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7. Juni 2021
Redaktion

Schuhe, die Geschichte schreiben: Die Birkenstock-Sandale

NIKE U. BREYER

 

Schuhe passen und gefallen – oder eben nicht? Von wegen. ­Schuhe haben es in sich: Sie spiegeln das technische Können und Wissen einer Zeit und übersetzen Wertorientierung und Körperbilder in eine skulpturale intuitiv verständliche Form. Pure Alchemie – man nennt es auch Mode. Markante Schuhmodelle haben den Zeitgeist eingefangen und/oder aktiv mitgeformt – als Sternschnuppen der Kreativität oder als Dauerläufer, die zu Klassikern wurden – wie die Birkenstock-Sandale.
Foto: Birkenstock Group B.V. & Co. KG

The ugliest shoe ever made“ philosophierten „amerikanische Kommentatoren“ gerne mal, wie 1993 im ZEIT Magazin nachzulesen war. Knapp zehn Jahre später stellte auch die Frankfurter Allgemeine Zeitung unter dem Titel „Sanftherrentum in Arizona-Sandalen“ fest, dass die Birkenstock-Sandale nunmal die „unschöne Sohle“ bleibe, die sie sei und wohl überhaupt nur „unter dem Eindruck deutscher Kompostierungsvorschriften designed werden konnte“. Die genannte Fußbekleidung war damals als Design-Beispiel in der Ausstellung „Was ist deutsch?“ im Rahmenprogramm zur Fußball-WM im Germanischen Nationalmuseum Nürnberg ausgestellt. Ob der „Schneewittchensarg“ von Braun-Designer Dieter Rams in ihrer Nähe postiert war oder der „Ulmer Hocker“ von Max Bill? Das hätte immerhin gepasst. Es brauchte aber offenbar nochmals knappe zehn Jahre, bis es den „Kommentatoren“ hierzulande – Nichteuropäer waren da um einiges schneller – dämmerte, dass sie bei ihrer Analyse vielleicht die falsche Brille aufgehabt hatten. Die schweizerische Internetpostille TagesWoche bescheinigte der hier betrachteten Birkenstock-Sandale 2015 schlussendlich beeindruckt „Klassikerstatus mit Hipster-Credibility“. Was war geschehen? {pborder}

