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19. Juni 2020
Redaktion

Das Allgäu als Hotspot der Evolution

NIKE U. BREYER

 

Der aufrechte Gang – und damit der Mensch – entwickelte sich in Afrika. So lautete über viele ­Jahrzehnte die Lehrmeinung. Doch neuere Funde von fossilen Knochen in Süddeutschland und in der ­Mittelmeerregion deuten darauf hin, dass jenseits des afrikanischen Kontinents schon Millionen ­Jahre früher anatomische Anpassungen im Skelett von archaischen Menschenaffen sich die Mensch­werdung anbahnte.

Wohl nur wenige Themen rund um den Körper dürften so spannend sein wie die Erforschung des aufrechten Gangs beim Menschen. Das meint zum einen die Ergebnisse aus immer präziseren Ganganalysen, die gerade in den letzten Jahren riesige technische Fortschritte gemacht und auch entsprechende Produktentwicklungen hervorgebracht haben – von intelligenten Schuhkonzepten bis zur innovativen Prothesenversorgung. Es meint aber auch die Beschäftigung mit seiner Entstehung im Prozess der Evolution. So machte etwa der Gewinn der Freihändigkeit vor Jahrmillionen den Werkzeuggebrauch auch in der Bewegung möglich. Was wiederum – ebenfalls durch Selektionsdruck – die Entwicklung kognitiver Fähigkeiten wie Koordination und Zeitgefühl beförderte und die Hände feinmotorischer und das Gehirn größer werden ließ. Auch die funktionelle Umgestaltung der für den aufrechten Gang erforderlichen Gliedmaßen, allen voran unsere Füße und unsere Wirbelsäule, ist ein Kapitel des Evolutionsgeschehens, das jede Aufmerksamkeit verdient – und last but not least zu folgenden Fragen führt: Wann und wo haben sich unsere Vorfahren eigentlich aufgerichtet? Und warum haben sie es überhaupt getan? {pborder}

