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10. Januar 2018
Redaktion

Sepsis – ein unterschätztes Krankheitsbild

Von Frank M. Brunkhorst und Roland P. H. Schmitz
Zur Blutvergiftung oder Sepsis kommt es, wenn eine Infektion im Körper außer Kontrolle gerät. Sie kann schnell lebensgefährlich werden, eine rasche Diagnose und Therapie ist bei diesem unterschätzten Krankheitsbild angesagt.


Sepsis,
Foto: Kateryna kon/Fotolia

Sepsis ist eine seit Jahrhunderten gefürchtete Komplikation von Infektionserkrankungen. Die unverändert ­hohe Akut- und Langzeitsterblichkeit durch vorwiegend bakteriell ausgelöste Sepsis gefährdet die Behandlungsergebnisse fortgeschrittener Therapieverfahren zahlreicher Fachgebiete der modernen Hochleistungsmedizin (zum Beispiel) Abdominalchirurgie, Transplantationsmedizin und Hämatologie/Onkologie) zunehmend. Insgesamt steigt die Sepsisinzidenz aufgrund der demografischen Entwicklung in allen industrialisierten Ländern.

Definition der Sepsis

Kliniker, Epidemiologen und Mikrobiologen verwenden gewöhnlich unterschiedliche Definitionen und Terminologien für die Sepsis. Grundlage der aktuellen Sepsisdefinitionen sind die ­bereits 1992 publizierten sogenannten Konsensuskonferenz-Kriterien des ­American College of Chest Physicians (ACCP) und der Society of Critical ­Care Medicine (SCCM) [1] (modifiziert [2]).

Die Deutsche Sepsis-Gesellschaft (DSG) und die Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) haben aufbauend auf diesen Definitionen und unter Nutzung der in klinischen Studien des Kompetenznetzwerkes Sepsis (SepNet) bereits seit 2003 verwendeten und klinisch bewährten Sepsis-Definitionen eigene ­Kriterien entwickelt, die seit 2005 auch Bestandteil der deutschen S2k-Sepsis-Leitlinien sind (Tabelle 1).

Epidemiologie

Nach aktuellen Daten zur Sepsis-Inzidenz des Zentrums für Sepsis und Sepsisfolgen (CSCC) am Universitätsklinikum Jena wurden im Jahre 2011 in deutschen Krankenhäusern insgesamt 175051 Patienten mit septischen Erkrankungen behandelt, davon 87150 Patienten mit Sepsis, 69016 mit schwerer Sepsis und 18885 mit septischem Schock. Das mittlere Alter betrug 67,5 (SD 19,7) Jahre und nahm mit dem Schweregrad zu. Dies entspricht einer ­Inzidenz von 106/100000 Einwohnern für die Sepsis, 84/100000 für die schwere Sepsis und 23/100000 für den septischen Schock (Tabelle 2).

Die Krankenhaussterblichkeitsraten betrugen 10,5 Prozent für Sepsis, 42,8 Prozent für die schwere Sepsis und 60,5 Prozent für den septischen Schock.

Insgesamt nur 37,8 Prozent der Fälle wurden auf Intensivstationen behandelt, davon 19,6 Prozent mit Sepsis, 50,7 Prozent mit schwerer Sepsis und 74,3 Prozent mit septischem Schock [3].

Atemwegsinfektionen waren die häufigste Infektionsquelle (Sepsis: 7,8 ; schwere Sepsis: 48,2 %; septischer Schock: 60,2 %), gefolgt von Weichteil/Knocheninfektionen (17,4, 20,4 und 
25,7 %), sowie intraabdominalen Infektionen (11,4, 18,1 und 25,9 %).

Die häufigsten Sepsiserreger waren ­Staphylococcus aureus (26,8 %), Escherichia coli (44,7 %) und Streptokokken (18,7 %). Pseudomonas spp. waren lediglich in 4,6 Prozent Auslöser der Sepsis.

Die Ergebnisse sind relativ konsistent mit SepNet-Daten zur Prävalenz septischer Erkrankungen aus dem Jahr 2004, nach denen die Inzidenz der schweren Sepsis und des septischen Schocks in Deutschland auf 110/10000 Einwohner (insgesamt 75000 Patienten/Jahr) lediglich geschätzt und Patienten unter 16 Jahren nicht berücksichtigt wurden [4].

