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11. Oktober 2022
Redaktion

Zusätzliche Begründungspflichten bei Mehrkosten: Rechtsgutachten sieht keine rechtliche Grundlage

Mit der Begründungspflicht für Mehrkostenvereinbarungen befasst sich ein Rechtsgutachten von Prof. Dr. Helge Sodan, Präsident des Verfassungsgerichtshofes des Landes Berlin a.D.. Die Einführung zusätzlicher Begründungspflichten bei Mehrkostenvereinbarungen, wie sie der GKV-Spitzenverband bei der Fortschreibung des Hilfsmittelverzeichnisses vorgenommen hat, stelle einen unzulässigen Eingriff in die Privatautonomie von Versicherten und Leistungserbringern dar, so ein Ergebnis des Gutachtens. Auch überschreite ein solches Vorgehen die Kompetenzen des GKV-Spitzenverbandes.



Foto: Andrey Popov/Adobe Stock

In § 33 Abs. 1 Satz 9 SGB V ist geregelt, dass gesetzlich Versicherte, die Hilfsmittel oder zusätzliche Leistungen wählen, die über das Maß des Notwendigen hinausgehen, die hierfür entstehenden Mehrkosten und dadurch bedingte höhere Folgekosten selbst zu tragen haben. Fast 80 % der Hilfsmittelversorgungen in der GKV erfolgen dabei ohne Mehrkosten.

Der GVK-Spitzenverband hat Fortschreibungen des Hilfsmittelverzeichnisses nach § 139 Abs. 9 Satz 1 SGB V vorgenommen, denen zufolge die Leistungserbringer den Mehrnutzen sowie die Merkmale des abgegebenen Hilfsmittels im Vergleich zu einem geeigneten mehrkostenfreien Hilfsmittel gesondert begründen müssen. Eine solche zusätzliche Begründungspflicht greift laut dem Rechtsgutachten weitreichend in die Privatautonomie von Leistungserbringern und Versicherten ein – und zwar in einem Bereich, der die Solidargemeinschaft finanziell nicht belastet.

Ergebnisse des Rechtsgutachtens

Die untersuchten Vorgehensweisen des GKV-Spitzenverbandes und etwaige Beanstandungen von Behörden (z.B. Bundesrechnungshof) halten dem Gutachten zufolge einer rechtlichen Prüfung nicht stand. Zusammengefasst wurde Folgendes festgestellt:

  1. Eine Fortschreibung des Hilfsmittelverzeichnisses hinsichtlich einer Mehrkostenbegründung überschreitet die Kompetenzen des GKV-Spitzenverbandes, nicht zuletzt, weil ihm diese nur in Hinblick auf die Sicherstellung des Wirtschaftlichkeitsgebotes in der GKV überhaupt zustehen, welches hier nicht berührt wird. Es besteht keine Gefahr für die Solidargemeinschaft.
  2. Die Aufstellung von Begründungspflichten für Mehrkostenvereinbarungen führt zu einem grundrechtssensiblen, wettbewerbsverzerrenden Effekt. Sind Mehrkostenvereinbarungen über bloße Abrede hinaus sachlich zu begründen, stellt dies für Versicherte, Hersteller und Leistungserbringer eine gewisse Hemmschwelle dar, eine solche Vereinbarung einzugehen. Hierbei handelt es sich um einen übermäßigen Eingriff in die Privatautonomie von Versicherten, Leistungserbringern und Herstellern.
  3. Derartige Begründungspflichten wären im Ergebnis nicht verhältnismäßig, insbesondere käme es zu einer Verletzung der nach Art. 12 Abs. 1 GG geschützten Berufsfreiheit von Herstellern und Leistungserbringern.
  4. Ausführliche Begründungspflichten bei Mehrkostenvereinbarungen durch Versicherte und Leistungserbringer stellen auch kein geeignetes und angemessenes Instrument dar, um etwaige Versorgungslücken in der Regelversorgung aufzudecken.
  5. Der Wortlaut in § 33 Abs. 1 Satz 9 SGB V – und auch seine verfassungskonforme Auslegung – geben keinen Anlass, an der generellen und unbeschränkten Zulässigkeit von Mehrkostenvereinbarungen zu zweifeln.
  6. Die Möglichkeit, Leistungen über das Maß des Notwendigen zu beanspruchen, wenn die Kosten hierfür von den Versicherten selbst aufgebracht werden, führt auch zu keinem Bruch mit dem Wirtschaftlichkeitsgebot in der GKV. Dies gilt zum einen lediglich für das Rechtsverhältnis zwischen GKV und Versicherten und ist zum anderen auch nicht berührt, da die private Aufwendung keinen Einfluss auf die Mittel der GKV hat.
  7. Grundrechtliche Gesichtspunkte, insbesondere der allgemeine Gleichheitsgrundsatz des Art. 3 Abs. 1 GG sprechen ebenfalls nicht gegen die uneingeschränkte Zulässigkeit von Mehrkostenvereinbarungen.

Über das Gutachten

Beauftragt wurde das Gutachten von der Stolle Sanitätshaus GmbH & Co. KG mit Unterstützung der rehaVital Gesundheitsservice GmbH. Der Gutachter Prof. Dr. Helge Sodan ist Inhaber des Lehrstuhls für Staats- und Verwaltungsrecht, Öffentliches Wirtschaftsrecht und Sozialrecht an der FU Berlin, Direktor des Deutschen Instituts für Gesundheitsrecht (DIGR) sowie Präsident des Verfassungsgerichtshofes des Landes Berlin a. D. 

WvD begrüßt die zentralen Aussagen des Gutachtens

Das Bündnis „Wir versorgen Deutschland“ (WvD), in dem einige Leistungserbringerverbände zusammengeschlossen sind, begrüßt die zentralen Aussagen des Gutachtens.

„Lediglich 20 Prozent der gesetzlich Versicherten entscheiden sich überhaupt für eine Hilfsmittelversorgung, die über die solidarisch finanzierten GKV-Leistungen hinausgeht“, erklären Kirsten Abel und Patrick Grunau, Generalsekretäre von WvD. „Schon heute müssen diese Versicherten zudem dokumentieren, dass sie sich bewusst für eine höherwertige Leistung entscheiden und die zusätzlichen Kosten selbst tragen. Wir begrüßen die zentrale Aussage des Gutachtens, dass darüber hinaus gehende Begründungspflichten und eine Ausweitung der Prüfbürokratie schlicht unzulässig sind und die Privatautonomie der Versicherten verletzen.“ 

Ausgehend von dem Gutachten fordert WvD den GKV-Spitzenverband dazu auf, seine „rechtswidrige Praxis“ künftig zu unterlassen. Zugleich müsse die Gesundheitspolitik den aktuellen Tendenzen entgegentreten, die „Entscheidungsfreiheit der Versicherten durch Überbürokratisierung immer weiter zu untergraben“.

Foto: Andrey Popov/Adobe Stock
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