Die Achse des unteren Sprunggelenks, die bei allen Menschen sehr individuell ist, gilt schon länger als ein möglicher Grund für die unterschiedlichen Reaktionen auf Hilfsmittel. Mit einer neuen Messtechnik soll sie künftig einfach bestimmt werden und so die Studien um zusätzliche Erkenntnisse erweitern. Die Untersuchung der Achse des unteren Sprunggelenks beschäftigt Prof. Wilfried Alt seit über 25 Jahren. Schon 1994 forschte er mit Dr. Hilaire Jacob an Methoden zur Beschreibung und Bestimmung der Achse des unteren Sprunggelenks. 15 Jahre später wurde am Institut für Sportwissenschaft der Universität Stuttgart, wo Alt inzwischen Professor war, ein Messgerät zur Bestimmung dieser Achse entwickelt. Dieses wurde in der Dissertation von Claudia Reule eingesetzt, die damit zeigen konnte, dass es einen – zumindest – statistischen Zusammenhang zwischen der individuellen Gelenkanatomie der subtalaren Achse und Achillessehnenbeschwerden gibt. Das damals entwickelte Messsystem war zwar ausreichend genau, eignete sich jedoch nicht für den Routineeinsatz in wissenschaftlichen Studien, weil der Messvorgang vom Untersucher viel Erfahrung und Kompetenz erforderte. Mit Hilfe von heute einfach verfügbaren Inertialsensoren (IMU), die dreidimensionale Bewegungen aufzeichnen könnten, entwickelt Dr. Sascha Schlechtweg im Rahmen seiner Dissertation ein neues Messsystem, das die Lage der Achse des unteren Sprunggelenks bestimmen kann. Das Ziel ist, mit einem Partner aus der Industrie daraus ein Messgerät zu entwickeln, mit dem einfach und schnell bei einer größeren Zahl von Probanden die individuelle Achse ermittelt werden kann. Damit sollen zusätzliche Erkenntnisse über die Fußbiomechanik und das Entstehen von Verletzungen und Überlastungsschäden gewonnen werden. Im Interview beschreiben Prof. Wilfried Alt und Dr. Sascha Schlechtweg die Entwicklung des Systems, die ersten Erkenntnisse, die daraus gewonnen wurden, und in welchen Forschungsgebieten die Messtechnik künftig eingesetzt werden könnte. {pborder}
Herr Dr. Schlechtweg, wie sind Sie zur Achse des unteren Sprunggelenks als Dissertationsthema gekommen?
S. Schlechtweg: Ich hatte Prof. Dr. Alt verschiedene Vorschläge für ein Dissertationsthema gemacht. Er forderte mich jedesmal dazu auf, nochmals zu überdenken, ob das Thema das Richtige für mich wäre. Irgendwann sagte er mir, dass er da noch ein ungelöstes Problem hätte, nämlich das Messsystem für die Achse des unteren Sprunggelenks. Mit den Sensoren, die man mittlerweile habe, sei das nicht so schwierig, meinte er: „Das kriegen wir hin.“ Ich habe mich dann erst einmal ein halbes Jahr im Labor vergraben, weil es eben doch nicht so einfach war. Ich musste mich erst in die Problematik eindenken. Das untere Sprunggelenk ist ein sehr komplexer biomechanischer Raum. Nach sechs Monaten hatten wir meine Idee entworfen und ein Konzept entwickelt, das wir dann mathematisch modelliert haben. Wir haben außerdem konzipiert, wie man das Messgerät konkret umsetzen kann.
Was macht die Achse des unteren Sprunggelenks so kompliziert – im Vergleich zum oberen Sprunggelenk, dessen Biomechanik offenbar einfacher zu beschreiben ist?
S. Schlechtweg: Auch die Biomechanik des oberen Sprunggelenks ist komplex. Was das untere Sprunggelenk nochmals komplizierter macht, ist die Bewegungsfusion der beiden Gelenke. Die Muskulatur zieht praktisch immer über beide Gelenke. Das Verbindungsteil in der Mitte, der Talus, wird von keinem Muskel innerviert. Der Talus wird quasi passiv durch die Verschiebung der Knochen zueinander bewegt. Und eben diese Bewegung können wir von außen gar nicht oder nicht verlässlich beobachten. Da ist es beim oberen Sprunggelenk doch einfacher, sich dieser Achse von außen – über die Malleolengabeln – anzunähern.
