

Der Zugang zu zahlreichen Olympischen Spielen und Weltmeisterschaften und die Kontakte zum IOC und zum Internationalen Turnerverband verschafften den Kölner Forschern phantastische Möglichkeiten. Ungeheuer stolz sei man gewesen auf die ersten Videobilder aus Seoul, aber auch erschüttert, welche Belastungen bei den einzelnen Sportarten auftraten. Bei der Leichtathletik-Weltmeisterschaft in Helsinki konnte Brüggemanns Team 2005 das Stadion im Hochsprungbereich mit Kraftmessplatten ausstatten und erstmals die Reaktionskräfte messen, die unter Höchstleistung der Athleten auftraten. Auf dieser Grundlage war es möglich, die Energiebilanz am Athleten und am Stab zu bestimmen. „Wir konnten so erstmals  die Interaktion zwischen Mensch und Technik, hier zwischen Mensch und Stab, analysieren“, so Prof. Brüggemann.

Aus den Messungen bei internationalen Wettkämpfen ergaben sich immer wieder neue Forschungsfragen, etwa als Carl Lewis und Mike Powell 1991 bei der Leichtathletik-Weltmeisterschaft in Tokio mit völlig unterschiedlichen Anlauf- und Sprungtechniken den bis dahin geltenden Weltrekord im Weitsprung brachen. Brüggemann war zu diesem Zeitpunkt schon in das Institut für Biomechanik und Orthopädie berufen worden, das in der 10. Etage in einem Gebäude auf dem Campus neu eingerichtet worden war. In dem hervorragend ausgestatteten Labor verschob sich der Blick seiner biomechanischen Forschung hin zu der Frage, wie der Körper, das Gewebe, auf mechanische Reize reagiert – oder, wie Brüggemann es gerne ausdrückt: wie die biologische Antwort auf die mechanische Belastung aussieht.

Die Achillessehne im Fokus

Mit diesem Blick wandte man sich der in Helsinki aufgetretenen Frage zu, wie mit verschiedenen Sprungtechniken die gleiche Höchstleistung erzielt werden konnte – der eine Läufer lief langsam an und hatte eine längere Bodenkontaktzeit, der andere lief schnell und mit kurzer Bodenkontaktzeit an und verlor mehr Energie in Bezug auf den Körperschwerpunkt.

Es gibt „Power Jumper“ und „Speed Jumper“, fand man in darauf folgenden Studien heraus, und der Unterschied zwischen beiden liegt in der Beschaffenheit der Achillessehne. Der „Speed Jumper“, erkannte man, hat sehr lange Muskelfasern, eine kürzere Sehnenlänge und eine sehr hohe Steifigkeit der Sehne. Der „Power Jumper“ dagegen hat kürzere Muskelfasern, eine längere Sehne und eine geringe Sehnensteifigkeit. „Die beiden müssen unterschiedlich springen, weil sie unterschiedliches Material zur Verfügung haben“, erklärte Brüggemann.

Heute sei man in der Biomechanik dahin gekommen, dass man nicht mehr technische Normen definiere, sondern das individuelle Potenzial eines Menschen analysiere und daraus ableite, wie er sich am besten verhalten sollte. „Es geht also um die optimale Nutzung des biologischen Potenzials“, brachte es Prof. Brüggemann auf den Punkt. Hierzu passe beispielsweise die Erkenntnis, dass kenianische Läufer wesentlich längere Sehnen des medialen M. gastrocnemius haben und weitaus mehr Kollagen, um Energie darin zu speichern.

Bei weiteren Untersuchungen zur Achillessehne stellten die Kölner Forscher fest, dass – anders als man dachte – nicht die Achillessehne der wesentliche Motor ist, der das Sprunggelenk antreibt. „Wenn man genau hinschaut, erkennt man, dass es noch andere Muskeln sind, die an der Plantarflexion beteiligt sind“, erklärte Brüggemann. Nur rund 75 Prozent des Plantarflexionsmoments übernähmen der M. soleus und der M. gastrocnemius, weshalb die Schrittabwicklung nach einer Achillessehnenruptur durchaus noch möglich sei.

In Zusammenarbeit mit anderen Forschungszentren analysierten die Kölner die Struktur der Achillessehne und stellten fest, dass sie wie ein starkes Tau in sich verwrungen ist. Dabei bringt der M. soleus weitaus mehr Kraft auf als die beiden Gastrocnemii. Die Torsion und Asymmetrie der Sehne führt zu einer unterschiedlichen Spannung in verschiedenen Sehnenabschnitten. Wie das For­schungs­team erkannte, könne dies auch der Grund für mögliche Unfälle und Verletzungen der Sehne sein, etwa, wenn man beim Joggen in ein Loch tritt. „Das haben wir vor 12 Jahren publiziert, aber erst heute wird es so langsam akzeptiert“, sagte Brüggemann.