Ästhetische Emanzipation 
Die modisch-ästhetische Emanzipation der Sandale, die vor 20 Jahren auch in Heiratsanzeigen gerne noch herrenwitzig zitiert wurde („bitte keine Earth­mothers oder Birkenstock-Trägerinnen“) war nach 40 Jahren Bescheidenheit irgendwann nicht mehr zu ignorieren. Für unsere Fragestellung ist die Entwicklung dahin interessant. Pointiert zusammengefasst, zeigt sie eine Abfolge charakteristischer Etappen: Von einer anfänglichen Nutzung als schlichter sanitärer Versorgungsartikel und als  Berufsschuh für Ärzte, Apothekerinnen und Gesundheitsberufe zum Zeitpunkt ihrer Marktpremiere 1963 zeigte die Birkenstock-Sandale in den 1970er- und 1980er-Jahren eine stärker öffentlich wahrnehmbare Nutzung als modisch-antimodisch und demokratisch-ökologisch aufgeladene Fußbekleidung der damaligen jungen Grünen, bunt gewürfelter Ökos, Esos und anderer „Alternativer“. In bürgerlichen Kreisen war sie als geschätzter Haus- und Freizeitschuh für businessmüde Zehen beliebt, jedoch wenig sichtbar, um in den 1990ern von eben diesen bürgerlichen Trägerinnen und Trägern  zunehmend selbstbewusst auch als vielseitiger Summer-in-the-city-Schuh auf der Straße ausgeführt zu werden. Im neuen Jahrtausend, nach Zusammenführung der verschiedenen Birkenstock-Untermarken unter einer Birkenstock group 2013 zeigt sich seitens der Marke ein neuer betont modischer Auftritt. Exklusive Designer-Editionen mit Valentino, Proenza Shouler, Rick Owens oder aktuell TooGood setzen gut sichtbar extravagante Akzente, mit denen die neuen Birkenstock-Designs das Sohlenprinzip und die typisch klare Handschrift bewahren, aber extravagant interpretieren. Birkenstock ist nun auch in der dünnen Höhenluft der internationalen High Fashion angekommen.
Sandale mit Eigenschaften
Diesen erfolgreichen Expansionskurs verdankt die Birkenstock-Sandale drei Kardinaltugenden, die sich gegenseitig optimal ergänzen und die bei allen Variationen durch die Zeit hindurch zu keinem Zeitpunkt aufgegeben werden: konsequent anatomisch organisierter Fußkomfort, schnörkelloses funktionales Design, eine glaubwürdig ökologische Orientierung. Eigenschaften, die in der Summe einen durch die Zeit hindurch fast universell anschlussfähigen Style geformt haben und mit denen man Birkenstock darum fast jede Zukunft zutraut. Das Weitere ist bekannt. Das Traditionsunternehmen vom Rhein wechselt nach allein hundert Jahren erfolgreicher Markengeschichte für etwas mehr als drei Milliarden Euro den Eigentümer. Die französisch-amerikanische Beteiligungsgesellschaft L. Catterton, an der auch die zur Arnault Gruppe des Milliardärs Bernard Arnault gehörige Familienholding Financière agache beteiligt ist, hat – nachdem sie einen Mitbewerber ausgestochen hat – soeben die Mehrheit an der Birkenstock GmbH & Co. KG erworben. Die beiden Söhne und Erben von Birkenstock bleiben als Minderheitsgesellschafter engagiert.
Birkenstock-Old-school-Hipster, Messe Esotera München 1999. Foto: Nike BreyerDie Sandale als Erzieher
