Simultane Längen-, Achs- und Torsionskorrekturen der Beine mit Verlängerungsmarknägeln
FLORIAN WOLF1 | PETER H. THALLER1 | WOLFGANG BÖCKER1
Durch die Anwendung von Verlängerungsmarknägeln kann in den meisten Fällen der Einsatz von externen Fixateuren vermieden werden. Mit geeigneter Technik können neben Längendifferenzen auch komplexe Achs- und Torsionsdeformitäten adressiert werden. Als derzeitiger Stand der Technik kann die getriebegestützte magnetische Antriebstechnik des „Precice“-Verlängerungsmarknagels angesehen werden. Der erfolgreiche Einsatz von Verlängerungsmarknägeln erfordert ein hohes Maß an Vorbereitung (Analyse und Planung), intraoperative Präzision und eine engmaschige postoperative Nachsorge. Die neueste Evolutionsstufe des „Precice“-Verlängerungsnagels stellt der „Precice Stryde“ dar, dessen Anwendung erstmalig eine unmittelbare Vollbelastung der zu verlängernden Extremität erlaubt.
Das Grundprinzip der Kallusdistraktion und Beinverlängerung mittels externer (Ring-)Fixateure ist seit dem frühen 20. Jahrhundert bekannt. Die Kallusdistraktion mittels voll implantierbarer Verlängerungsmarknägel hingegen stellt erst seit zirka 30 Jahren ein etabliertes Verfahren zur Extremitätenverlängerung dar. Hierbei wird durch spezielle, von außen ansteuerbare Marknägel körpereigener, vollwertiger Knochen generiert. Dabei wird der zu verlängernde Knochen über einen kleinen Hautschnitt von 1 cm durchtrennt und der Verlängerungsmarknagel über einen weiteren kleinen Hautschnitt axial in den Markraum des Knochens eingebracht. Nach wenigen Tagen kann dann der im Implantat einliegende Motor zum Beispiel dreimal täglich eine Minute aktiviert werden und auf diese Weise den im gesetzten Buchspalt gebildeten sogenannten Kallus 1 mm am Tag aufweiten. So bildet sich täglich neuer, vollwertiger Knochen. {pborder}
Die Anwendung von Verlängerungsmarknägeln vereint eine minimalinvasive OP-Technik mit der biomechanischen Überlegenheit und höheren Stabilität eines intramedullären Kraftträgers. Ein gutes Dutzend verschiedener Systeme von Verlängerungsmarknägeln ist bekannt, wobei der erste, in großer Stückzahl weltweit angewandte elektrisch angetriebene Distraktionsmarknagel (Fitbone) in den frühen 1990er- Jahren am Standort Innenstadt der heutigen Klinik für Allgemeine, Unfall- und Wiederherstellungschirurgie der Ludwig-Maximilians-Universität München entwickelt wurde.
Als aktueller Stand der Technik ist das magnetomechanisch angetriebene System des „Precice“-Verlängerungsnagels anzusehen, welches in seiner neuesten Version („Precice Stryde“) eine unmittelbare Vollbelastung der zu behandelnden Extremität erlaubt. Mit geeigneter Analyse, Planung und technischer Umsetzung sind heutzutage neben reiner Verlängerung auch komplexe Deformitätenkorrekturen mit Verlängerungsnägeln möglich. Als übliche Indikationsgrenze zur operativen Korrektur sind Beinlängendifferenzen ab 2 cm anzusehen.
Im Rahmen einer einzeitigen Verlängerungsbehandlung lassen die derzeitigen Implantate üblicherweise maximale Distraktionsstrecken von bis zu 80 mm zu. In unserem Patientenkollektiv finden sich jedoch auch zahlreiche Fälle mit kombinierten Verlängerungen von Ober- und Unterschenkel oder auch Fälle mit mehrzeitigem Vorgehen, bei denen problemlos Verlängerungsstrecken von deutlich über 10 cm realisiert werden können. Dieser Artikel soll dem Leser einen Überblick über die Möglichkeiten der Deformitätenkorrektur mittels Verlängerungsmarknägeln geben. Besonderes Augenmerk wird hierbei auf die Möglichkeit zur simultanen Längen-, Achs- und Torsionskorrektur als auch auf die aktuelle Technik der verwendeten magnetomechanischen Implantate gelegt.
