Schützen sensomotorische Schuheinlagen vor Stürzen?
Für die randomisierte und kontrollierte Studie erhielten die Probanden nach zufälliger Zuordnung sensomotorische Einlagen, bettende Einlagen oder keine Einlagen. Die Wirkung des Trainings und der Einlagen wurde mittels der Posturografie sowie dem Functional-Reach-Test, dem Tinetti-Test, dem ABC-Scale, dem Einbeinstand sowie dem Chair-Rising-Test untersucht. Diese Studie zeigte klare Hinweise auf mögliche neue Einsatzgebiete sensomotorisch wirkender Schuheinlagen. Alle erhobenen Parameter verbesserten sich im Besonderen in der Gruppe der sensomotorischen Fußorthesen. Die positiven Ergebnisse deuten darauf hin, dass sensomotorische Einlagen auch in der Sturzprävention, zum Beispiel als Hilfsmittel bei propriozeptivem Training, zukünftig eine Rolle spielen könnten.
1. Einleitung
Der Sammelbegriff der sensomotorisch wirkenden Fußorthesen (SMFO), der auch vom Beratungsausschuss Orthopädietechnik der Deutschen Gesellschaft für Orthopädie und Orthopädische Chirurgie DGOOC verwendet wird, deutet bereits auf ein Hindernis in der Vergleichbarkeit etwaiger Studienergebnisse hin: Es existieren diverse Arten von sensomotorischen Schuheinlagen mit unterschiedlichen Wirkprinzipien und unterschiedlichen Bezeichnungen. Zusätzlich verkompliziert wird die Literatursuche durch die Verwendung verschiedener englischer Begriffe wie „Insoles“ und „Orthoses“.
Oft kann trotz intensivem Auseinandersetzen mit wissenschaftlichen Publikationen nicht genau gesagt werden um welche Art von sensomotorische Einlage es sich bei diesen Publikationen handelt, was diese Einlagen im speziellen auszeichnet, und mit welchen Ergebnissen anderer Studien diese Effekte vergleichbar wären.
Dies führte unter anderem zu der Bekanntmachung des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen (GKV-Spitzenverband) zur Fortschreibung der Produktgruppe 08 „Einlagen“ des Hilfsmittelverzeichnisses nach § 139 SGB V vom 24.10.2016 mit Gültigkeit ab 01.04.2017, in der es heißt: „Sensomotorische bzw. propriozeptive Einlagen sind im Hilfsmittelverzeichnis nicht berücksichtigt, da die hierfür erforderlichen Nachweise zum medizinischen Nutzen derartiger Produkte nicht vorliegen und darüber hinaus bei keiner Indikation die Behandlung mit sensomotorischen bzw. propriozeptiven Einlagen als dem allgemeinen Stand der medizinischen Erkenntnisse entsprechend angesehen werden kann.“
Besonders hinsichtlich der Behauptung der fehlenden Nachweise zum medizinischen Nutzen besteht eine merkliche Diskrepanz zur Versorgungsrealität, da immer wieder über individuell gute klinische Ergebnisse berichtet werden. Nichtsdestotrotz ist die Bekanntmachung nachvollziehbar, da in der Tat die Literatur noch nicht qualitativ hochwertige Studien in ausreichendem Maße aufweisen kann.
Das Ziel dieser Studie war es, das Indikationsspektrum sensomotorischer Schuheinlagen zu erweitern und auch Forschungsarbeiten in anderen Bereichen anzustoßen. Aufbauend auf klinischen Erfahrungen und Literaturrecherche wurde hierzu ein pragmatischer Ansatz verfolgt mit zwei wesentlichen Fragen:
- Verbessert propriozeptives Training mit propriozeptiven Einlagen (SMFOs) den Trainingseffekt?
- Profitieren sturzgefährdete Menschen mit altersbedingten unspezifischen posturalen Defiziten von SMFOs?
2. Hintergrund
Im Folgenden soll der wissenschaftliche Hintergrund skizziert werden, der zu den Studienfragen dieser Studie bezüglich der möglicherweise neuen Indikation geführt hat.