Im Übrigen habe man erkannt, dass das Zusammenspiel von Muskel und Sehne wie ein hybrides Getriebe funktioniert: Das kontraktive Element des Muskels gibt im Dehnungs-Verkürzungzyklus Energie an die Sehne ab, die diese Energie zwischenspeichert und wieder abgibt und den Muskel dadurch in die Lage versetzt, eine höhere Kraft aufzubringen.

Die Kölner Arbeitsgruppe um Arampatzis fand in Studien heraus, dass Sprinter im Vergleich zu untrainierten Menschen eine weitaus steifere Achillessehne haben. Hier stellte sich den Forschern die Frage, ob die Sehnen durch das regelmäßige Training steifer werden oder ob die Läufer von Natur aus steifere Sehnen haben. In einer ihrer Studien stellte sich heraus, dass schon ein 14-wöchiges isometrisches Training die Sehne viel steifer werden lässt, so dass sie mehr Kraft übertragen kann. „Das ist eine gute Nachricht: Wir können unsere Sehnen trainieren und unseren Körper tunen“, resümierte Brüggemann.

Lässt sich Knorpel aufbauen?

Wie das Gewebe auf mechanische Belas­tung antwortet, untersuchte Brüggemanns Team auch in Bezug auf den Knorpel. In Studien fand man heraus, dass bei Knorpelschädigung durch starke, stoßartige Belastung nicht die Kollagene zerstört werden, sondern dass das Matrixprotein COMP, das für die mechanische Steifigkeit des Knorpels sorgt, bei stärkerer Belastung stark ansteigt. Zu Knorpelzerstörung kommt es erst ab einem bestimmten Wert der Belastung – hier fanden die Kölner Forscher heraus, dass ab einer Belastung von 250 Newton ein erhöhter Zelltod eintritt.

Im Volumen unterscheidet sich Knorpel bei Sportlern und Nichtsportlern nicht, fand man weiter heraus. Vielmehr habe man in eigenen Studien herausgefunden, dass der Knorpel seine Material­eigenschaften an Belastungen an­passt, indem er bei Belastungen durchlässiger wird, so dass Wasser austreten kann. „Knorpel scheint sich bei Belastungen nicht zu maximieren, sondern zu optimieren“, resümierte Brüggemann. Allerdings konnte sein Team auch zeigen, dass sich das Knorpelvolumen verschieben kann, wenn Belastungen an Stellen auftreten, die sonst unbelastet sind – an diesen kommt es zu einer Zunahme der Knorpeldicke.

Unter Verweis auf aktuelle Forschungsarbeiten an seinem Institut meinte der scheidende Universitätsprofessor, dass man in Zukunft nicht mehr die Kollagene anschauen werde, wenn es um das Verständnis der mechanischen Eigenschaften des Knorpels geht, sondern sogenannte perifibulären Adapterproteine, die zwischen den Kollagenfasern für die mechanische Steifigkeit und Festigkeit des Gewebes sorgen.

Technik für den Menschen

Die Wirkung von Orthesen und Prothesen auf die Biomechanik war ein weiterer Schwerpunkt von Brüggemanns Arbeit. Am Beispiel des unterschenkelamputierten Sportlers Oskar Pistorius, dessen Fall umstritten war, zeigte er auf, dass Prothesen die Leistung von Spitzensportlern enorm verbessern können. Beim Laufen mit Prothese zeige sich ein wesentlich geringerer Energieverlust als beim Laufen mit intaktem Sprunggelenk, außerdem hätten Prothesen deutlich weniger Masse und Trägheitsmomente.

Brüggemann warnte davor, dass Technologie im Spitzensport auch gefährlich sein könne, etwa, wenn der Körper nicht richtig auf der „Feder“ des Hilfsmittels platziert sei, wie es bei dem Wetten-dass-Unfall von Samuel Koch der Fall war.

„Technologie hat jedoch Potenzial“, betonte Brüggemann, „und dann ist sie es wert, beforscht zu werden.“ Etwa, wenn es gelinge, durch Orthesen das externe Knie-Adduktionsmoment zu reduzieren, so dass Menschen wieder beschwerdefrei laufen können. „Wir sollten Technologie nicht um der Technologie willen betreiben und nicht mit dem Ziel, den Menschen zu ersetzen. Sondern wir sollten Technologie entwickeln, die dem Menschen hilft und seine Funktionen erhält“, gab er dem Publikum auf den Weg mit.

Prof. Brüggemanns Dank galt seinen vielen „Reisebegleitern“, insbesondere seinem, wie er sagte, hervorragenden Team am Institut für Biomechanik und Orthopädie. Das Publikum würdigte seine Verdienste mit lang anhaltenden stehenden Ovationen.

Artikel aus Orthopädieschuhtechnik 09/2017

 

Foto: Andrey Popov/Adobe Stock
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