Folgen Sie uns
16. Januar 2018
Annette Switala
Orthopädieschuhtechnik Hessing Stiftung Augsburg

Zur Selbstständigkeit ausbilden

Für ihr attraktives Ausbildungskonzept erhielt die Abteilung Orthopädieschuhtechnik der Hessing 
Stiftung in Augsburg in diesem Jahr den Innovationspreis des Freundeskreises der MBO. Wie wird 
bei Hessing ausgebildet – und Begeisterung für die Orthopädieschuhtechnik geweckt? Darüber 
haben wir mit dem Leiter der Orthopädietechnik und Schuhtechnik, Jörg Aumann, gesprochen.
Team
Foto: Hessing Stiftung
Es sind viele, die zur erfolgreichen Ausbildung bei Hessing beitragen, sagt Jörg Aumann (r.). Werkstattleiterin Alexandra Stuhler (Mitte) und ihr Stellvertreter Martin Kreitmayr (l.) haben ebenfalls großen Anteil daran – und die Gesellen und Meister, die die Auszubildenden betreuen.

Herr Aumann, wie ging es Ihnen, als Sie erfuhren, dass Sie den Innovationpreis der MBO erhalten?

Natürlich habe ich mich gefreut. Aber als man mir sagte, ich solle einen halb­stündigen Vortrag über unser „Ausbildungskonzept“ halten, dachte ich erst einmal: Ups, was soll ich in 30 Minuten erzählen, wir bilden doch einfach nur aus!

 

„Einfach nur ausbilden“ – das ist ja gar nicht so selbstverständlich in der Orthopädieschuhtechnik. Warum ist Ihnen die Ausbildung so wichtig?

Dafür gibt es mehrere Gründe. Ich bin seit 26 Jahren hier, Werkstattleiterin Alexandra Stuhler seit 24. Wir haben hier selbst eine wunderbare Ausbildung erlebt und wurden damals beide Landessieger. Als wir dann von der Meisterschule kamen und unsere heutigen Leitungsfunktionen übernahmen, hatten wir selbst große Lust darauf auszubilden.

Unabhängig davon ist uns aber auch ganz klar, dass die Orthopädieschuh­technik etwas gegen den Fachkräftemangel tun muss. Jammern, aber selbst nicht ausbilden – das hilft nichts. Dann ­müssen wir uns nicht wundern, wenn wir keine Fachkräfte finden!

Ich muss ganz klar sagen: Das Wachstum, das unsere
Werkstatt von 2001 bis heute erlebt hat, hätten wir nicht geschafft, wenn wir nicht ausgebildet hätten. Wir sind in diesem Zeitraum von 6 auf 30 Mitarbeiter gewachsen. Damals ging es noch überwiegend um die Versorgung der Klinik-Patienten, während dies heute nur noch einen geringen Teil unserer Arbeit ausmacht. Diese Ausweitung unserer Aufgaben auf die Versorgung externer Patienten hätten wir personell nicht bewältigt, wenn wir uns nicht die eigenen Fachkräfte herangezogen hätten. Wir haben rund zwei Drittel unserer Auszubildenden übernommen.

 

Viele sagen: Warum selbst ausbilden, wenn mir dann eh jemand anderes den Nachwuchs abwirbt?

Auch bei uns sind immer welche dabei, die sich danach noch anders entwickeln wollen – einer ist in ein großes Industrieunternehmen gewechselt, einige andere wollten studieren, was ja in Ordnung ist und vielleicht die Perspektive lässt, dass sie wiederkommen. Ich muss aber sagen, dass die meisten bei uns geblieben sind.

Der Vorteil, wenn man seine Fachkräfte selbst ausbildet, liegt darin, dass man nach dreieinhalb Jahren Ausbildung ganz genau weiß, wie eine Person tickt und ob sie in den Betrieb und das Team passt. Wenn man jemanden einstellt, den man noch nicht so gut kennt, kann man sich da auch ganz schön täuschen. Dennoch konnten wir auch tolle Mitarbeiter gewinnen, die nicht bei uns gelernt haben. Die Mischung ist der Schlüssel zum Erfolg.

 

Worauf legen Sie bei der Auswahl Ihrer Auszubildenden Wert?