 Der Großzehenknochen von Udo, dem männlichen Danuvius guggenmosi-Exemplar, ist noch leicht gebogen. Dies ist für Kletterfüße typisch. Die weißen Knochen sind rekonstruiert. Foto: Universität TübingenLernen aus der Evolution
Diese Fragen beschäftigen die Archäologen und Vertreter verschiedener Paläo-Forschungsrichtungen, von der Paläoanthropologie bis zur Paläogenetik mit zunehmender Intensität – nicht aus typisch menschlicher Neugierde allein, sondern auch, weil man sich hilfreiche Erkenntnisse beim Bewältigen von Problemen der Gegenwart verspricht. An diesem Punkt setzt etwa der US-Evolutionsbiologe Daniel Lieberman an, der manchem Leser auch als Vorfußlauf-Pionier bekannt sein dürfte. In seinem zu Recht viel gelobten Buch „Unser Körper. Geschichte. Gegenwart. Zukunft“ (OST 1/2016) propagierte er schon vor einiger Zeit, den grassierenden Zivilisationskrankheiten (Herz-Kreislaufschwäche, Übergewicht, Diabetes 2 etc.) durch ein evolutionsgerechteres Verhalten (mehr Bewegung, weniger industriell verarbeitete Nahrungsmittel) zu Leibe zu rücken und so dysevolutionäre Prozesse rückabzuwickeln, die uns anfällig und auf die Dauer krank machen. Wie recht Lieberman mit seinem Lebensreform-Konzept haben könnte, wird auch in der aktuellen Corona-Krise deutlich. Ohne den anatomischen Flurschaden der genannten Dysevolution könnte unser Immunsystem um einiges effizienter arbeiten – nicht nur, aber auch in der Abwehr neuartiger Infektionskrankheiten. Aber auch die klassische Archäologie hält Überraschungen bereit, und faszinierende Fossilfunde rund um den Globus haben die Forschung in den letzten Jahrzehnten ebenso beflügelt wie herausgefordert und machen ein ständiges, wenn auch unbeliebtes Umdenken unumgänglich.
Das Skelett von Danuvius guggenmosi wird rekonstruiert – ein Ausschnitt. Foto: Universität TübingenZähne und Spuren im Sand – alles anders als gedacht
Zwei entscheidende Funde und Entdeckungen, die einen solchen Durchbruch zu neuen Perspektiven und damit einen wissenschaftlichen Paradigmenwechsel von der Out-of-Africa-Theorie hin zu einem Evolutions-Labor-Europa-Blickwinkel nahelegten, liegen inzwischen drei Jahre zurück. Es war im Frühjahr 2017, als ein Forscherteam um Prof. Dr. Madelaine Böhme vom Senckenberg Zentrum für Humanevolution und Paläoumwelt an der Universität Tübingen, einen 7,2 Millionen Jahre alten Unterkiefer aus Griechenland neu bewertete (Fuss et al. 2017). El Greco, so der Name des dazugehörigen prähistorischen Individuums, wurde bis dahin von der Forschung dem Formenkreis archaischer Menschenaffen zugerechnet, bevor Böhme und ihr Team ihn bei einer Neusichtung aufgrund seiner „verschmolzenen“ Zahnwurzeln als potentiellen Kandidaten für eine neue Vormenschenart Graecopithecus Freybergi in Vorschlag brachten. Das sorgte für Begeisterung, aber auch Irritation in der internationalen Forschergemeinde, rüttelte es doch gängige Vorstellungen vom Verlauf der Evolution des Menschen mit einem „Abonnement“ auf den afrikanischen Kontinent durcheinander. Denn basierend auf dem 1974 gefundenen Skelett der legendären Lucy einer ca. 3,2 Millionen Jahre alten Dame der Spezies Australopithecus afarensis, ging man über Jahrzehnte davon aus, dass alle wesentlichen Entwicklungsschritte vom Vormenschen zur Homo-Gattung in Afrika stattgefunden hätten, bevor der archaische Frühmensch Homo erectus kurz nach seiner Entstehung vor etwas mehr als 2 Millionen Jahren in einer ersten Wanderungswelle den afrikanischen Kontinent aus welchen Gründen auch immer verlassen habe und in die weite Welt aufgebrochen sei. Aber wie passt hier ein Vormensch ins Bild, der schon vor 5,7 Millionen Jahren in Griechenland auf zwei Beinen und Füßen unterwegs war? Wie das?
Aufgerichtet mit weitgehend geradem Rücken und durchgedrückten Knien, die Füße noch zum Greifen gestaltet, ohne Gewölbe und mit langen Zehen und opponierbarem Großzeh. So könnte ein männlicher ­Danuvius guggenmosi ausgesehen haben. Foto: Universität TübingenÄltester Nachweis von Zweibeinigkeit auf Kreta
Schon wenige Monate nach Böhmes El Greco-Publikation kam in der Zeitschrift Proceedings of the Geologist‘s Association PGA, die im renommierten Wissenschaftsverlag Elsevier erscheint, im Oktober 2017 eine weitere Studie heraus (Gierlińskiacj, Gerard D. et al., 2017), die erneut weltweites Aufsehen erregte. Darin beschreibt ein Forscher-Team um den Paläontologen und Wirbeltierexperten Per Erik Ahlberg von der Universität Upsala fossile Spuren am Strand von Trachilos in Kreta, die das Team als 5,7 Millionen Jahre alte Fußspuren aufrecht gehender Individuen identifizierte. Sollte es sich nicht um einen seltenen Fall von konvergenter Evolution (Homoplasie) handeln, bei der sich vergleichbare Formen durch Evolutionsdruck, aber ohne Artverwandschaft parallel entwickeln, wären die Trachilos-Spuren ein weiterer Hinweis dafür, dass Europa um diese Zeit evolutionstechnisch günstigere Bedingungen bot als Afrika, und sich hier Vormenschen auf zwei Beinen bewegten, wofür in Afrika im gleichen Zeitfenster jeder Hinweis fehlt. Die bis zum Fund von Trachilos weltweit ältesten Fußspuren in der Vulkanasche von Laetoli, Äthiopien, deren Erzeuger wie Lucy der Vormenschenart Australopithecus afarensis zugeordnet werden, sind 3,6 Millionen Jahre alt und damit 2,3 Millionen Jahre jünger als die kretischen Spuren. 
Human tracks
