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29. Juli 2016
Redaktion

Dem Schmerz auf der Spur

Meist ist es der Schmerz, der die Patienten zum Arzt und zum Orthopädieschuhmacher führt. Wie gut die Therapie gelingt, hängt in hohem Maß davon ab, wie genau man die eigentliche Schmerzursache erkennt. Erst daraus ergibt sich die Auswahl und die individuelle Ausarbeitung des Hilfsmittels. An diesem Punkt setzt der Partnerverbund Ietec mit seinem Biopathotec-Konzept an.
Von Wolfgang Best


Der auf den ersten Blick etwas sperrig wirkende Begriff „Biopathotec“setzt sich aus den Begriffen „Biologie“, „Pathomechanismus“ und „Technologie“ zusammen. Dahinter verbirgt sich der Anspruch, alle Bereiche in der Versorgung zusammenzuführen. „Ich muss zum einen wissen, woher der Schmerz kommt, und zum anderen, warum ich eine bestimmte Versorgungstechnik wähle“, erläutert Ietec-Gründer Jürgen Stumpf den Anspruch des Konzeptes. Vor einer Versorgung wird also nicht nur Maß genommen, sondern am Anfang steht immer eine ausführliche Anamnese, Befundung und Analyse.
Dabei wird zunächst der Patient ausführlich zu seinen Schmerzsymptomen befragt. Danach folgt eine funktionelle Untersuchung, um die Beschwerden einstufen zu können. „Dazu stehen uns eine ganze Reihe von Tests zur Verfügung“, sagt Sportwissenschaftler Marcel Hardung, der bei Ietec Projektleiter für das Konzept ist. Grundlage ist immer ein Basistest zur Fußfunktion, der je nach den Beschwerden um indikationsbezogene Tests erweitert werden kann, wie zum Beispiel aktive und passive Funk­tionstests, Muskelfunktionstests oder Tests am Knie oder an der Hüfte. Diese Tests werden durch eine 2-D ­Videoanalyse und eine Druckverteilungsmessung ergänzt.

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„Sportversorgung“ für den Alltag
Wer sich hier an die Sportlerversorgung erinnert fühlt, liegt nicht ganz falsch. „Es ist eine Sportanalyse für die Alltagsversorgung“, erklärt Marcel Hardung. Allerdings sieht er beim Biopathotec-Konzept den Schwerpunkt der Befundung noch stärker bei den Funktionstests.
Dies liegt unter anderem in der Geschichte des Konzeptes begründet, das auf den polnischen Arzt Prof. Andrzej Seyfried zurückgeht. Mit ihm zusammen hatte Ietec vor etwa 15 Jahren begonnen, ein biomechanisch orientiertes Versorgungskonzept für Rheumapatienten zu entwickeln. „Seyfrieds Konzept war aber nie auf Rheuma beschränkt! Im Herzen war er Biomechaniker“, erinnert sich Stumpf an den 2009 verstorbenen Mediziner. Er sei eng mit Adalbert Kapandji befreundet gewesen, der die Standardwerke zur funktionellen Anatomie der Gelenke verfasst hat. Seyfried selber habe ein überdimensionales mechanisches Modell der Hand gebaut, an dem man deren Biomechanik studieren konnte.
Beim Fuß habe Seyfried nicht nur die Biomechanik, sondern vor allem die Pathomechanik interessiert. Wie entstehen Überlastungen und Schmerzen und wie kann man sie mit einem biomechanisch fundierten Konzept therapieren?  Für die Befundung und die Analyse standen ihm damals keine modernen Messtechniken zur Verfügung. Umso bedeutsamer war das Erkennen der biomechanischen Schmerzursachen aufgrund der Untersuchung und der Kenntnis der biomecha­nischen Zusammenhänge an Fuß und Bein. Wo gibt es Fehlstellungen und Fehlbelas­tungen, wo fehlt es an der Kraft oder der muskulären Steuerung – und wie wirkt sich das auf die Bewegung und die Entstehung von Schmerzen aus? Und nicht zu vergessen: Wie wirken sich Schmerzen auf die Bewegung aus?
„Der Fuß ist ein sensorisches Organ“, so Jürgen Stumpf, „und Schmerz ist ein schlimmes sensorisches Signal“. Dieses führe zu Kompensationsbewegungen, mit dem Ziel, Schmerzen zu vermeiden.