Vom Werdegang her legen wir uns nicht fest, wir nehmen den 15- oder 16-jährigen Hauptschul- oder Realschulabgänger genauso wie Bewerber mit Fachhochschulreife. Gern auch den etwas älteren Quereinsteiger, der vorher etwas ganz anderes gemacht hat – ich bin 
offen für Menschen, die noch einmal neu abbiegen 
wollen in ihrem Berufsleben. Denn ich sehe, dass es Vorteile haben kann, wenn jemand schon Lebens- und Berufserfahrung mitbringt. Das kann zum Beispiel im Patientenkontakt sehr helfen.

Wir fordern zwar eine schriftliche Bewerbung und schauen auch die Zeugnisse an, aber das ist für uns nicht das Ausschlaggebende. Am allerwichtigsten sind uns die Sozialkompetenz und die persönlichen Eigenschaften des Bewerbers. Wird er mit den Patienten sprechen und auch im Team gut kommunizieren können? Die zweitwichtigste Frage ist für uns, welche Haltung der Bewerber zu handwerklichen Aufgaben hat.

 

Die
Foto: Hessing Stiftung
Julia Krause und Luca Semmler sind im vierten Lehrjahr. Wie viele hatten sie sich an der Hessing Stiftung eigentlich für eine Ausbildung zum Orthopädiemechaniker beworben, ließen sich dann aber schnell überzeugen, dass die Orthopädieschuhtechnik genauso spannend sein könnte. „Ich war total beeindruckt, als ich das Team kennen gelernt habe“, erklärt Luca Semmler. „Wir durften von Anfang an richtig viel machen und es ist sehr abwechslungsreich für uns, dass wir immer wieder die Aufgabenbereiche wechseln.“

Wie verschaffen Sie sich einen Eindruck darüber, ob jemand diese persönlichen Voraussetzungen mitbringt?

Wir stellen keinen Auszubildenden ein, ohne dass er vorher ein drei- bis fünftägiges Praktikum bei uns 
gemacht hat. Meist verbringen die Praktikanten die Hälfte der Zeit in der Orthopädietechnik, die andere Hälfte in der Orthopädieschuhtechnik. Da besteht ihre Aufgabe darin, sich ein Paar Einlagen zu fertigen. Dazu nimmt sich ein Mitarbeiter richtig Zeit und durchläuft mit dem Praktikanten den ganzen Prozess von der Fußinspektion bis zum Abdruck und der Leistenfertigung. Im Zuge dessen soll der Praktikant aus einem Schaumstoff mit Raspeln und Messern einen Leisten fertigen. Da erkennt man schnell, ob ein gewisses handwerkliches Geschick vorhanden ist. Und man sieht auch, ob jemand versucht, eine Aufgabe in weiten Teilen eigenständig anzugehen, oder ob er bei jedem einzelnen Schritt fragt, was er machen soll.

Auch die kommunikativen Eigenschaften kann man in so einer Woche gut beobachten – das fängt ja schon damit an, ob der Praktikant morgens vernünftig „Guten Morgen“ sagt. Dass jemand auf andere zugehen und geradeheraus in Kommunikation treten kann, ist 
heute keine Selbstverständlichkeit mehr – es ist aber die Grundvoraussetzung für unseren Beruf.

Der Praktikant wird dann von zwei Mitarbeitern aus der OT und zwei Mitarbeitern aus der OST mit einem internen Bewertungsbogen beurteilt. Wenn er sich später bei uns um einen Ausbildungsplatz bewirbt, ziehen wir diese Bögen zurate.

 

Gesetzt den Fall, der Bewerber hat es geschafft: Was erwartet ihn, wenn er bei Ihnen anfängt?

Im Vorfeld habe ich das Team bereits darauf vorbereitet und geklärt, wer die Betreuung am Anfang übernimmt – so hat er gleich einen Ansprechpartner. In die laufende Arbeit binden wir den Auszubildenden dann sehr schnell ein: Unser Ziel ist es, ihm von Beginn an eine möglichst große Vielfalt an Aufgaben zu bieten.

 

Wie stellen Sie das sicher?