Zur Korrektur traumatisch erworbener, entwicklungsbedingter und angeborener Defekte, Deformitäten und Längen-Differenzen der unteren Extremität stehen verschiedene operative Verfahren zur Verfügung. Das Prinzip der Kallusdistraktion wird am häufigsten bei Längenkorrekturen über 2 cm angewendet: Nach schonender Durchtrennung des Knochens setzt im Osteotomiespalt eine Knochenheilung über Kallusbildung ein. Wenige Tage später wird damit begonnen, diesen Kallus graduell mit ca. 1 mm pro Tag zu dehnen. Im Anschluss an die Distraktionsphase konsolidiert der Kallus zunehmend (Konsolidierungsphase) bis er nach etwa der doppelten Zeit vollwertigen Knochen darstellt (Remodelling).
Zur Stabilisierung der Knochenfragmente können verschiedene Verfahren zur Anwendung kommen. Während in den Anfangszeiten der Knochenverlängerung die alleinige Anwendung von klassischen Ringfixateuren nach Ilizarov üblich war [1], ist inzwischen alternativ auch die Kombination von externen Fixateuren mit Marknägeln oder auch Platten möglich, so dass der Fixateur externe primär nur als Antrieb der Verlängerung und weniger zur Stabilisierung genutzt wird. Vorrangige Nachteile externer Fixateure sind eine oft reduzierte Gelenkbeweglichkeit, Weichteilverzug, oberflächliche Pin-Infekte sowie tiefe Infekte und stark reduzierter Tragekomfort.
Der stigmatisierende Aspekt der deutlich sichtbaren und oft über Monate zu tragenden Fixateure, als auch die damit verbundenen Einschränkungen im Alltag sollten zudem nicht unterschätzt werden. Wesentlicher technischer Vorteil externer Fixateure ist die Option für spätere Umbauten und Korrekturen, was sich besonders bei den modernen, computergestützt programmierbaren Hexapod-Systemen zeigt. Diese Systeme stellen daher auch weiterhin eine etablierte Behandlungsoption in der Deformitätenchirurgie dar.
Bei voll implantierbaren, intramedullären Distraktionsmarknägeln entfallen die genannten Nachteile einer Behandlung mittels Fixateur externe. Der Patientenkomfort ist deutlich höher, die Weichteile sind geschlossen und die Gelenkbeweglichkeit wird durch das Implantat nicht begrenzt.
Geschichte der Verlängerungsmarknägel
Verlängerungsmarknägel sind die Fusion aus den Prinzipien der Kallusdistraktion (Alessandro Codivilla, 1905) und Marknägel (Gerhard Küntscher, 1940). Seit ersten experimentellen Implantaten (Götz, Schellmann, 1975) ist bis heute ein knappes Dutzend verschiedener Systeme mit breiterer klinischer Anwendung bekannt. Sie unterscheiden sich durch Antriebskonzepte, Dimensionen, Hub und Materialien. Die Kallusdistraktion mittels interner Systeme hat am Klinikum der Universität München (LMU) eine lange Tradition. Witt et al. beschrieben bereits 1978 die Anwendung eines ersten voll implantierbaren Plattensystems zur Kallusdistraktion.
1990 beschrieben Brunner et al. ihre tierexperimentellen Ergebnisse mit Fixateur-externe-getriebener Kallusdistraktion über einen einliegenden Marknagel. Im selben Jahr präsentierten Betz et al. erste Ergebnisse mit einem voll implantierbaren, elektro-motorisch angetriebenen Distraktionsmarknagel (später Fitbone®) ebenfalls am Klinikum der Universität München (LMU) [2]. Beim „Fitbone“-Nagel wird Strom perkutan auf eine subkutan implantierte Induktionsspule außerhalb des Nagels übertragen. Hierdurch wird ein Elektromotor angetrieben, welcher die Verlängerung des Nagels antreibt.
Zwischenzeitlich waren ratschengetriebene, voll implantierbare Distraktionsmarknägel in Russland von Bliskunov (1983) und in Frankreich von Guichet (1988) beschrieben worden. Weltweit große, kommerzielle Verbreitung erlangte der von Cole et al. 2001 präsentierte mechanische Distraktionsmarknagel (ISKD), welcher durch einen feinmechanischen Rollratschen-Mechanismus angetrieben wurde [3]. Auf Grund der schwierigen Steuerbarkeit des Distraktionsvorganges und der damit verbundenen hohen Anzahl unerwünschter Behandlungsverläufe wurde das Implantat 2012 vom Markt genommen.