Die Inzidenz im Krankenhaus wird möglicherweise unterschätzt, auf Intensivstationen eher überschätzt. Die Krankenhaussterblichkeit von Patienten mit Sepsis, schwerer Sepsis und septischem Schock in Deutschland bleibt jedenfalls unverändert alarmierend hoch.{pborder}

Sepsis-Diagnostik Blutkulturdiagnostik

Das bisherige Scheitern neuer Ansätze zur Behandlung der Sepsis ist eng mit den Defiziten einer differenzierten Diagnosemöglichkeit verbunden. Der Nachweis von Mikroorganismen durch die Blutkultur ist für eine adäquate antimikrobielle Therapie der Sepsis unabdingbare Voraussetzung. Die Kenntnis des ­Erregers und seiner Antibiotika-Empfindlichkeit erlaubt dann nach Einleitung einer empirischen Therapie eine gezielte antimikrobielle Therapie und stellt die Weichen für weitere diagnostische Maßnahmen. Dies verbessert die Prognose [5], verkürzt die Liegedauer und hilft, ­eine antimikrobielle Übertherapie zu vermeiden. Die Blutkulturdiagnostik ist ­damit eines der wichtigsten mikrobiologischen Untersuchungsverfahren in der Therapie der Sepsis.

Der Nachweis einer Bakteriämie oder Fungämie bei schwerer Sepsis oder septischem Schock gelingt unter kontrollierten Studienbedingungen – wo eine­ Blutkulturdiagnostik für den Studien­einschluss gefordert wird – immerhin in zirka 30 – 40 Prozent der Fälle [6]. Im klinischen Alltag deutscher Intensivstationen sind jedoch nur zirka 8 – 10 Prozent der Blutkulturen bei Patienten mit schwerer Sepsis positiv. So konnte trotz klinischer Zeichen einer schweren Sepsis in der SepNet-Prävalenzstudie lediglich in 55 Prozent der Fälle die zugrunde­liegende Infektion mikrobiologisch nachgewiesen und nur in 9,6 Prozent der Fälle durch eine positive Blutkultur dokumentiert werden [4].

Der Anteil mikrobiologisch dokumentierter Infektionen nahm mit einer geringeren Größe des Krankenhauses und der damit verbundenen reduzierten Verfügbarkeit eines mikrobiologischen Labors am Standort der Klinik ab.

Die Rate an abgenommenen Blutkultur-Sets sollte – je nach Ausrichtung des Krankenhauses – zwischen 100 und 200 auf 1000 Patiententage, die Positivitätsrate (Anteil von positiven Blutkulturen unter allen abgenommen Blutkulturen) nicht unter 5 Prozent und nicht über 15 Prozent betragen [7]. Jedoch weisen aktuelle Daten auf ein erhebliches und weithin unterschätztes Defizit in der Veranlassung einer adäquaten mikrobiologischen Diagnostik der Sepsis hin und ­legen einen nicht leitliniengerechten Umgang mit der Blutkulturdiagnostik insbesondere auf deutschen Intensivstationen nahe. Nach einer Erhebung des Nationalen Referenzzentrums für Surveillance von Nosokomialen Infektionen (NRZ) an 223 beteiligten Intensivstationen des „Krankenhaus Infektions-Surveillance System (KISS)“ wurden im Jahr 2006 im Median 60 Blutkulturpaare (BK) pro 1000 Patiententage mit einer großen Variationsbreite von 3,2 – 680/1000 abgenommen [8]. Eine Erhöhung der BK-Untersuchungshäufigkeit von 1 BK-Set/10 Patiententage führte zu einer 1,37-fach höheren Inzidenzdichte bei allen Sepsisfällen [95%-Konfidenzintervall (95 %-KI) 1,12 – 1,67] beziehungsweise zu einer 1,27-fach höheren Inzidenzdichte bei der ZVK-assoziierten Sepsis (95 %-KI 1,04 – 1,55).

Biomarker

Risikofaktoren für das Entstehen von infektionsortfernen Organdysfunktionen bei septischen Patienten sind neben einer inadäquaten Gewebeperfusion und -oxygenierung die systemische Inflammation (SIRS) [9]. Diese bewirkt zahlreiche Veränderungen im zellulären Stoffwechsel immunkompetenter und parenchymatöser Zellen, wie die Induktion von pro- und antiinflammatorischen Mediatoren und Metaboliten, ­Bildung von oxidativen Radikalen, Änderung der immunologischen Reaktivität, sowie der Synthese von Akut-Phase-Proteinen 
(unter anderem Procalcitonin, C-reaktives Protein, Lipopolysaccharid-bindendes Protein).