2.1 Stimulation der Steigbügelmuskulatur und Zehenflektoren durch gezielte Oberflächenstrukturen der SMFO
Ein wesentlicher anatomischer und physiologischer Faktor, auf den sich die Wirkprinzipien der SMFOs stützen, ist die Tatsache der muskulären Ansatzpunkte an den Tarsal- und Metatarsalknochen bzw. die Nähe zu diesen im Verlauf der Muskelsehnen. Besonders die sensomotorisch wirkende Schuheinlage nach Jahrling soll hier gewisse Dehnungsreize erzielen [1].
Hauptsächlich ist dabei medial der M. tibialis posterior zu nennen, dessen Sehne an der Unterseite des Os naviculare, am sustentaculum tali, am Os cuneiforme mediale sowie an den Basen der Metatarsalia II-IV ansetzt. Gemeinsam mit dem engen Sehnenverlauf des M. flexor hallucis longus sowie M. flexor digitorum longus am sustentaculum tali ist hier, genau distal davon, die Positionierung der medialen Rückfußstütze zu setzen um Dehnungsreize zu erzielen [2, 3].
Lateral sind die Mm. peronei brevis und longus Ansatzpunkt. Die Sehnen ziehen dorsal des Malleolus lateralis streng nach kaudal-ventral. Während die Sehne des M. peroneus brevis am Os Metarsale V ansetzt, zieht die Sehne des M.peroneus longus am Os cuboideum vorbei bis zum Os metatarsale I und Os cuneiforme mediale. Besonders ventrokaudal des Malleolus lateralis sind die Sehnen durch eine hohe Pelotte (Rückfußstütze) der SMFO zu beeinflussen. Die hohe Dichte an Rezeptoren (Sehnenspindeln, Golgi-Sehnenorganelle) im Übergang von Muskel zu Sehne reagiert hochsensibel auf Änderungen von Länge (Dehnung) und Spannung [4].
In einer bekannten Studie von Ludwig O. et al. konnte elektromyografisch eine signifikant erhöhte Muskelaktivität des M.peroneus longus in der mittleren Stützphase beim Gehen im Vergleich zu bettenden Einlagen gezeigt werden [3]. Es scheint, als werden durch die exakte Positionierung der lateralen Pelotte am Sehnenverlauf der Peronealmuskulatur bei der Körperlastübernahme Dehnreflexe über Typ-II-Afferenzen ausgelöst, die in weiterer Folge zu einer erhöhten Anspannung des Muskels führen. Reizung kutaner Mechanorezeptoren, sowie geringfügige Stellungsänderung des Os calcaneus mit konsekutiver Gelenkrezeptoraktivität (Korpuskuläre Rezeptoren und/oder freie Nervenendigungen) werden ebenso als Ursache der gemessenen erhöhten Muskelaktivität von den Autoren diskutiert.
Auch Baur et al. zeigte eine Aktivierung der Peronealmuskulatur durch eine Längsgewölbestütze in einer Studie an 17 ProbandInnen [5]. Ein weiteres Merkmal der sensomotorischen Einlagen nach Jahrling ist der Zehensteg. Dig. V bis II sind erhöht gelagert und die Tarsometatarsalgelenke dieser Zehen in einer Rinne etwas tiefer gelegen. Die Vorspannung der Zehenflexorensehnen könnte für eine höhere Bereitschaft und schnelle Ansteuerung etwaiger Ausgleichsbewegungen bei posturalen Defiziten sorgen.
2.2 Propriozeptoren an der Fußsohle und deren Degeneration im Alter
Die Funktion des Fußes als Tast- und Greiforgan ging im Laufe der Evolution zunehmend verloren. Nichtsdestotrotz sind die physiologischen Grundvoraussetzungen hierfür noch vorhanden. Die Mechanorezeptordichte der Fußsohle ist im Vergleich mit anderen Körperteilen sehr hoch, mit einem klaren Verteilungsmuster [6]. Besonders der laterale Fußrand, die Zehenballen sowie die Zehenspitzen sind stark mit Mechanorezeptoren ausgestattet.
Dabei handelt es sich vor allem um schnell-adaptierenden Mechanorezeptoren sowie langsam adaptierende Mechanorezeptoren Typ II (Ruffini-Korpuskeln). Die ankommenden Reize an der Fußsohle werden nach zentral weitergeleitet und dort verarbeitet. Sie beeinflussen die posturale Kontrolle, die Körperhaltung, sowie das Gangbild [7-9]. Besonders eindrücklich zeigt sich der Einfluss auf das Gleichgewicht durch gezielte Betäubung der Haut mittels Hypothermie.