Magnetisch angetriebene Verlängerungsmarknägel
Eine neue Ära des Antriebskonzeptes wurde im 21. Jahrhundert mit dem magneto-mechanischen Antrieb von Verlängerungsmarknägeln begonnen. Ab 2011 konnten bei uns in der 3D-Chirurgie in einer Fallserie von elf Fällen mit dem magneto-mechanischen Distraktions-Marknagel „Phenix“ (Phenix® medical, Paris, Frankreich) erste Erfahrungen gesammelt werden [4]. Damals wurde jedes dieser Implantate nach unseren Vorgaben individuell angefertigt.
Der aus Edelstahl gefertigte „Phenix“-Verlängerungsmarknagel war als erster magneto-mechanisch angetrieben. Die Magnetkraft eines starken „master“-Magneten wird perkutan von außen auf einen im Implantat befindlichen „slave“-Magneten übertragen. Der „slave“-Magnet treibt hierbei direkt die Spindel des Teleskopmechanismus an. Um eine ausreichende Kraftübertragung zu gewährleisten, sind als „master“-Magnet relativ große und zugkräftige Neodym-Magnete erforderlich, welche bei Direktkontakt mit ferromagnetischem Material Haltekräfte von mehreren Kilonewton aufbauen können.
Jedoch können durch den anatomisch bedingten Abstand von Implantat und „master“-Magnet nur geringe Kontaktkräfte auf der Körperoberfläche des Patienten auftreten. Mit dem tragischen Unfalltod des Erfinders Arnaud Soubeiran im Jahr 2012 wurde die Produktion dieses einzigartigen und innovativen Implantates leider eingestellt.
Der „Precice“-Verlängerungsmarknagel
Die Ergänzung des magnetischen Direktantriebes durch ein Getriebe führte zur aktuellen Generation magnetomechanisch angetriebener Distraktions-Marknägel: Der „Precice“-Nagel ist ein kommerziell gefertigtes Implantat der amerikanischen Firma Nuvasive welches erstmals im Juni 2011 in der Türkei von Kucukkaya [5] implantiert wurde. Seither ist der aus Titan gefertigte „Precice“-Nagel als der innovativste und am weitesten verbreitete Verlängerungsnagel anzusehen. Im Nagel ist der „slave“-Magnet mittels eines Stufengetriebes mit der Antriebsspindel gekoppelt.
Dadurch ist eine geringere Magnetkraft der Antriebsmagnete erforderlich. Zudem kommen zwei „master“-Magnete zum Einsatz, welche durch den sogenannten „External Remote Controller“ (ERC) elektrisch angetrieben in Rotation gebracht werden (vgl. Abb. 1). Hierdurch wird der Distraktionsvorgang für den Patienten vereinfacht und weitestgehend automatisiert. Die durchgeführten Distraktionsvorgänge werden im ERC integrierten Computer erfasst.
Hierbei handelt es sich jedoch nicht um telemetrische Daten, so dass eine regelmäßige radiologische Kontrolle auch beim „Precice“-Nagel unerlässlich ist. Die sehr einfache Bedienung kann für eine individuelle Anpassung der Distraktionsgeschwindigkeit genutzt werden. Hindernisse während der Distraktion wie Kontrakturen oder verzögerte Kallusbildung können somit mittels verlangsamter Distraktionsgeschwindigkeit oder intermittierender Verkürzung adressiert werden.
In der aktuellen Generation (P2.1) steht eine große Auswahl an Implantat-Abmessungen zur Verfügung. Geringe Nageldurchmesser und -längen erlauben auch eine Anwendung am Oberarm sowie in Sonderfällen bei Kindern [6].
Klinisch-radiologische Untersuchungen vor der Implantation
Bei der Behandlung von Längendifferenzen der unteren Extremität gibt bereits die anamnestisch zu erhebende Ursache der Deformität wesentliche Hinweise auf zu erwartende Besonderheiten im Behandlungsverlauf. Im Wesentlichen muss zwischen anlagebedingten und erworbenen Beinlängendifferenzen (BLD) unterschieden werden. Erworbene BLD sind meist traumatisch bedingt, vor oder nach dem Wachstumsabschluss.