Schmerztherapie durch ­veränderte Belastung
In der Therapie setzte Seyfried bei Bodenreaktionskräften an, die bei jedem Auftritt mit dem Fuß unweigerlich entstehen. Er fragte: Wie muss ich meine Einlage, Orthese oder den Schuh bauen, damit die Biomechanik des Fußes positiv verändert wird?
„Wenn wir die Bodenreaktionskräfte verändern, ändern wir auch die Belas­tungen an den Gelenken, Sehnen, Muskeln und Faszien“, erläutert Jürgen Stumpf. „Wir können Teile des Fußes entlasten, anderen Fußregionen, wie zum Beispiel dem ersten Strahl, die richtige Belastung ermöglichen und die Bewegungssteuerung durch unsere Hilfsmittel verbessern.“
„Seyfried hat sehr gerne mit Rheumapatienten gearbeitet, weil man von ihnen sofort eine Rückmeldung erhält, ob eine Versorgung funktioniert und die Schmerzen lindert“, erklärt Jürgen Stumpf, ­warum man Seyfried heute meist mit der Rheumaversorgung in Verbindung bringt. Das „Biopathotec“-Konzept enthält zwar Elemente des „Rheumatec“-Konzeptes, das Ietec mit Seyfried entwickelt hatte, ist aber keineswegs auf die Rheumaversorgung beschränkt, wie Jürgen Stumpf betont. Es sei ein Konzept zur Schmerztherapie, das bei einer Vielzahl von Indikationen angewendet werden könne.
Aus diesem Grund sähen die Einlagen auch immer ganz anders aus, erklärt Marcel Hardung. Standardeinlagen mit Pelotte und Längsgewölbestütze gebe es in diesem Konzept nicht. Je nach Indikation und Problem werde eine individuelle, biomechanisch wirkende Einlage gebaut. Deshalb, so Hardung, sei die Befundung so wichtig. Nach dem Konzept von Seyfried ist dabei nicht nur die Beweglichkeit der Gelenke entscheidend, sondern ihre Funktion in der realen Belas­tungssituation. So wird zum Beispiel die Beweglichkeit der Hüfte immer im Stehen untersucht. „Wir wollen auch die Kompensationsmechanismen unter Belas­tung betrachten“, erklärt Hardung.
„Es geht immer darum, die Ursache für das Problem zu finden“, ergänzt Jürgen Stumpf. „Wenn man versteht, wie der Hallux valgus bei einem Patienten entstanden ist, dann überlegt man sich andere Maßnahmen als nur eine Spreizfußpelotte zu setzen.“
„Die Kunst“, so Hardung, „besteht in der Interpretation der Funktionstests“. Wer die Befundung mit der Biomechanik zu verbinden versteht, könne oft schon voraussagen, was man in der Druckverteilungsmessung oder der Videoanalyse sehen wird. Die Analysetechniken seien dennoch wesentlich für das Konzept. So gebe die Videoanalyse Aufschluss für die Beurteilung der Beinachsen in der Bewegung und die Druckverteilungsmessung gebe wichtige Hinweise auf die Belas­tung unter dem Fuß.
Vor der endgültigen Einlagenversorgung wird für jeden Patienten eine ­Probeeinlage gefertigt, mit der die Wirksamkeit  der Therapiestrategie überprüft wird. Ein Probierkoffer mit über 100 Einlagenelementen bietet hierzu die nötigen Variationsmöglichkeiten. Erst wenn diese Versorgung funktioniert, wird die Einlage auf der Grundlage eines Fuß­scans und eines Schaumabdrucks gefertigt.

Konzept für aktive Menschen mit Bereitschaft zur Eigenleistung
Das Biopathotec steht den Ietec-Partnern zur Verfügung. Diese müssen vor dem Einsatz im Betrieb zunächst einige Schulungen absolvieren. Darin lernen sie den Einsatz der Untersuchungstechniken und den Transfer vom Befund und der biomechanischen Analyse zum schmerzreduzierenden Hilfsmittel. Etwa 30 Partner, so Jürgen Stumpf, setzen das Konzept bereits ein.
Vom Sachleistungsprinzip der gesetzlichen Krankenversicherung sind die im Konzept enthaltenen Leistungen nicht gedeckt. Ähnlich wie bei der Sportversorgung ist auch hier die Bereitschaft zur Eigenleistung bei den Patienten gefragt. „Wir richten uns mit dem Konzept an aktive Menschen, die schmerzfrei mobil sein wollen“, erläutert Jürgen Stumpf, „gezielt auch an jene, die eine Operation vermeiden wollen und eine wirksame konservative Versorgung suchen“. Dass es sich hier um anspruchsvolle und kritische Kunden handelt, ist Stumpf durchaus bewusst: „Die Menschen, die zu uns kommen, haben oft schon eine Schmerzkarriere hinter sich und hatten vielleicht auch schon Einlagen, die nicht wirkten“. Hier gehe es also auch um einen Schmerzbewältigungsprozess, der ohne die Mitarbeit des Patienten nicht gelingen könne.
„Wir nehmen den Patienten mit in die Verantwortung“, erklärt Marcel Hardung einen wichtigen Teil des Konzeptes. Auf der Basis der Befundung und der Analysen erhält der Patient auch individuelle Trainingsempfehlungen mit denen er die Hilfsmitteltherapie unterstützen kann. Ganz zu Beginn werden mit den Patienten Zielvereinbarungen getroffen. Was wünscht sich der Patient? Was soll und kann durch die Therapie erreicht werden? Ein erstes Ziel kann die Erhöhung des Aktivitätsumfangs und die Verlängerung der schmerzfrei zurückgelegten Gehstrecke sein. Der Schmerz ist dann vielleicht nicht ganz weg, aber die Teilhabe am sozialen Leben wird dadurch gesteigert.

Ausgabe 4/2016

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Foto: Andrey Popov/AdobeStock_495062320
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