Auch Vibrationsstimulationen an der Fußsohle können das Raumgefühl verändern. Bei liegenden Patienten mit verbundenen Augen kann die Illusion einer Schräglage erzeugt werden, wenn nur eine Fußsohle stimuliert wird [9]. Dabei ist dieses neurophysiologische empfindliche System hauptsächlich durch kleine dünne Nervenfasern aufgebaut und gerade kleinste Nervenendigungen degenerieren zunehmend im Alter.
Damit wird auch die abnehmende Reaktionsgeschwindigkeit im Alter erklärt [10]. Neben allen anderen wichtigen Faktoren im komplexen System der posturalen Kontrolle (visuelles System, Gleichgewichtsorgane, Muskelkraft, usw.) kann diese unspezifische Degeneration von Nervenfasern der Propriozeptoren und Mechanozeptoren letztendlich zu einer abnehmenden Gangsicherheit führen.
2.3 Die defizitäre posturale Kontrolle im Alter als ein Sturzfaktor
Die abnehmende Feinmotorik im Alter sowie die unspezifische Degeneration kleiner Nervenenfasern senken die Fähigkeit auf abrupte Änderungen der Statik (z. B. geschubst werden) schnell zu reagieren. Neben klaren organischen Korrelaten werden auch unspezifische posturale Defizite immer wieder als häufige Sturzursache genannt [11].
Stürze und deren Folgen ist ein wichtiges sozialmedizinisches Thema. Deren Vermeidung hat große Bedeutung. Nach der Gesundheitsberichterstattung des Bundes zu Unfallgeschehen bei Erwachsenen sind Stürze die häufigste Unfallursache [12]. Die Wahrscheinlichkeit steigt dabei mit zunehmendem Alter konstant an. Ebenso die Wahrscheinlichkeit von Knochenbrüchen mit Folgen. Die Folgekosten steigen dabei in Milliardenhöhen [12].
Somit ist klar, dass jede präventive Maßnahme wissenschaftlich evaluiert werden sollte, und sei sie auch eher unwahrscheinlich. Ein denkbarer Ansatz zur Verbesserung der Propriozeption im Alter, wäre der pragmatische Einsatz von sensomotorischen Einlagen.
Wenn dabei letztendlich Stürze vermieden werden könnten oder das Sturzrisiko gesenkt werden könnte, ist dies aus unserer Sicht ein legitimer Ansatz für eine Pilotstudie. Konsequent weitergedacht würde aus mehr Gangsicherheit auch mehr Aktivität im täglichen Leben folgen, was wiederum mehr tägliches „Training“ und wiederum Stärkung der posturalen Kontrolle bedeuten würde.
2.4 Verringerung der Sturzgefahr durch propriozeptives Training
Die gezielte Stimulation von Propriozeptoren fördert nachweislich die Balance [13 – 15]. Das Herbeiführen von Situationen an der Grenze der posturalen Kontrolle und das repetitive Überwinden solcher Schwellen, in denen der Körper nicht mehr den Soll-Wert aus dem herrschenden Ist-Wert durch muskuläre Korrektur der Statik erzielen kann, ist ein wesentliches Merkmal solch eines Trainings [16]. Dabei werden auch weiche Untergründe verwendet (Schaumstoffplatten o. ä.), teilweise Augen geschlossen, die Kontaktfläche zum Boden verkleinert (Zehenspitzengang) oder Balancierübungen gemacht.
Eine Schlüsselrolle in der Stabilität und posturalen Kontrolle des oberen Sprungelenks hat beim Menschen mit seinem bipedalen Gang die Steigbügelmuskulatur (Tibialisgruppe und Fibularisgruppe) sowie die Zehenflexoren und Extensoren. Eine Veränderung der Stellung oder der Spannung wird blitzschnell korrigiert. Ein adäquates Training der Propriozeption gelingt besonders, wenn die Veränderungen der Stellung und der Spannung über Propriozeptoren wahrgenommen werden kann. Ein verbesserter Input an der Fußsohle fördert somit auch die Balancefähigkeit (z. B. Tandemgang; Barfuß versus mit dicken Wollsocken).