W. Alt: Alle Versuche, diese Achsen zu bestimmen, sind Näherungsverfahren. Mit keinem Verfahren wird man jemals den wahren Wert oder die wahre Orientierung der Achsen des oberen und unteren Sprunggelenks kennenlernen. Der Biomechaniker Hans Gros aus Stuttgart hat gesagt: Die Biomechanik hat ein großes Problem: Misst man das Richtige – Funktionelle – mit einem gewissen Fehler, oder misst man das Falsche – beispielsweise in vitro – , dafür aber sehr genau. Dazwischen müssen wir optimieren. Wir sagen, wir wollen funktionell messen, sind uns aber bewusst, dass wir gewisse Fehlertoleranzen einfach in Kauf nehmen müssen. Für uns war ein Leitgedanke, möglichst große Fallzahlen damit untersuchen zu können.
S. Schlechtweg: Die aufwändigeren Verfahren sind nicht per se besser. Dort werden andere Dinge außer Acht gelassen, die bei uns enthalten sind. Die radiologischen Methoden sind zwar sehr exakt in dem, was sie messen, sind aber vielleicht weiter weg von der tatsächlichen Situation, die wir von außen beobachten. Wenn man sich der Achse radiologisch über die Krümmungsradien und artikulierenden Flächen annähert, lässt man alle passiven Strukturen um das Gelenk außer Acht. Auch Veränderungen durch Knorpelstrukturen oder Bänder, welche die Bewegung mitleiten, bezieht man dann nicht ein. Wir schauen uns am Ende die tatsächlich beobachtbare Bewegung an, die der menschliche Fuß macht.
Wie ist das genaue Vorgehen bei der Messung, nachdem die Sensoren am Fuß montiert sind?
W. Alt: Wir müssen den Talus fixieren, indem wir den Fuß in maximale Dorsalextension bringen. Es gibt Studien, die zeigen, dass der Talus dann weitgehend unbeweglich ist. Dann machen wir mehrfach Pronations- und Supinationsbewegungen. Die müssen geführt sein, denn die aktive Bewegung, die man dabei macht, gestattet es den Versuchspersonen nie, die Dorsalextension aufrechtzuerhalten.
S. Schlechtweg: Das Messsystem, das wir verwenden, ist nur für Rotationen sensitiv. Wenn es denn eine Translation entlang der Bewegungsachse gäbe, würde dies unsere Bestimmung der Achse nicht beeinflussen. Denn das System ist nicht sensitiv für die Bewegung nach vorne.
Wie haben Sie ermittelt, ob das System die Achse ausreichend genau bestimmt?
S. Schlechtweg: Wir haben das System über eine mechanische Modellierung validiert. Wir haben ein Sprunggelenk mit einer mechanischen Achse gebaut und diese Achse mit externen, bereits validierten Messverfahren sehr genau bestimmt. Dann haben wir unser neues Verfahren dagegen getestet. Wir haben es zum Einsatz gebracht und geschaut, ob wir bestimmte biomechanische Fragestellungen, die in der Literatur kursieren, ein bisschen erhellen können.
Welche Fragestellungen haben Sie zuerst untersucht?
W. Alt: In einer Bachelorarbeit an der Hochschule Offenburg wurde untersucht, ob sich die Lage der Achse des unteren Sprunggelenks auch auf die Funktion der Muskulatur auswirkt. In jedem Lehrbuch kann man nachlesen, dass der M. tibialis anterior die Dorsalextension und Supination bewirkt. Wenn wir 20 Versuchspersonen nehmen, dann wird der Muskel bei etwa 10 Personen genauso wirken, wie im Lehrbuch beschrieben. Bei den anderen 10 könnte er aber anders wirken. Wenn man sich die Deviation der Achse in der Projektion vorstellt, dann ist klar zu erkennen, dass ein Supinationsmoment entsteht, wenn die Achse in einem bestimmten Abstand zum M. tibialis anterior verläuft. Tut sie das aber nicht, weil sie individuell verschieden ist, dann entsteht nur eine reine Dorsalextension. Das konnte in dieser Arbeit gezeigt werden, indem der M. tibialis anterior gezielt elektrisch stimuliert und die Bewegung des Fußes gemessen wurde. Das ist ein Aspekt, von dem ausgehend wir sagen können, dass die Achse des unteren Sprunggelenks die Funktion der Muskulatur beeinflusst. In einer anderen Bachelorarbeit an unserem Institut konnten wir beim Laufen sehen, dass die Aktivierung des M. gastrocnemius in Abhängigkeit von der Achslage unterschiedlich ist. Je mehr Deviation, desto mehr Unterschied gibt es bei der Aktivierung zwischen dem medialen und lateralen Kopf des M. gastrocnemius. Ich glaube, das ist überhaupt noch niemals so gezeigt worden. Wir haben also Hinweise, dass sowohl die Wirkungsweise der Muskulatur als auch die Ansteuerung der Muskulatur von der Lage der subtalaren Achse beeinflusst werden.