Procalcitonin (PCT) ist der derzeit am besten in klinischen Studien untersuchte Sepsismarker. Das Prohormon von Calcitonin wird unter physiologischen Bedingungen von den C-Zellen der Schilddrüse gebildet. Lediglich das reife Hormon wird unter physiologischen Bedingungen in die Blutbahn sezerniert. Der Referenzbereich im Serum oder Plasma bei gesunden Normalpersonen beträgt weniger als 0,005 ng/ml, sofern hochsensitive PCT-Assays verwendet werden. Unter den Bedingungen einer schweren Sepsis können die PCT-Konzentrationen bis auf das 5000 – 10000-fache ansteigen, während die Calcitonin-Konzentrationen im Plasma im Normbereich bleiben [10].

Im Gegensatz zu Calcitonin (Halbwertszeit (HWZ) ~10 min.), beträgt die HWZ von PCT ~24 Stunden. PCT ­ersetzt jedoch keinesfalls eine eingehende ­mikro­biologische Diagnostik und die klinisch-infektiologische Einschätzung einschließlich bildgebender Verfahren, sondern verbessert die diagnostische Präzision der Sepsisdiagnose im Kontext dieser Standardverfahren [11].

Antimikrobielle Therapie

Der globalen Ausbreitung bakterieller Resistenzen steht eine von Jahr zu Jahr abnehmende Anzahl neuer antiinfektiver Substanzen gegenüber. So dauert die Entwicklung eines neuen Antibiotikums „from bench to bedside“ acht bis zehn Jahre. Die gleichzeitige Dynamik der Resistenzausbreitung lässt befürchten, dass in absehbarer Zeit die Wirksamkeit und die Anzahl der dem behandelnden Arzt zur Verfügung stehenden Antibiotika deutlich eingeschränkt sein werden („postantibiotisches Zeitalter“).

Während in den 1990er-Jahren MRSA (Methicillin resistenter Staphylococcus aureus) als größte Herausforderung angesehen wurde, sind es mittlerweile multiresistente Gram-negative Bakterien (MRGN) und Vancomycin-resistente Enterokokken (VRE). Gerade bei Pa­tienten mit septischem Schock ist eine adäquate initiale antimikrobielle Therapie für die weitere Prognose entscheidend. Die Notwendigkeit einer schnellen Therapieeinleitung zwingt somit bei kritisch Kranken zu einer initial breiten antibiotischen Therapie, da ein zuverlässiges mikrobiologisches Ergebnis, inklusive Resistogramm, frühestens nach 36 bis 48 Stunden vorliegt (s. Empfehlungen der Leitlinie zur Prävention, Diagnose, Therapie und Nachsorge der Sepsis der Deutschen Sepsis-Gesellschaft 
e. V. (DSG) und der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) [12]). Neben der antimikrobiellen Therapie ist die frühzeitige und möglichst vollständige Sanierung der septischen Infektionsquelle Grundvoraussetzung für eine erfolgreiche Behandlung der schweren Sepsis und des septischen Schocks.

Risikofaktoren und Komplikationen

Das akute Nierenversagen (ANV, acute kidney injury) beschreibt eine abrupte und schwere Verschlechterung der Nierenfunktion und damit der glomerulären Filtrationsrate (GFR) bis hin zur Notwendigkeit einer Nierenersatztherapie. Die Inzidenz eines ANV stieg in den letzten Jahren stark an mit einer errechneten Steigerung um 10 Prozent pro Jahr [13]. Über 40 Prozent der septischen Patienten erleiden ein ANV [14]. Die Sterblichkeit betroffener Patienten ist mit zirka 30 – 40 Prozent gravierend. Je nach Definition sind es zwischen 5 Prozent und 10 Prozent der hospitalisierten Patienten. Das ANV ist dann der für die Prognose wichtigste Risikofaktor und spielt für die Langzeitmortalität und Morbidität eine entscheidende Rolle. Auf der ITS ist die Prävalenz je nach fachlicher Ausrichtung deutlich höher und liegt bei 20 – 30 Prozent. Die mit Abstand häufigste Ursache (> 50 %) für ein ANV auf der ITS ist die schwere Sepsis und der septische Schock [15].

Ein ANV selbst ist wiederum mit einem hohen Risiko für infektiöse bezie­hungsweise septische Komplikationen (> 40 %) verbunden [16]. Insgesamt entwickelt sich bei septischen Patienten ein ANV nur selten als isoliertes Organ­versagen. Es ist in der Regel mit anderen Organversagen assoziiert und hat eine multifaktorielle Ätiologie. Eine versagende Niere kann, durch Freisetzung in der Niere selbst gebildeter Entzündungsmediatoren, wiederum andere ­Organversagen hervorrufen („organ cross talk“). Ein ANV kann damit als ­„systemischer Krankheitsprozess“ angesehen werden.