Studienhypothese
Die Studienhypothese lautete, dass sturzgefährdete Menschen mit unspezifischen posturalen Defiziten und altersbedingter verminderter Propriozeption durch ein propriozeptives Training mit SMFOs nach Jahrling mehr profitieren als durch ein Training alleine oder mit bettenden Einlagen. Die nachgewiesen erhöhte Muskelstimulation durch gezielt gesetzte Pelotten fördert den Trainingseffekt und senkt somit die Sturzgefahr.
3. Material und Methoden
Die Studie wurde vorab umfassend geplant und durch ein positives Votum der Ethikkomission der Ludwig-Maximilians-Universität München bestätigt (Projekt-Nr.: 587-16). Zusätzlich wurde sie vorab offiziell registriert und geprüft (ClinicalTrials.gov Identifier: NCT03120156). Sie entspricht den Ethischen Grundsätzen für die medizinische Forschung am Menschen (Helsinki-Deklaration) und erfüllt alle Qualitätskriterien eines RCTs laut Consort-Statement 2010 (www.consort-statement.org).
3.1 Rekrutierung
Zwischen Februar und April 2017 wurde an der Klinik für Orthopädie, Physikalische Medizin und Rehabilitation die Rekrutierung zur Überprüfung der Einschlusskriterien für diese Studie gestartet. Dabei wurden Patienten ab 55 Jahre mit subjektiver Unsicherheit beim Gehen oder Stehen in die Rekrutierung eingeschlossen. Die Einschlusskriterien waren definiert als Alter 55 – 90 sowie das Vorliegen einer relevanten objektivierbaren Sturzgefahr ohne organisches Korrelat.
Dies wurde mittels validierten Tests und Anamnese überprüft und erfragt. Dabei gelten ein Functional-Reach-Test von < 30 cm, ein ABC-Score von < 70 % sowie bereits stattgefundene Stürze in den letzten 5 Jahren als relevante Risikofaktoren und Anzeichen erhöhter Sturzgefahr. Sofern erhöhte Sturzgefahr bestand und eine Zustimmung seitens der Patienten zur Studie stattgefunden hat, wurden noch Ausschlusskriterien überprüft, die eine Schlussfolgerung auf die Effekte der Einlagen eventuell erschweren würden.
Dazu gehörten der obligate Einsatz von Gehhilfen, neurologische und vestibulocochleäre Ursachen der Gangunsicherheit sowie orthopädische Pathologien am Fuß, die ein Wirken sensomotorischer Einlagen verhindert (z. B. Zehenamputationen).
3.2 Randomisierung und Einlagenherstellung
Nach Ende der Rekrutierungsphase wurden die Patienten innerhalb 3 Gruppen randomisiert. Die Randomisierung erfolgte mittels Zufallsgenerator bei Microsoft Excel (Version 2011). Je nach zufälliger Zuordnung erhielten die Probanden somit sensomotorische Einlagen (nach Jahrling), bettende Einlagen oder keine Einlagen. Dazu wurden die Probanden alle von demselben Orthopädietechniker (MK) vermessen und standardisiert Einlagen hergestellt.
Die Einlagen (Abb. 1) waren sowohl vom Material als auch der Optik identisch. Die speziellen Merkmale der SMFOs nach Jahrling sind in der Abbildung zu sehen und bereits mehrfach publiziert worden. Bei sensomotorischen Einlagen wurde die Pelottierung durch Feedback der Patienten nochmals abgeschliffen und optimiert. Nachdem alle Einlagen gefertigt wurden, begann ab Ende April 2017 das Propriozeptive Training.
3.3 Propriozeptives Training
Durch die Tatsache, dass ein Co-Autor (SR) Physiotherapeut ist, konnte ein standardisiertes propriozeptives Training angeboten werden (Abb. 2). Das Training umfasste Stabilitätsübungen, Kräftigungsübungen für die Steigbügelmuskulatur, Schnellkraft-Training sowie Training der Reaktionsgeschwindigkeit. Die Trainingseinheiten dauerten 45 min. und wurden 2-mal pro Woche durchgeführt. Dabei gab es zwei Trainingsgruppen, die jedoch dokumentiert und nachweisbar die identischen Trainingseinheiten erfahren haben. Die Verteilung von SMFO, bettenden und Kontrolle wurde in beiden Gruppen vergleichbar gehalten.