Zum Forscherteam um Ahlberg, das die Trachilos-Spuren erforscht hat, gehörte 2017 auch Matthew R. Bennett, Professor an der Bournemouth Universität England. Bennett ist Experte für die Vermessung prähistorischer Fußspuren und hatte 2009 schon die 1,5 Millionen Jahre „jungen“ Spuren in Illeret Kenia als die Fußabdrücke eines frühen Homo erectus mit voll adduzierter Großzehe, schmaler Ferse und erkennbarem Gewölbe identifiziert. Eine in der Struktur vergleichbare Fußarchitektur und Bewegungsabwickelung konnte nun auch bei den 4 Millionen Jahre älteren Abdrücken in Trachilos, Kreta gemessen werden, so wie zuvor auch schon bei den Spuren in Laetoli, Äthiopien. Wobei die ältere Laetoli-Spur faktisch noch einen Plattfuß abbildet, der noch kein definiertes Gewölbe ausgebildet hat, wie es für Homo-Vertreter spezifisch ist.  Das ergab die morphometrische Analyse der genannten Spuren, deren Druckverteilung inzwischen durch avancierte Bildgebungsverfahren auch anschaulich visualisiert werden kann. Für ein solch differenziertes Erfassen fossiler Spuren hat Bennett mit der Bournemouth Universität die DigTrace-Software entwickelt (www.digTrace.co.uk), die nicht nur in der Archäologie, sondern inzwischen auch in der modernen Verbrechensaufklärung der Kriminalpolizei zum Einsatz kommt.
Der Fuß – grandiose Errungenschaft der Evolution
Auf der Konferenz Prehistoric Human tracks, auf der sich fünf Monate vor Erscheinen des PGA-Trachilos-Artikels die weltweit führenden archäologischen Spuren-Experten für drei Tage im Mai 2017 im Neanderthal Museum Mettmann trafen, um ihre aktuellen Forschungen zu präsentieren, berichtete zum Thema Methoden neben David Raichlen aus Tucson/Arizona, der sein biomechanisches Labor (Abb. 5) vorstellte, auch Prof. Bennett über seine Arbeit und Methodik. Dabei sprach er sich auch ungewöhnlich nachdrücklich für eine konsequent apparategestützte Spurenanalyse und gegen ungesicherte Erfahrungspraktiken aus (siehe OST-Bericht 7-8/2017, 9/2017). Zugleich strich er die eindrucksvolle Tatsache heraus, dass der 3,4 Millionen Jahre alte Fußabdruck von Laetoli und der 1,5 Millionen Jahre alte Fußabdruck von Illeret trotz 2 Millionen Jahren Altersunterschied im Wesentlichen die gleiche Struktur aufwiesen. Hier haben, so Bennett, Fußform und Fußfunktion offenbar sehr früh zu einem stabilen Gleichgewicht gefunden. Wodurch der Selektionsdruck für weitergehende Anpassungen entfiel. Daraus wird die perfekte Funktionalität unseres modernen Fußes ersichtlich, die durch die Fußabdrücke aus Trachilos, die bei fast gleichem Aussehen nochmals 2,3 Millionen Jahre älter als die Laetoli-Spuren sind, sogar noch weitergehend bestätigt wird. Unser Fuß erweist sich so einmal mehr als grandiose evolutionäre Errungenschaft, dessen Gesunderhalt jedem vernunftbegabten Zeitgenossen ein zentrales Anliegen sein sollte. 
Belastungsdiagramm von Fußspuren im Vergleich. Oben: Homo sapiens (Gegenwart) Mitte: experimentell gestellter Gang mit gebeugten Knien/Hüfte, wie er situativ bei Schimpansen vorkommt und mutmaßlich bei prähistorischen Primaten vor vollendeter Aufrichtung. Unten: Australopithecus afarensis, Laetoli S G (3,6 Mio. Jahre), Äthiopien. Quelle: Raichlen, D.A. et al.: Laetoli Footprints Preserve Earliest Direct Evidence of Human-Like Bipedal Biomechanics, PLOS One 2010.S-förmige Wirbelsäule plus Greiffüße 
Nun ist im November 2019 Prof. Madelaine Böhme mit ihrem Team erneut mit einem Fund an die Öffentlichkeit getreten, der das Zeug zu einer neuen Sensation hat. In einer Tongrube bei Pforzen im Allgäu entdeckten Böhme und ein Doktorand von ihr im Mai 2016 einen fossilen Unterkiefer, den sie einem Menschenaffen zuordnen konnten.  Weitere Grabungen folgten, bei denen sie mit einem Team freiwilliger  Helfer in den Jahren 2017 und 2018 in jeweils dreimonatigen Grabungskampagnen rund 5000 Knochen ausgestorbener Wirbeltiere bergen konnten, von Fischen, Schlangen, Vögeln, einem Nashorn und einem Elefant. Doch das Highlight waren 36 Knochen einer unbekannten Menschenaffenart, die – ein echter Glücksfall – zudem „ungewöhnlich gut erhalten sind“ (Böhme). Diese ließen sich drei Individuen einer Menschenaffenart zuordnen, die den Namen Danuvius guggenmosi erhielt. Die Riesenüberraschung dabei war: Die Wirbelsäule zeigte eine S-förmige Biegung und war im Lendenwirbelbereich verlängert. Hüft- und Kniegelenk waren streckbar. Was in der Summe eine ansatzhafte anatomische Anpassung an eine Aufrichtung des Körpers aus der Quadropedie erkennen lässt. Diese Anatomie habe Udo, so der Spitzname für das besterhaltene männliche Exemplar, ebenso wie seine Artgenossen mit einiger Wahrscheinlichkeit zum temporär aufgerichteten Gehen befähigt.  
Schlüsselposition im Stammbaum des Menschen
Nun ist aufrichten nicht gleich aufrechter Gang. Von einem biomechanisch optimierten Spaziergang wie er in den Trachilos-Spuren dokumentiert ist, trennen Udo aus dem Allgäu sein klassischer langfingriger Greiffuß mit opponierbarem Großzeh und 5,9 Millionen Jahre Evolutionsgeschehen. Dennoch ist dieser Fund ein Markstein der Archäologie. Europa als Hotspot der frühen Hominisation (stammesgeschichtlicher Prozess der Menschwerdung) hat mit Trachilos und Danuvius guggenmosi an Evidenz zulegen können. Die Out-of-Africa-Theorie wackelt. Wenn auch Aufschlüsse darüber, wie es mit dem endgültigen Herabsteigen unserer Vorfahren von den Bäumen und ihrer weiteren anatomischen Anpassung an den aufrechten Gang weiterging, und auf welchen möglichen alternative Wegen der aufrechte Gang noch entstanden sein könnte, zukünftigen Funden und Forschungen vorbehalten bleiben muss. Einen aussichtsreichen Kandidaten für einen potenziellen Urahn des letzten gemeinsamen Vorfahren von Schimpanse und Mensch, bevor sich deren Abstammungslinien endgültig trennten, dürfte Madeleine Böhme mit Danuvius guggenmosi dabei fraglos präsentieren können. 
Anschrift der Verfasserin:
Nike U. Breyer 
Hinter der Mauer 1
06484 Quedlinburg
 