Wir haben ein rollierendes System – der Auszubildende wechselt alle zwei Wochen den Bereich – von der Einlagenfertigung geht es in den Bereich Schuhzurichtung, von dort in den Maßschuhbau und so fort. Und das von Anfang an.

Für diese zwei Wochen ist jeweils ein Geselle für ihn zuständig, der in seiner Nähe arbeitet. Der Auszubildende erhält am Anfang mehr Anleitung, bis sukzessive ein immer eigenständigeres Arbeiten möglich ist. Er kann den Gesellen jederzeit fragen, hat aber auch Spielraum, um seine Aufgaben immer selbstständiger zu lösen. Es ist unser Hauptziel, die jungen Menschen zu eigenständigem Denken und Arbeiten auszubilden. „Alle Bereiche sehen und möglichst schnell in die Vollen gehen lassen“ – darauf kommt es uns an.

 

Warum ist Ihnen das so wichtig?

Ich bin davon überzeugt, dass wir junge Menschen nur dann von unserem Beruf begeistern können, wenn wir ihnen die ganze Vielfalt der orthopädieschuh­technischen Tätigkeiten zeigen und sie von Anfang an mitarbeiten lassen.

Ich halte es für einen großen Fehler, den Azubi eineinhalb Jahre nur Einlagen fräsen und beledern oder ihn ausschließlich Schuhzurichtungen machen zu lassen, bevor er dann endlich mal an den Maßschuh darf. Damit „verheizt“ man die Lehrlinge als billige Arbeitskräfte und wird kaum Begeisterung für den Beruf hervorbringen. Ein junger Mensch, der sich einbezogen, gefordert und gefördert fühlt, wird eine ganz andere innere Haltung zu seiner Tätigkeit entwickeln als einer, der die ganze Zeit die gleiche, stumpfe Aufgabe wiederholen muss und merkt: Das ist das, was die anderen nicht machen wollen.

Wir sehen, dass es durchaus möglich ist, die Auszubildenden schon im ersten Lehrjahr auch in den Maßschuhbereich einzubinden. Sie fangen bei uns damit an, Kappen vorzuzwicken, zwicken dann aber auch schnell schon einen Halbschuh auf. Und nach einer gewissen Zeit bekommen die Lehrlinge schon zwei Paar Maßschuhe mit Arthrodesenkappen zum Zwicken hingestellt. Das funktioniert! Es ist nicht nötig, sie nur Klammern ziehen und kleben zu lassen.

Wir gehen auch zunehmend dazu über, unsere Lehrlinge mit zu den Patienten zu nehmen, auch wenn sie erstmal nur dabeisitzen und zuschauen. Das motiviert sie zusätzlich.

 

Das bedeutet aber, dass Sie viel Arbeitszeit und damit auch Geld in die Ausbildung investieren.

Ich bin davon überzeugt, dass es sich für einen Betrieb auszahlt, wenn er so intensiv ausbildet. Nach meiner Erfahrung ist es so, dass die Auszubildenden bei uns spätestens nach einem Jahr auf einem Niveau mitarbeiten, das sich po­sitiv für uns bemerkbar macht. Das empfindet im Übrigen auch unser Team so. Wenn es heißt: „Heute sind nur zwei Lehrlinge da“, dann geht bei uns ein Raunen durch den Raum.

Außerdem hat man, wenn schließlich die Frage der Übernahme ansteht, auf diese Weise jemanden, der dem tatsächlichen Anforderungsprofil des Betriebes entspricht.

Wenn unsere Azubis zur Prüfung gehen, müssen wir gar nicht mehr viel helfen. Bei dem fiktiven Prüfungsfall, einem sportlichen oder klassischen orthopädischen Maßschuh, brauchen wir ihn nicht mehr bei den grundlegenden Fertigkeiten, sondern nur noch bei den „On-Tops“ zu unterstützen, zum Beispiel bei besonderen Sohlenmustern. Übrigens motiviert es die Prüflinge ganz besonders, wenn man ihnen die Zeit und die Freiheit lässt, einen wirklich schönen Schuh zu gestalten und ihre Ideen frei umzusetzen. Mehrere unserer Auszubildenden sind dabei Landessieger ­geworden oder haben den Bodenbau-Wettbewerb ­gewonnen.