Durch das propriozeptive Training konnte gleichzeitig auch die Tragedauer der Einlagen bei allen Studienteilnehmern gleichgesetzt werden. Um zu verhindern, dass große Unterschiede in der Tragedauer innerhalb der Probanden zu einem Fehler in der Datenerhebung führen würden, bekamen alle die Einlagen nur ausschließlich zum Training ausgehändigt. Die Idee besteht darin, die Einlagen nicht nur als Hilfsmittel im täglichen Leben zu sehen, sondern als gezieltes Hilfsmittel bei angeleitetem propriozeptiven Trainingseinheiten einzusetzen.
3.4 Erhebungsparameter und Erhebungszeitpunkte
Als primärer Erhebungsparameter wurde die Posturografie festgelegt. Sekundärer Erhebungsparameter waren der Functional-Reach-Test, der Tinetti-Test, die ABC-Scale, der Einbeinstand sowie der Chair-Rising-Test. Alle Parameter wurden vor der Trainingsphase (T0, baseline) und nach der Trainingsphase (T1, follow-up nach 6 Wochen) erhoben.
Um einen Hinweis auf einen sofortigen Effekt auf die posturale Kontrolle zu erhalten, wurde die Posturografie noch zusätzlich unmittelbar nach Einlagenfertigung mit und ohne Einlage durchgeführt. Dabei wurde jeder Proband erstmals Barfuß getestet und danach unmittelbar nochmals entweder mit SMFO, bettender oder nochmals Barfuß, je nach randomisierter Gruppenzugehörigkeit. Die erneute Messung Barfuß bei der Kontroll-Gruppe war nötig, um einen eventuellen Trainingseffekt durch die erste Messung ausschließen zu können.
3.4.1 Posturografie
Gemessen wurde die Gleichgewichtsfähigkeit mittels einer hausinternen Messplatte, die als Grundlage eine Weiterentwicklung der Kistler-Kraftmessplattform Typ 9286BA ist [17, 18]. Übertragen und weiterentwickelt wurde die Technik auf ein Balanceboard von Nintendo Wii (Abb. 3). Dies wurde bereits mehrfach validiert und diente bereits für viele Publikationen [17, 19 – 23].
Eine Messung beinhaltet dabei 10 Bedingungen à 30 Sekunden mit zunehmendem Schweregrad (Gerade stehen, Kopf rekliniert, Augen zu, Tandemstand, und verschiedene Aufgaben auf Schaumstoff mit 10 cm Höhe, einem spezifischen Gewicht von 40 g/dm3 und einer Härte von 3,7k Pa zwischen Füße und Messplatte). Dabei wurde bereits eindrücklich gezeigt, dass bei Probanden ohne klare neurologische oder vestibulocochleäre Ursache der Gleichgewichtsstörungen die Bedingungen 6 (gerade stehen auf Schaumstoff mit geschlossenen Augen) und 8 (auf Schaumstoff mit rekliniertem Kopf und geschlossenen Augen) am aussagekräftigsten hinsichtlich Veränderungen reagieren [21].
Deswegen wurden für diese Studie ausschließlich diese beiden Bedingungen zur statistischen Auswertung herangezogen. Die validierte Software der Messplatte ermittelt aus der Kraftmessung, der Veränderung des Körpergewichts auf der Platte im Raum, sowie der Verlagerung des Schwerpunktes an den Fußsohlen zwei wesentliche Paramter:
Den Sway Path (SPges = m/min)
sowie die Root Mean Square of body sway before/after (RMS = in mm).
Beide Werte sind besser, je kleiner sie sind.
3.4.2 Functional-Reach-Test (FRT)
Der FRT ist ein Standard-Test in der motorischen Bewertung der Sturzgefahr. Es wird gemessen, wie weit die Person dazu in der Lage ist, über die Länge ihrer Arme hinaus nach vorne zu reichen ohne das Gleichgewicht zu verlieren. Dazu steht die Versuchsperson seitlich zu einer Wand, an der auf Schulterhöhe ein Maßstab waagerecht angebracht ist. Die Person wird dazu aufgefordert, eine Faust zu bilden.