S. Schlechtweg: Die eben beschriebene Studie war quasi die experimentelle Arbeit innerhalb der Dissertation. Zusätzlich haben wir noch die Frage gestellt, ob denn die Struktur dieser Aktivierung eine Rolle spielt. Was Herr Prof. Dr. Alt gerade angesprochen hat, war die Asynchronität der Aktivierung zwischen den Gastrocnemius-Köpfen. In der Dissertation haben wir noch über maschinelle Lernverfahren untersucht, ob sich über die Art und Weise der Ansteuerung des M. gastrocnemius die Achsorientierung vorhersagen lässt. Dabei hat sich gezeigt, dass wir unter bestimmten Umständen mit einer relativ guten Vorhersagewahrscheinlichkeit die Orientierung der Achse bestimmen können. Ein Achsenwert von zum Beispiel 5 Grad (Deviation) würde dann eine Gruppe, die eine bestimmte Ansteuerung aufweist, von einer anderen Gruppe trennen. Das ist im statistischen Fall ein Hinweis darauf, dass sich bei dieser 5-Grad-Deviation etwas im Signal verändert hat.
Das System soll breit in der Forschung eingesetzt werden. Gibt es schon Pläne für die Markteinführung?
W. Alt: Es ist geplant, das System zu kommerzialisieren und zu verkaufen.
S. Schlechtweg: Das System soll so gebaut sein, dass es im Feld und bei großen Fallzahlen eingesetzt werden kann. Es muss anwenderfreundlich, schnell und verständlich sein. Bei all der Arbeit, die in der Wissenschaft dahintersteckt, und dem Nutzen, den wir für die Wissenschaft gesehen haben, war schon von vorneherein klar, dass wir nichts mit dem Messgerät anfangen können, wenn es zu teuer und unhandlich wird. Sonst kommen wir in den Studien nicht auf die Fallzahlen, die wir benötigen, um gesicherte Aussagen treffen zu können.
W. Alt: Der erste Schritt ist getan. Die Algorithmen sind da. Das erste Ziel ist, dass wir innerhalb des nächsten Jahres ein Gerät haben, das man in Kleinserie produzieren und verkaufen kann. Und dann kommt die wissenschaftliche Arbeit, nämlich die Studien, die den Erkenntnisgewinn bringen sollen.
In welchen Bereichen sehen Sie das Einsatzgebiet der neuen Messtechnik?
W. Alt: Das sind aus unserer Sicht vier Schwerpunkte: Optimierung, Individualisierung, Therapie und Diagnose. Dazu gibt es dann ganz konkrete Anwendungsgebiete. Bei der Individualisierung und Optimierung denken wir an Orthesen, Einlagen oder Schuhe, wie zum Beispiel Laufschuhe, Fußballschuhe oder Arbeitsschuhe. Hinsichtlich der Therapie ist denkbar, dass es irgendwann individuelle Endoprothesen für das Sprunggelenk geben wird, die achsengerecht sind. Man könnte das Ganze auch auf Bewegungsstörungen anwenden. Bei der Diagnose denke ich an die neuen wissenschaftlichen Erkenntnisse, die wir gewinnen können, indem wir einen zusätzlichen Faktor bestimmen.
Welche zusätzlichen oder neuen Erkenntnisse könnte die Bestimmung der Achse des unteren Sprunggelenks für die Einlagenforschung bringen? Es zieht sich wie ein roter Faden durch die Studienergebnisse, dass die Menschen sehr unterschiedlich auf dieselbe Einlage reagieren. Und man weiß nicht warum.
W. Alt: Würde man die bisherigen Studien zu Einlagen unter Zugrundelegung der Achslage wiederholen, bin ich überzeugt, dass man andere Ergebnisse bekommen würde. Wir wissen sicher, dass die Achse des unteren Sprunggelenks sehr variabel ausgeprägt ist. Wir wissen auch, dass wir immer wieder unterschiedliche Reaktionen auf Messungen bekommen. Wenn wir nun die Lage der Achse kennen, haben wir für alle statistischen Analysen einen bekannten Faktor mehr. Dann stellen wir vielleicht fest, dass wir nicht alle Probanden in einen Topf werfen dürfen, sondern sie nach der Lage ihrer Achse trennen müssen. Dadurch werden die Ergebnisse viel genauer, unabhängig davon, ob das Schuhe oder Einlagen oder andere Interventionen sind.
Wie kann man sich den Einsatz des neuen Messverfahrens vorstellen? Wird künftig vor biomechanischen Studien die Achse des unteren Sprunggelenks bestimmt werden und die übrigen Ergebnisse werden dann dazu ins Verhältnis gesetzt?
W. Alt: Das wäre wünschenswert. Das Grundprinzip besteht darin, die Varianz in den Ergebnissen durch zusätzliche Informationen aufzuklären.
Wird es irgendwann auch ein Gerät geben, das Orthopädieschuhmacher in der Patientenversorgung einsetzen können?