Einen Sonderfall nehmen Beindeformitäten als Folgezustand einer Poliomyelitis ein, da hier begleitend schwierig zu behandelnde weichteilige Funktionsdefizite vorliegen. Meistens sind bezüglich des Weichteilmanagements im Erwachsenenalter erworbene, posttraumatische Deformitäten unproblematisch zu behandeln, da in diesem Patientenkollektiv von einem normal angelegten Muskel-, Sehnen- und Bandapparat ausgegangen werden kann. Frühkindlich erworbene oder anlagebedingte BLD erfordern häufiger besonderes Augenmerk, da transiente Gelenkkontrakturen während der Verlängerungsbehandlung ein Problem darstellen können.
In unserer Arbeitsgruppe werden alle Patienten gemäß einem Untersuchungsstandard erfasst, welcher neben der präzisen klinischen Bestimmung der BLD mittels Brettchen-Unterlage die komplette Untersuchung der Bewegungsausmaße der Gelenke an der unteren Extremität beinhaltet. Als radiologische Basisdiagnostik wird dann eine Ganzbeinaufnahme beider Beine im Stehen mit Längenausgleich durch Brettchen-Unterlage angefertigt.
Anhand dieser Röntgenaufnahme werden in Anlehnung an den von Paley und Tetsworth beschriebenen Malalignement Test die mechanische Achsdeviation (MAD), die Beinlängen und Längen von Femur und Tibia, sowie die Gelenkwinkel bestimmt [7]. Durch diese Analyse wird die Deformität lokalisiert und die Entscheidung getroffen, ob Femur und/oder Tibia zum Ausgleich der Beinlänge verlängert werden müssen. Zudem wird Art und Ausmaß einer ggf. zur Verlängerung simultan durchzuführenden Achskorrektur festgelegt. Ein besonderes Augenmerk sollte zudem auf Torsionsdeformitäten gelegt werden.
Besteht bei seitendifferenter Rotationsfähigkeit der Hüftgelenke oder unphysiologischer Unterschenkel-Außentorsion der klinische Verdacht auf das Vorliegen einer Torsionsdeformität, sollte eine Computertomografie zur Torsionsmessung erfolgen. Liegt in der Ganzbeinaufnahme eine auffällige Schenkelhalsneigung vor, kann dies auch Hinweis auf eine Torsionsdeformität sein, da die Projektion der Schenkelhalsneigung durch die Rotation und Torsion entlang der Schaftachse beeinflusst wird. Zur Analyse der Geometrie des proximalen Femur sollte daher der mediale proximale Femurwinkel (MPFW) bestimmt werden, der eine geringere Rotationsanfälligkeit als der CCD-Winkel aufweist [8].
OP-Planung und Technik
Im Gegensatz zur Verlängerungsbehandlung mittels Fixateur externe erfordern voll implantierbare Systeme ein hohes Maß an Vorbereitung (Analyse und Planung) und eine hochpräzise intraoperative Umsetzung, weil nach Abschluss der Operation keine Nachkorrekturen der Achse oder der Torsion mehr möglich sind. Grundvoraussetzung zur Behandlung solch komplexer Deformitäten ist die präoperative Planung in „End Point First (EPF)“-Methode, wodurch das geeignete Implantat, die Lokalisation der Osteotomie sowie der erforderliche Implantathub festgelegt werden.
Bei der EPF-Planung wird auf der Röntgenganzbeinaufnahme zunächst zeichnerisch eine „neue Mechanische Achse (nMA)“ festgelegt. Bei unifokalen Deformitäten (Femur oder Tibia) wird die Achse über das Zentrum von Hüftgelenk bzw. Sprunggelenk und dem gewünschten Schnittpunkt der nMA mit der Kniegelenksebene definiert. Bei bifokalen Deformitäten (Femur und Tibia) werden zur Festlegung der nMA physiologische Werte für den „mechanischen Lateralen Distalen Femurwinkel (mLDFW)“ und den „Medialen Proximalen Tibiawinkel (MPTW)“ zur Inklination der nMA verwendet und ebenfalls der gewünschte Schnittpunkt der nMA auf Kniegelenksebene festgelegt.
Der Endpunkt von Längen- und Achskorrektur liegt nun per definitionem auf der neu konstruierten nMA und kann mittels Abmessen der erforderlichen Gesamtbeinlänge (meist die Länge des kontralateralen Beines) auf der nMA festgelegt werden. Unter Variation der Osteotomiehöhe wird nun die spätere Lage des Verlängerungsnagels im metaphysären Anteil und im Markraum des zu verlängernden Knochens konstruiert.