Hier wird der erste Messstrich gezogen. Anschließend soll die Person mit dem nach vorne ausgestreckten Arm soweit wie möglich nach vorne reichen, ohne das Gleichgewicht zu verlieren. Am letzten Punkt vor Kippen oder Ausfallschritt wird wieder gemessen. Die erreichte Distanz in cm wird notiert. Die Messdaten werden aus drei von fünf Versuchen abgelesen und gemittelt. Ein Wert unter 25 cm wird als erhöhtes Sturzrisiko gewertet [24].
3.4.3 Mobilitätstest nach Tinetti
Der Mobilitätstest nach Tinetti gehört im geriatrischen Bereich zu einem klassischen Test zur Beurteilung der Mobilität und des Sturzrisikos. Der Test umfasst zwei Teile: einen Gleichgewichtstest und eine Gehprobe. Dabei werden durch Bewertung des Testers Punkte vergeben.
Die Maximalpunktzahl ist 28. Je geringer die Punktzahl umso höher ist das Sturzrisiko. Eine Punktzahl von <18 deutet bereits auf ein hohes Risiko hin [25]. Verwendet wurde die Originalversion von Tinetti et al. 1986 in der deutschsprachigen Übersetzung.
3.4.4 ABC-Scale
Die Activities-Specific Balance Confidence (ABC) Scale, ist eine Skala zur subjektiven Messung der Gleichgewichtsfähigkeit und das Vertrauen in das eigene Gleichgewicht [26]. Dabei wird ein Fragebogen mit 16 spezifischen Fragen ausgefüllt und die Punkte auf eine Prozentskala (0 – 100 %) umgerechnet. Je höher die Prozentangabe, desto höher ist das persönliche Vertrauen in Mobilität und Gangsicherheit.
3.4.5 Einbeinstand
Der Einbeinstand ist eine sehr einfache und effektive Methode die Gleichgewichtsfähigkeit zu messen und ein guter Verlaufsparameter zur Überprüfung von Trainingserfolg [27]. Er ist auch Bestandteil vieler propriozeptiver Trainings und wird zur Sturzpräventaion empfohlen.
Gemessen wird die Zeit des Beinabhebens bis zum notgedrungenen Auftippens mit dem Bein. Besonders von Interesse ist dabei die Verbesserung, also die Differenz der Werte.
3.4.6 Chair-Rising-Test
Getestet wird die Zeit, die eine Testperson braucht, um fünf Mal so rasch wie möglich hintereinander ohne Hilfe der Stuhllehne von einem Stuhl aufzustehen und sich wieder hinzusetzen. Wenn möglich sollten die Arme dabei vor dem Körper gekreuzt werden und die Beine im Stehen vollständig gestreckt werden. Bei einer Zeit überhalb 11 Sekunden ist ein erhöhtes Sturzrisiko wahrscheinlich [28].
3.5 Statistische Auswertung
Die statistische Auswertung erfolgte mittels SPSS Statistics Version 25.0 (IBM). Neben deskriptiver Statistik wurden nicht parametrische Tests (Kruskal-wallis tests) zur Bestimmung der Gruppenunterschiede zwischen den 3 Gruppen verwendet. Prä-Post-Evaluation geschah mittels Rangsummentests (Wilcoxon).
Die Mittelwertanalyse der Posturografiedaten wurden über das Institut für Medizinische Informationsverarbeitung Biometrie und Epidemiologie (IBE) des Klinikums Großhadern mittels T-Tests ausgewertet und Bonferroni-Korrekturen hinsichtlich des Signifikanzniveaus durchgeführt.
4. Ergebnisse
Tabelle 1
Abb. 4 zeigt den Studienaufbau mit der Einteilung der 17 Teilnehmer. Die Tatsache der langen Trainingsphase mit 2 x 45 min. für 6 Wochen traf bei vielen Probanden auf Ablehnung wodurch eine Studienteilnahme verwehrt blieb. Nichtsdestotrotz zeigte sich eine gute homogene Gruppe mit guter Vergleichbarkeit laut den Baselinedaten (Tab. 1) mit 3 Gruppen (Gruppe SMFO n = 7, Gruppe Bettend n = 6 und Gruppe Kontrolle n = 4).