Natürlich steigen Fragen auf. Wie geht es nun mit der Sandale weiter? Wird das in ihr eingebaute Freiheitsversprechen für Körper und Geist nach einem Birkenstock-uptrading womöglich zum Luxus für eine internationale Upperclass? Das wäre schade. Denn mit einem Freiheitsversprechen fing alles einmal an. Karl Birkenstock, der Erfinder der Birkenstock-Sandale, entstammt – wie inzwischen gut bekannt ist – einer Schuhmacherdynastie, die bis ins Jahr 1774 zurückverfolgt werden kann. Wobei sich Konrad Birkenstock, der Großvater von Karl, der damals neuen Disziplin der Orthopädie zuwandte und 1902 ein neuartiges „Fußbett“ (Birkenstock-Wortprägung) erfand, das sein Sohn Carl Birkenstock ergänzt um Schulungskurse für den Handel, zum erfolgreichen Markenprodukt weiterentwickelte. Das elastische „Birkenstock Fußbett“ ermöglichte flexibles natürliches Gehen, während es den Fuß durch Unterfangen der Hohlräume gleichzeitig vor zu schneller Ermüdung auf harten Zivilisationsböden bewahrte. Anders als heute hatte die Orthopädie vor 100 Jahren ein fortschrittliches Image und galt, gestützt auf die im 19. Jahrhundert sich rasant entwickelnde Prothetik (siehe Artikel „Transhuman“, Orthopädieschuhtechnik 9/2020), als ultramoderne medizinische Wissenschaft. Das Wort Orthopädie selbst ist von griech. orthos ‚richtig‘ und paideuein ‚richten‘/,erziehen‘ abgeleitet. Der gute Ruf der Orthopädie, die damals in etwa mit heutiger KI-Forschung und Cybertechnologie vergleichbar war, hielt sich weitgehend noch bis in die 1950er-Jahre, als Karl Birkenstock in das väterliche Unternehmen eintrat. Orthopädie hatte ein anerkannt wertvolles Anliegen: Sie wollte die Füße, die Jahrhunderte lang in unpassende „Verkümmerungsmaschinen“ (Kurpfarrer Sebastian Kneipp) eingesperrt worden waren, endlich wissenschaftlich ernst nehmen. Die Idee: Füße sollten gemäß ihren Funktionsgesetzen bekleidet werden und statt Hühneraugen und krummen Zehen Komfort und Lebensqualität bescheren.
Birkenstock 1774. Foto: Birkenstock Group B.V. & Co. KGSupport trifft Training
Der technikaffine Karl Birkenstock wollte jedoch nicht nur ein Erbe verwalten, sondern etwas eigenes schaffen. Was den heutigen Start-ups die berühmte Garage ist, war dem jungen Karl Birkenstock die häusliche Küche, wo er im Backofen die ersten Prototypen seiner neuartigen Tieffußbett-Sohle aushärtete. 1963 war es dann so weit: die erste Birkenstock-Sandale, ein minimalistischer Entwurf mit Zehenriegel und innovativer Sohlentechnologie wurde als Weltneuheit präsentiert. Die Birkenstock-Philosophie von Vater und Großvater ist darin aufgehoben, aber originär weitergedacht und ganz wörtlich auf eigene Füße gestellt. Karl Birkenstock gelingt die Quadratur des Kreises. Die neue Sandale bietet den Zehen Raum, dem Fuß Komfort und Unterstützung und aktiviert zugleich die Muskeln. Ein paar weitere Modelle folgten, bevor 1973 Karl Birkenstock mit der Sandale Arizona, mit breitem Riegel und zwei Schnallen über dem Fußrücken, das Birkenstock-Konzept zur Quintessenz verdichtete und die Birkenstock-Sandale schlechthin erschuf. Von nun an wurde es üblich, mit der Gattungsbezeichnung Birkenstock-Sandale einen unverwechselbaren Mix aus Sohlentechnologie und Designhandschrift zu benennen.