Nach grafischer Konstruktion des Endpunktes der Behandlung (Abb. 2, grünes Femurfragment) wird der Umriss des teleskopierenden Anteils des Knochens kopiert und entlang der Marknagelachse bis zur Osteotomie zurückgeführt (Abb. 2, rotes Femurfragment). Hierdurch werden grafisch die Inklination und der Hub des Nagels festgelegt, welche erforderlich sind, um den Endpunkt der Distraktionsbehandlung zu erreichen.
Intraoperativ wird das geplante Operationsergebnis radiologisch mittels Planfeldmethode kontrolliert. Diese, in unserem Haus entwickelte Technik, ermöglicht die intraoperative Bestimmung der Mechanischen Achsdeviation (MAD) am liegenden Patienten während der Operation. Weitere Zielparameter sind zudem die Marknagelbahn im metaphysären Knochenteil, sowie die Translation der Fragmente und „Wedge“-Konfiguration auf Höhe der Osteotomie. Um reproduzierbare und vergleichbare Aufnahmen zu erlangen, müssen die intraoperativen Aufnahmen sowie die präoperative Ganzbeinstandaufnahme jeweils mit zentrierter Patella angefertigt werden.
Als Marker zur Torsionskontrolle sollten die Projektion des Trochanter minor, bzw. am Unterschenkel der klinische Befund der Unterschenkel-Außentorsion beachtet werden. Am Oberschenkel ist zusätzlich zu genannter radiologischer Kontrolle die intraoperative Anlage von perkutanen Fixateur Pins zur Kontrolle der Torsionseinstellung üblich. Um ein Gleiten des Verlängerungsmarknagels im Markraum sowie eine vollflächige Abstützung des Implantates zu ermöglichen, werden in unserer Abteilung starre Fräser zur Markraumüberbohrung benutzt (Abb. 3).
Durch diese aufwändige und anspruchsvolle OP-Technik, kann ein übermäßig starkes Aufbohren des Markraumes mit flexiblen Bohrern vermieden werden. Wesentlicher Vorteil dieser Technik ist zudem die präzise Präparation der metaphysären Marknagelbahn, wodurch eine genaue simultane Achskorrektur erst ermöglicht wird.
Klinischer Verlauf einer Beinverlängerung
Der übliche klinische Verlauf einer Beinverlängerung mittels Verlängerungsmarknagel schränkt die Lebensqualität der Patienten weitaus weniger ein, als oft erwartet. Anders als bei der Behandlung mittels Fixateur externe, entfällt eine aufwändige Fixateur-Pflege und es kommt durch das vollimplantierte System zu keinen wesentlichen Einschränkungen im täglichen Leben. Der übliche Ablauf besteht aus zwei ambulanten präoperativen Vorstellungen zur Analyse, Planung und OP-Vorbereitung, gefolgt von einem zirka einwöchigen stationären Aufenthalt zur Durchführung der OP, der postoperativen physiotherapeutischen Mobilisierung und dem Beginn des eigentlichen Verlängerungsvorganges.
In Folge des Krankenhausaufenthaltes ist der Patient selbstständig in der Lage, den Verlängerungsvorgang durchzuführen und üblicherweise ist eine weitere klinische und radiologische ambulante Kontrolle im ein- bis zweiwöchigen Abstand während der Verlängerungsphase ausreichend. Die Distraktionsgeschwindigkeit beträgt 1 mm/d, kann jedoch an die klinischen Gegebenheiten angepasst werden. Gründe für eine Verlangsamung der Distraktionsgeschwindigkeit sind beispielsweise die Prophylaxe von muskulär bedingten Kontrakturen oder ein zu geringes Knochenbildungspotenzial.
Meist zeigt sich eine Konsolidierung des Kallus nach ungefähr der doppelten Distraktionsdauer. Bei den bisherigen Standardimplantaten ist während der Distraktion bis zum Abschluss der Konsolidierung eine Teilbelastung der Extremität mit 20 kg einzuhalten, sodass zum Beispiel bei der Behandlung einer Beinlängendifferenz von 30 mm von einer Dauer der Teilbelastung von insgesamt zirka drei Monaten auszugehen ist. Vorhandene Schuherhöhungen zum Beinlängenausgleich sollten während der Verlängerung schrittweise gekürzt werden, um Längendifferenzen der Beine von mehr als 2 cm zu vermeiden.