Im Prä-/Post-Vergleich zeigten sich interessante Ergebnisse (Tab. 2). Vor dem Follow-up schieden 2 Probanden aus privaten Gründen aus. Die sekundären Erhebungsparameter verbesserten sich alle signifikant in der Gruppe der SMFOs. Die Gruppe mit den bettenden Einlagen zeigte ebenso deutliche Signifikanzen im Vergleich zur Baseline-Erhebung. Hier waren jedoch der Functional-Reach-Test und der Einbeinstand statistisch nicht signifikant (Abb. 5). Die Kontrollgruppe verbesserte sich deskriptiv ebenso in allen Werten, diese waren jedoch alle nicht signifikant.
Sieht man sich die Differenzen der Prä- zur Post-Evaluation an (Tab. 2), erkennt man, dass aufgrund des propriozeptiven Trainings alle Gruppen profitierten. Ein statistischer Vergleich der Differenzen zwischen den Gruppen zeigte sowohl bei dem Vergleich SMFOs versus Bettenden, als auch SMFOs Kontrolle sowie Bettenden versus Kontrolle keine statistische Signifikanz.
Hinsichtlich der Posturografie zeichneten sich deutliche Trends ab (Abb. 6). Die Baselinewerte wurden dabei immer auf 100 gesetzt, sodass eine Abnahme im Wert mit einer verbesserten posturalen Kontrolle einhergeht. Lediglich die SMFO Gruppe konnte sich im Mittel durchwegs verbessern. Die Gruppe der bettenden Einlagen zeigten ebenso einen positiven Trend, zeigten jedoch ebenso wie die Kontrolle teilweise auch höhere Werte als vor dem Training. Statistisch zeigten diese positiven Trends im Vergleich zwischen den Gruppen allesamt keine Signifikanz.
Tabelle 2
5. Diskussion
Diese Studie zeigte klare Hinweise auf mögliche neue Einsatzgebiete sensomotorisch wirkender Schuheinlagen. Alle erhobenen Parameter verbesserten sich im Besonderen in der Gruppe der SMFOs. Zwar konnte aufgrund der kleinen Gruppengrößen hinsichtlich der Prä-/Post-Unterschiede zwischen den Gruppen keine Signifikanzen gezeigt werden, dennoch deuten die positiven Ergebnisse darauf hin, dass sensomotorische Einlagen auch in der Sturzprävention, z.B. als Hilfsmittel bei propriozeptivem Training, zukünftig eine Rolle spielen könnten.
Die abnehmende Propriozeption der Fußsohlen im Alter ist häufig mit einer Einschränkung der Mobilität verbunden. Unspezifische posturale Defizite gelten als häufiger Grund von Stürzen [11, 12], häufig mit schweren Folgen. Dabei ist bereits gezeigt worden, dass propriozeptives Training die posturale Kontrolle signifikant steigern kann. Ebenso ist es jedoch wichtig, dass die generierten Reize beim Training eine Schwelle überschreiten um einen Trainingseffekt zu erzielen. Dies könnte bei altersbedingt geschwächter Propriozeption an den Fußsohlen den Trainingseffekt schwächen, und nicht die Verbesserung erzielen, die möglicherweise erzielbar wäre. Bereits 2013 wurde in einem Review von Christivao TC et al. die Effekte von verschiedenen Einlagen auf die posturale Kontrolle gezeigt [29].
Dabei waren die Wirkprinzipien der Einlagen von Vibrationseinlagen über verschiedene Reliefs sehr unterschiedlich und kaum vergleichbar. Jedoch zeigte auch eine sehr aktuelle und randomisiert-kontrollierte Studie von de Morais Barbosa C. et al. eine Verbesserung posturaler Qualitäten durch Schuheinlagen mit rauhem Oberflächenreflief [30]. Die selbe Autorin konnte 2013 ähnliche Ergebnisse bei Osteoporose-Patienten zeigen [31].
Hier waren es jedoch herkömmliche Einlagen mit retrocapitaler Abstützung und die Kontrollgruppe erhielt kein vergleichbares Add-on. Insgesamt ist es jedoch evident, dass eine Korrelation zwischen dem erhöhten Input an Reizen an der Fußsohle und verbesserten posturaler Kontrolle besteht. Dabei ist es aus unserer Sicht nicht nur wichtig die Hautefferenzen der Fußsohle anzusprechen, sondern auch die Muskulatur des OSG. Einer der wichtigsten Feedbackmechanismen in der Kontrolle des bipedalen Ganges ist die Steigbügelmuskulatur. Die schnelle Reaktion und stetige Justierung von Ist-Wert und Soll-Wert garantiert im täglichen Leben unbewusst eine fortwährende posturale Kontrolle auf zwei Beinen.