Attraktivität im Auge der Trägerinnen
Wie in allen Sandalen davor und danach hat Karl Birkenstock hier die geschilderte ortho-paedische Funktion in ultramodernes Design gepackt. Darin griff er Einflüsse aus der zeitgenössischen Architektur und dem Industriedesign auf, das sich mit der Ulmer Hochschule als thinktank damals neu ausrichtete, und schmolz diese Inspirationen ästhetisch originär in die Birkenstock-Sandalenmodelle ein. Mit dem Unisexcharakter aller Modelle, verzichtete Birkenstock zugleich auf jede spezifischere Zuordnung zu Geschlecht und Alter und hob sich damit von der gängigen Sandalenmode der Zeit ab. Mit ihrem überzeugenden Fußkomfort war die Birkenstock-Sandale schnell erfolgreich. Die Zuschreibung von Attraktivität, die bekanntlich im Auge der Betrachterinnen und Trägerinnen liegt, ließ dagegen zunächst auf sich warten. Doch sie kam – erst schrittweise, dann schlagartig mit der genannten Arizona. Eine Schlüsselrolle spielten dabei weniger die schon vielzitierten US-Hippies – das Woodstock-Festival 1969 und die Hippie-Bewegung standen designtechnisch noch weitgehend im Zeichen von Flower-Power und Rüschen, Ethnofolklore und Friedensbewegung. Bei einem Indien-Besuch der Beatles 1968 beim TM-Guru Maharishi Mahesh Yogi trugen, wie alte Fotos zeigen, die weiblichen Begleiterinnen der Musiker Nylonstrumpfhosen zu blumig gemusterten Minikleidern und dekorativen, aber unübersehbar die Zehen einschnürenden Riemchensandalen.
Apple-Gründer Steve Jobs steht auf gutes Design. Copyright Robert D. Foothorap Jr. Shown with permission of the Estate of Robert D. Foothorap, 2021.Silicon Valley-Nerds entdecken Birkenstock
Tatsächlich könnte eine andere Community bei der Popularisierung der Sandale in den USA als Katalysator gewirkt haben. Nachdem die Deutsch-Amerikanerin Margot Fraser die Sandale 1966 bei einem Kuraufenthalt in Deutschland kennengelernt hatte, begeistert war, und daraufhin den Vertrieb für die USA übernahm, wuchs das Interesse nach anfänglich schwacher Resonanz ab Mitte der 1970er schlagartig. Das korrelierte mit dem Auftauchen einer neuen Subkultur einer esoterisch und New Age-angehauchten Elektronikbastler-Szene, die sich um den 1975 gegründeten Homebrew Computer Club sammelte. Dessen Mitglieder interessierten sich für kybernetische Weltmodelle und tauschten bei ihren Treffen Schaltskizzen und Programmiertipps, womit sie direkt an der Entwicklung des Personal Computers und der daraus entstehenden Industrie des Silicon Valley beteiligt waren. Kalifornien ist klein und Novato, wo Margot Fraser mit ihrem Birkenstock-Vertriebsbüro residierte, keine 100 Kilometer von San Matteo, dem Treffpunkt des Clubs entfernt.
Funktion bildet die Form
Die komfortable „Bedienung“ des einfachen An- und Ausziehens, Bequemlichkeit und das streng logische Design der neuen Sandale wird den Nerds gefallen haben und so multiplikatorisch gewirkt haben. Woher wir das wissen? Apple-Gründer Steve Jobs, der  regelmäßig an den Garagentreffen teilnahm, hat aus seiner Begeisterung für die Birkenstock-Sandale nie einen Hehl gemacht. Chrisann Brannon, seine erste Freundin und Mutter seiner Tochter, erzählte 2018 der Vogue, dass Jobs kurz nachdem er sie 1972 kennenlernte, hellauf begeistert gewesen sei von der neuen Birkenstock-Sandale. Auch weil die Apple-Legende sich als junger Mann seine Sandalen selbst gebaut hatte, und den  „Bauplan“ der Arizona quasi mit Expertenwissen bewunderte. Ein Paar von Steve Jobs Arizonas aus seiner Zeit beim 1986 gegründeten Unternehmen NeXT Computer wurde 2016 vom Auktionshaus Heritage Auctions für „einen Appel und ein Ei“ von 2 750 US Dollar versteigert. Man sieht den Sandalen an, dass sie getragen wurden, bis sie buchstäblich auseinanderfielen. Das kann man bei einer ausgewiesenen Designerlegende nur als großes Kompliment verstehen. 
Statussymbol zwischen Bürgertum und Subkultur
Wie wenig andere Design-Produkte hat die Birkenstock-Sandale uns in den letzten 50 Jahren nicht nur das Leben angenehmer gemacht. Die Sandale mit dem ikonischen Look hat, wie hier gezeigt, auch als eine Art Status-Symbol vielfach in unsere  Kommunikation hineinregiert und freiwillig oder unfreiwillig Zeichen gesetzt. Je nach Epoche und Region stand und steht sie dabei für eine Orientierung, Lifestyle-Welt oder ein Weltbild im spannungvollen Spektrum von pragmatischer Bürgerlichkeit über unpolitische Modebegeisterung bis zu ökologisch-esoterischer und sogar elektronischer Subkultur. In Japan, das wie der ganze außereuropäische Raum hier nicht in den Blick genommen werden konnte, genießen „Biruki“ seit langem eine sehr hohe Wertschätzung. Was mit der auf dem Inselreich hoch respektierten deutschen Orthopädieforschung und ihrer Geschichte zu tun hat und möglicherweise auch damit, dass die Birkenstock-Sandale, wie gezeigt, unbemerkt ein Stück Lebensreform des 19. Jahrhunderts und damit europäisches Kulturerbe in modernem Design in die Gegenwart getragen hat. Das weckt schon mal starke Emotionen. Seit seinem ersten Faustkeil vor zwei Millionen Jahren hätschelt der Mensch seine „Werkzeuge“. Schuhe nehmen dabei einen besonderen Platz ein, sollen sie doch unseren aufrechten Gang sicher stellen und wenn möglich stolzer und angenehmer machen. Da lohnt es sich, genauer hinzuschauen.
Anschrift der Verfasserin:
Nike U. Breyer
Hinter der Mauer 1
06484 Quedlinburg
E-Mail: nike.breyer@web.de
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Foto: Andrey Popov/Adobe Stock
Schuhsohle
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