Während der gesamten Behandlungsdauer ist eine engmaschige krankengymnastische Beübung und Eigenbeübung essentiell, um Einschränkungen der Gelenkbeweglichkeit mit einer im Rahmen der Verlängerung einhergehenden, relativ zunehmenden muskulären Verkürzung zu vermeiden. In ganz seltenen Ausnahmefällen können bei schwerer Instabilität oder muskulären Schwächen zur Behandlung von Spitzfuß- und Kniegelenkskontrakturen Lagerungs- und Quengelschienen erforderlich werden. In der Regel sind diese Phänomene jedoch transient und durch konsequente Beübung und Mitarbeit des Patienten krankengymnastisch behandelbar.
Ist das alles nicht schmerzhaft?
Eine in Bälde veröffentlichte Studie unserer Arbeitsgruppe kann anhand von einigen hundert Patienten geführten Protokollen nachweisen, dass die Verlängerungsbehandlung als wenig schmerzhaft empfunden wird. In der Frühphase zeigten sich in allen Fällen herkömmliche orale Schmerzmittel als ausreichend, und nicht selten konnte noch während der Verlängerungsphase komplett auf die Einnahme von Schmerzmitteln verzichtet werden. Die Patienten gaben im Mittel auf der Nominal Rating Scale (NRS, 0-10 Punkte, wobei 0 keinen und 10 stärksten Schmerz bedeutet) in der Zeit nach der Operation eine „2“ an, später während der Verlängerung eine „1“.
Klinische Erfahrungen mit dem „Precice“-Verlängerungsmarknagel
Der „Precice“-Verlängerungsmarknagel wurde in unserer Abteilung seit 2013 angewendet. Die Ergebnisse sind insgesamt zu bisherigen Implantaten vergleichbar, bei einer verbesserten Zuverlässigkeit des Distraktionsvorganges und einer nur geringen Rate an Distraktionsversagen. In unserem Patientenkollektiv ist ein kompletter Implantatbruch eines frühen „Precice“-Implantates zu verzeichnen, sowie zwei Fälle mit einem technischen Versagen der Rotationssicherung des teleskopierenden Teils des Nagels. Dies kann während der Distraktion zu einem Distraktionsstopp und bei abgeschlossener Distraktion durch Rotationsinstabilität zu einer verzögerten Regeneratbildung führen.
Die technisch-konstruktiv bedingten Schwächen des Implantates, welche weltweit auch von anderen spezialisierten Kollegen berichtet wurden, sind durch den Hersteller jeweils unmittelbar behoben worden. Das Implantat unterlag in der Anfangszeit einer raschen und stetig verlaufenden Optimierung, sodass unter Anwendung der aktuellen Generation des Implantates deutlich weniger technisch bedingte Komplikationen, als mit anderen Verlängerungsnägeln zu beobachten sind. Insgesamt ist der „Precice“-Nagel als bisher zuverlässigster und am weitesten entwickelter Verlängerungsmarknagel anzusehen [9,10].
Anfang 2019 konnten wir in unserer Arbeitsgruppe erstmalig den „Precice Stryde“ anwenden. Dieser Verlängerungsnagel besitzt denselben getriebegestützten magneto-mechanischen Antrieb wie der Standard „Precice“-Nagel, ermöglicht jedoch aufgrund höherer Stabilität die unmittelbare Vollbelastung bis zu einem Körpergewicht von 100 kg, je nach Stärke des Implantates. Hierdurch kann der bisher obligate Gang an Unterarmgehstützen entfallen, da eine Teilbelastung während der Distraktions- und frühen Konsolidierungsphase nicht erforderlich ist.
In Folge werden völlig neue Behandlungsstrategien und –abläufe möglich, wie zum Beispiel die simultane, zeitgleiche Verlängerung beider Beine unter weitgehendem Erhalt der Mobilität des Patienten. Ebenso sinkt in der Behandlung adipöser Patienten das Risiko einer Implantat-Überlastung. Erstmals in Europa konnte im Januar dieses Jahres die 3D-Chirurgie das neuartige, voll belastbare Implantat („Precice Stryde“) bei einer kleinwüchsigen Patientin zur multidimensionalen Deformitätenkorrektur und zeitgleichen Verlängerung an beiden Ober- und Unterschenkeln zur Anwendung bringen.
Anschrift für die Verfasser:
Dr. med. Peter H. Thaller
MSc Arbeitsgruppe 3D-Chirurgie Klinikum der Universität München Klinik für Allgemein-, Unfall- und Wiederherstellungschirurgie
Nußbaumstraße 20
80336 München
pthaller@med.lmu.de
Tel. 0 89-44 00-5 54 01
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