Die Tatsache, dass Ludwig et. al bereits mehrfach eine Erhöhung der muskulären Aktivität der Steigbügelmuskulatur in der Standphase nachwies [3], lässt den Schluss zu, dass durch Tragen solcher Einlagen während eines propriozeptiven Trainings, möglicherweise ein größerer Input und Trainingseffekt erfolgen könnte. Auch Best et al. konnte an einer kleinen Probandenzahl vermehrte Gelenkkontrolle im Stand durch sensomotorische Einlagen nach Jahrling nachweisen [32].
Da es evident ist, dass ein 2-armiges Studiendesign bei dem nur eine Gruppe Einlagen erhält und die andere gar keine Intervention erhält, ein hohes Risiko für Zuwendungseffekte birgt [33], wurde eine Kontrollgruppe mit bettenden Schuheinlagen implementiert. Um jedoch klar die Studienhypothese zu erforschen, dass bei Menschen mit geschwächter Propriozeption die Kombination eines propriozeptiven Trainings mit SMFO einem propriozeptivem Training ohne SMFO überlegen ist, musste eine Kontrollgruppe, die nur das Training erhält, in das Studiendesign eingebaut werden.
So entstand letztendlich eine 3 armige Studie, die zwar methodologisch aus unserer Sicht einwandfrei ist, und den Richtlinien des Consort-Statements 2010 für qualitative RCTs (randomized controlled trials) entspricht, jedoch die Gruppengröße darunter gelitten hat. Nichtsdestotrotz konnten klare Ergebnisse im Prä-/Post-Vergleich gezeigt werden, die nur in der Gruppe der SMFOs durchwegs signifikante Unterschiede zeigte. Ein starker Hinweis für ein weiteres potenzielles Einsatzgebiet sensomotorischer Einlagen nach Jahrling, konnte somit gezeigt werden. Weitere Studien sind nötig um die Effekte von SMFOs auf die Sturzgefahr zu evaluieren.
6. Fazit
Sensomotorisch wirkende Fußorthesen beeinflussen die posturale Kontrolle. Der präventive Einsatz bei sturzgefährdeten Menschen mit unspezifischen posturalen Defiziten stellt einen weiteren potentiellen Einsatzbereich der SMFOs dar, den es zu erforschen lohnt.
A. RANKER1 | S. RIEDEL1 | M. KLOSKE2 | A. CRISPIN3 | A. WINKELMANN1
Anschrift für die Verfasser:
Dr. med. Alexander Ranker
Klinik und Poliklinik für Orthopädie,
Physikalische Medizin und Rehabilitation
Klinikum der Universität München
Campus Großhadern
Marchioninistr. 15
81377 München
Interessenskonflikt und Danksagungen
Alle Schuheinlagen dieser Studie wurden durch die orthopädietechnische Firma F.G. Streifeneder KG in München, Standort am Klinikum Großhadern, kostenlos angefertigt. Die Firma hatte keinen Einfluss auf die wissenschaftliche Erhebung der Daten, auf die Randomisierung der Patienten sowie auf die Wahl des Journals. Sie stand jedoch mit Expertise beratend zur Seite und ermöglichte durch das kostenlose Herstellen der Einlagen die Realisierung dieser Studie sowie einen reibungslosen Ablauf. Dafür möchten wir uns nochmals bei dem gesamten Team (besonders Herr Barthel Steinbach und Herr Michael Kloske) herzlich bedanken!
Alexander Ranker, Stefan Riedel, Alexander Crispin und Andreas Winkelmann geben an, keinen Interessenskonflikt zu haben. Michael Kloske arbeitet als Orthopädietechnikermeister bei der Firma Streifeneder und organisierte maßgeblich die Herstellung der Einlagen in dieser Studie. Bezüglich Realisierung der Studie sowie Erhebung und Auswertung der Daten gilt oben bereits erwähnter Sachverhalt.