Volumenmanagement und Insulintherapie bei Sepsis

Eine Volumensubstitution wird als erste Maßnahme zur hämodynamischen Stabilisierung bei Patienten mit Sepsis empfohlen, um eine Organdysfunktion oder einen kompletten Organausfall zu vermeiden. Ziel ist das Erreichen einer ausreichenden Gewebeperfusion durch Anhebung des intravasalen Volumens und/oder eine Steigerung der kardialen Kontraktilität. Vasokonstriktive Substanzen sollten dabei nur additiv und zeitlich begrenzt eingesetzt werden.

Neben der Volumenersatztherapie ist die Absenkung hoher Blutzuckerwerte ein weiteres Behandlungsziel. Im Rahmen einer prospektiven multizentrischen Studie des Kompetenznetzwerks Sepsis (SepNet; VISEP [17]) wurde 2008 der Einfluss einer intensivierten gegenüber einer konventionellen Insulintherapie bei Patienten mit schwerer Sepsis und septischem Schock untersucht, jedoch erwies sich eine intensivierte Insulintherapie bei Patienten mit schwerer Sepsis und septischem Schock als ungeeignet.

Langzeitfolgen der Sepsis

Nach überlebter Sepsis und schwerer kritischer Erkrankung leiden die Patienten unter signifikanten physischen, kognitiven und psychischen Problemen, die die Lebensqualität deutlich einschränken. Diese Probleme werden unter dem Begriff PICS (post intensive care syndrome) zusammengefasst [18] und umfassen als Krankheitsbilder die auf der Intensiv­station erworbene neuromuskuläre Schwäche, Depressionen, die posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) und schließlich die neurokognitive Dysfunktion. PTBS entsteht aus der traumatischen Erfahrung der Lebensbedrohung und der Hilflosigkeit während der Behandlung auf der Intensivstation. Die neurologischen Langzeitfolgen entstehen aus Komplikationen während der akuten Sepsis und bedingen hier verlängerte Beatmungszeiten, einen verlängerten Krankenhausaufenthalt, längere Rehabilitationszeiten und eine erhöhte Mortalität. Nach Überstehen der Akutphase der Sepsis spielen sie in der weiteren Versorgung eine zunehmend wichtige Rolle, sowohl für die ökonomische Belastung des Gesundheitssystems als auch für die Lebensqualität der betroffenen Patienten.

Ökonomische Bedeutung

Die direkten anteiligen Kosten (Medikation, Routinelabor, Mikrobiologie, Einmalartikel, Unterkunft, Personal), die ­allein für die intensivmedizinische Behandlung von Patienten mit schwerer Sepsis in Deutschland anfallen, liegen bei etwa 1,77 Milliarden Euro. Damit werden etwa 30 Prozent des Budgets für Intensiv­medizin in die Behandlung der schweren Sepsis investiert. Die indirekten Kos­ten, welche durch Produktivitätsverlust der Solidargemeinschaft entstehen, werden auf weitere etwa 4,5 Milliarden Euro geschätzt, sodass von Gesamtkosten im Krankenhaus von etwa 6,3 Milliarden Euro auszugehen ist, welche durch die schwere Sepsis in Deutschland verursacht werden.

Auf Basis der Daten eines großen deutschen Versicherungsunternehmens (13 Mill. Versicherte) wurden die krankenhausbezogenen Kosten für Patienten mit schwerer Sepsis (R65.1!) ermittelt. Die mittleren Kosten pro Fall betragen danach 59118 Euro für einen überlebenden und 52101 Euro für einen nicht-überlebenden Patienten. Legt man die aktuellen epidemiologischen Fallzahlen zugrunde, belaufen sich die direkten Kosten bei Erwachsenen über 20 Jahre auf jährlich rund 3,8 Milliarden Euro in Deutschland. Dem Humankapitalansatz folgend, belaufen sich die indirekten Kosten allein aufgrund vorzeitigen Todes auf zusätz­liche 2,43 Milliarden Euro [3].

Anschrift der Verfasser:
Frank M. Brunkhorst, Roland P. H. Schmitz
Zentrum für Klinische Studien (ZKS),
Center of Sepsis Control and Care (CSCC);
Universitätsklinikum der 
Friedrich-Schiller-Universität Jena,
Salvador-Allende-Platz 27, 07747 Jena
E-Mail: frank.brunkhorst@med.uni-jena.de

Ausgabe 01 / 2018

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Foto: Andrey Popov/Adobe Stock
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