 

Sie motivieren Ihre Auszubildenden, trauen ihnen etwas zu und fordern sie. Wie halten Sie es mit der Kontrolle und Rückmeldungen zu ihren Leistungen?

Was die „Kontrollen“ angeht: Ich schaue mir die Berichtshefte der Auszubildenden alle zwei Wochen an und bin immer mal wieder auch mit dem Berufsschullehrer in Kontakt. Und unsere Klinik­leitung bewertet den Notendurchschnitt der Zeugnisse. Besonders gute Absolventen werden dann auf der Weihnachtsfeier mit einem Gutschein ausgezeichnet.

Vor allem aber halte ich es für wichtig, dass die Auszubildenden regelmäßige Rückmeldungen erhalten, selbst aber auch die Möglichkeit haben, sich zu äußern. In der Probezeit machen wir ein Zwischen- und ein Abschlussgespräch, das sieht auch die Personalabteilung unserer Verwaltung so vor. Außerdem gibt es in unserer Werkstatt regelmäßig Mitarbeitergespräche, die die Auszubildenden etwas seltener auch bekommen.

Um für die Auszubildenden den Druck etwas herauszunehmen, führen wir diese Gespräche oft mit zwei Auszubildenden im gleichen Lehrjahr durch. Die gehen ja gemeinsam zur Schule – dadurch bilden sie meist 
eine sehr innige Einheit innerhalb des Teams. Solche Mitarbeitergespräche sind aus meiner Sicht für beide Seiten eine Chance, um Unzufriedenheiten aus dem Weg zu räumen oder mit positiven Rückmeldungen weiter zu motivieren.

Ich frage die Auszubildenden gern auch schon frühzeitig, wie sie sich ihre Zukunft vorstellen. Wenn man das schon nach eineinhalb Jahren tut, fühlen sich manche stark motiviert, weil sie merken: Die wollen mich haben.

 

Sie bilden gerade acht Lehrlinge in der Orthopädie­schuhtechnik aus, in der Ortho­pädietechnik sind es drei – und das in Zeiten des „Nachwuchsmangels“. Was tun Sie, um an Auszubildende zu kommen?

Ich muss zugeben, dass wir hier eine sehr komfortable Situation einfach dadurch haben, dass die Hessing Stiftung im Umkreis sehr bekannt ist und einen gu­ten Namen hat, da kommen viele Anfragen von 
alleine. Durch die Anbindung an die verschiedenen 
Kliniken und Tätigkeitsfelder der Stiftung – Orthopädie, Kinderorthopädie und Geriatrie – können wir den Auszubildenden ein besonders attraktives, abwechslungsreiches Umfeld bieten, in dem sich auch viele andere junge Menschen ausbilden lassen.

Deshalb gehen wir bislang – noch – nicht auf Ausbildungsmessen oder in Schulen, um auf unsere Werkstatt aufmerksam zu machen.

Wir sprechen jedoch aktiv unsere Kundschaft auf das Thema Ausbildung an – das sind ja quasi die Groß­eltern unserer potenziellen Auszubildenden. Wir haben in unseren Räumen ein großes Plakat mit der Botschaft hängen, dass wir ausbilden, und legen einen Ausbildungsflyer der Hessing Stiftung aus. Außerdem stellen wir die Schuhe unserer Landessieger in unseren Geschäftsräumen aus.

Auch dass wir Praktika anbieten, hat sich herumgesprochen. In einigen  Schulen werden wir empfohlen.

Am allerbesten aber funktioniert, wenn in den 
Medien redaktionell über ein Ausbildungsthema aus unserer Werkstatt berichtet wird. Bei unseren Landessiegern haben wir jedesmal eine Pressemitteilung verschickt, und jetzt haben wir eine zum Innovationspreis gemacht, den uns der Freundeskreis der MBO verliehen hat. Auf die entsprechenden Medienberichte kommt dann immer eine enorme Resonanz.

Artikel aus Orthopädieschuhtechnik 01/2018

 

Foto: Andrey Popov/Adobe Stock
Schuhsohle
Zurück
Speichern
Nach oben