Literatur siehe PDF.
Wie wir Menschen wurden – Eine kriminalistische Spurensuche nach den Ursprüngen der Menschheit
Neue Untersuchungsmethoden wie die Genomanalyse erlauben uns einen Blick in unser Erbgut und das unserer Vorfahren. Während innovative Morphometrie und Computersimulationen uns gleichzeitig ermöglichen, Schädel und Skelette am Bildschirm in 3D atemberaubend realistisch zu rekonstruieren. Dennoch sind  archäologische Grabungen nach wie vor die unverzichtbare Basis der archäologischen Wissenschaft und fordern diese mit Überraschungen zunehmend heraus. Die renommierte Paläontologin und Geowissenschaftlerin Madelaine Böhme vom Senckenberg Center for Human Evolution und Palaeoenvironment an der Universität Tübingen hat zuletzt einen solchen Fund mit Sprengkraft präsentiert: Danuvius guggenmosi, einen 11,6 Mio. Jahre alten Menschenaffen, der sich mutmaßlich schon temporär aufrichten konnte, und der damit als Kandidat für einen frühen Vorfahren des Menschen in Frage kommt – jenseits von Afrika. Das stützt eine komplementäre Forschungsposition zur Out-of-Africa-Theorie, die die Vorgeschichte des Menschen allein in Afrika sieht. In ihrem vorliegenden Buch nimmt Böhme den Leser mit zu diesem Fund im schönen Allgäu und auf eine größere Sightseeing-Tour zu spektakulären Schlüsselfunden der letzten Jahrzehnte. Die Informationen bettet sie spannend und unterhaltsam in ihre Geschichte und die Fundumstände ein. Das macht die Lektüre zu einem Bildungserlebnis, bei dem Archäologische Forschung zum Abenteuer und dabei selbst zu einem historischen Zeitdokument wird.  Nike U. Breyer
Wie wir Menschen wurden. Madelaine Böhme, Rüdiger Braun, Florian Breier. Heyne Verlag München, 2019. Gebunden. 335 Seiten. 22 €
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Foto: Andrey Popov/Adobe Stock
Schuhsohle
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