W. Alt: Ich lehne mich weit aus dem Fenster: Hundertprozentig!
Welche Schlüsse könnte der Orthopädieschuhmacher aus der Bestimmung der Achslage ziehen?
S. Schlechtweg: Überlastungen entstehen durch vielfaches Wiederholen einer ungünstigen Gelenkmechanik. Aber genau die Frage, wie man sie verändern kann, können wir noch nicht beantworten. Aber dass wir sie beeinflussen können, haben wir ja in den letzten Jahren in der Laufschuhforschung, in der Arbeitsschuhforschung und in der Orthopädieschuhtechnik-Forschung gesehen.
W. Alt: Wir wissen noch nicht genau, was man tun muss, wenn die Achse eine große Deviation hat. Das wird Gegenstand künftiger wissenschaftlicher Studien sein. Aber der erste Schritt ist natürlich, dass das Messsystem auch in der Breite verfügbar ist. Wenn wir die Studien um die neue Variable Subtalare Gelenkachse ergänzen, kann die Wissenschaft durch Experimente und Studien Erkenntnisse generieren. Dann kann man den Orthopädieschuhmachern und Schuhherstellern konkrete Hinweise liefern, was man bei den jeweiligen unterschiedlichen Achslagen tun kann.
Interview: Wolfgang Best
Die Achse des unteren Sprunggelenks messbar machen
Vor allem die Aufnahme und mögliche Weitergabe externer Kräfte an proximal liegende Strukturen macht das untere Sprunggelenk zu einer bedeutenden biomechanischen Struktur. Es ist schon lange bekannt, dass die Bewegungsachse dieses Gelenkes individuell sehr verschieden ist und dies dazu führen kann, dass die Hebelarme einiger Muskeln zwischen Personen stark variieren oder sogar bei gleichen Muskelgruppen in entgegengesetzte Richtungen zeigen. Über die Auswirkungen dieser Unterschiede auf die Bewegung und mögliche Überlastungsschäden ist bislang wenig bekannt, wenngleich der hypothetische Zusammenhang zwischen der individuellen Gelenkanatomie und chronischen und akuten Überlastungen an der unteren Extremität in der Literatur mehrfach angesprochen wird. Die Tatsache, dass einerseits nicht alle Läufer mit einer sogenannten „Überpronation“ Beschwerden entwickeln und andererseits Läufer mit Achillessehnenbeschwerden zum Teil nur wenig Pronation beim Laufen zeigen, weist jedoch darauf hin, dass individuelle Faktoren hier eine Rolle spielen. Für die Beantwortung der Frage, ob und wie die individuelle Achse des unteren Sprunggelenks einen Einfluss auf Verletzungen hat, muss jeweils eine große Zahl von Probanden untersucht werden, um eine mögliche Ursache-Wirkungs-Beziehung zwischen der Orientierung der Achse des Sprunggelenks und Überlastungsschäden an der unteren Extremität statistisch abzusichern. Bislang scheiterte die Integration der individuellen Achslage im unteren Sprunggelenk in biomechanische Studiendesigns an der fehlenden Messtechnik. Bestehende Messverfahren waren zu aufwändig, um schnell und günstig eine große Zahl von Probanden vermessen zu können.
Hier setzte Sascha Schlechtweg mit seiner Promotion an. Mit Hilfe leicht verfügbarer inertialer Messeinheiten (IMU), die Beschleunigungen und Drehraten erfassen, entwickelte er ein Messsystem, mit dem die Achse des unteren Sprunggelenks ausreichend schnell und genau bestimmt werden kann. Die Orientierung der unteren Sprunggelenkachse wird üblicherweise durch zwei Winkel ausgedrückt: Die Inklination beschreibt den Winkel, der mit der Transversalebene, und die Deviation den Winkel, der mit der Mittellinie des Fußes aufgespannt wird (Abb. 3). Diese galt es, mit der Messtechnik zu erfassen.
Wesentlicher Bestandteil von Sascha Schlechtwegs Dissertation war es, ein anatomisches Koordinatensystem anhand markanter anatomischer Punkte zu entwickeln. Darin konnten die Daten der beiden eingesetzten Inertialsensoren so ausgewertet werden, dass die Bewegungsachse ausreichend genau beschrieben werden kann. Voraussetzung dafür ist, dass sich bei der Messung auch tatsächlich nur das untere Sprunggelenk bewegt. Hierzu muss der Fuß in eine maximale Dorsalflexion gebracht werden, weil dann der Talus als quasi-starr mit der Tibia verbunden betrachtet werden kann und das untere Sprunggelenk weitgehend isoliert bewegt werden kann. Neben den Sensoren ist deshalb auch eine feste Schlaufe Teil des Messaufbaus (Abb. 4). Etwas sieben Minuten dauert die Messung mit dem Prototypen. Dann liegt das Ergebnis vor.
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