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1. August 2016
Redaktion

Römische Leistenfunde: Frühe orthopädische Versorgung?

Von René Baumgartner, Bruno Friemel, Wolfgang Best

In einer Latrine in einer römischen Siedlung in Oberwinter­thur im Kanton Zürich kam ein Paar 2000 Jahre alte Schuhleisten aus Ahorn zum Vorschein. Die Form eines der beiden Leisten weckte auch das Interesse von Orthopäden und Ortho­pädieschuhmachern. Könnte es sich hier um einen ­Leisten für einen Klumpfuß handeln? Ein vor Ort Termin in der Kantonsarchäologie Zürich sollte helfen, diese Frage zu klären.
Foto: René Baumgartner

Die Ehemaligen des Beratungsausschusses für das Orthopädieschuhmacherhandwerk treffen sich jedes Jahr bei einem Mitglied. Der Gastgeber 2015 war Prof. Dr. med. René Baumgartner, unterstützt von Orthopädie-Schuhmachermeister Bruno Friemel aus Zürich. Ein Höhepunkt war die Vorstellung der römischen Leisten in Dübendorf bei Zürich durch Herrn Stephan Schreyer und Frau Dr. Verena Jauch. Die Leisten waren im Jahr 2007 bei einer Ausgrabung in der römischen Siedlung im vicus Vitudurum (Oberwinterthur im Kanton Zürich) in einer ehemaligen Latrine entdeckt worden. Offenbar waren sie, unmittelbar, bevor die Latrine aufgelassen wurde, unter deren Deckel geschoben, aus welchen Gründen auch immer. Durch die Lagerung in Feuchtigkeit ohne Sauerstoff blieben sie weitgehend erhalten. Beide Leisten sind aus einem Stück Holz gefertigt und fast vollständig erhalten. Da Leisten für Sandalen oder einfache Schuhe nicht nötig waren, gehen die Archäologen davon aus, dass über diese Leisten geschlossene Schuhe gefertigt wurden, für die in römischer Zeit verschiedene Herstellungstechniken zur Verfügung standen. Was aus heutiger Sicht imponiert, ist die Chaussierung der Leisten. Diese sind nämlich asymmetrisch mit der Spitze zur Mitte hin und damit weitgehend fußgerecht ausgearbeitet.
Die Verformung des linken Leistens ist im Fachaufsatz über den Fund detailliert beschrieben, ohne jedoch die Möglichkeit zu erwähnen, dass es sich hier um eine Maßanfertigung für einen deformierten Fuß handeln könnte.

Der
Abb. C. Maurer Fachmedien
Der linke Leisten aus der Römerzeit ähnelt in seiner Form verblüffend einem Leisten für eine Klumpfußversorgung. War es eine frühe orthopädische Versorgung oder doch eine Verformung des Holzes über die Jahrhunderte? OSM Bruno Friemel und Prof. René Baumgartner in der Diskussion mit Dr. Verena Jauch und StephanSchreyer (v. .l.)

Der Klumpfuß

Der Begriff beschreibt allein die Fehlform. Der klassische angeborene Klumpfuß setzt sich zusammen aus mehreren Komponenten: Spitzfuß, Hohlfuß, Adduktion und Supination des Vorfußes und schließ­lich eine verstärkte Innenrotation der Tibia. Die Unterschenkelmuskulatur ist verschmächtigt. Die Behandlung mit korrigierenden Gipsverbänden gleich nach der Geburt und später mit Operationen hat den angeborenen Klumpfuß zum Verschwinden gebracht (Baumgartner und Ochsner 1986, Debrunner und Hepp 1994, Imhoff u.M. ). Erkrankungen und Unfallfolgen sind wei­tere Ursachen . Noch vor 50 Jahren war die Kinderlähmung die wichtigste Ursache des Klumpfußes. Entsprechend selten geworden sind Leisten für unbehandelte Klumpfüße (Abb. 5 bis 7).

Unbehandelter
Abb. Klinik für Technische Orthopädie, Universität Münster
Unbehandelter Klumpfuß. ca. 6 Monate alter Säugling (Sudan, 1986)
Angeborener
Abb. Klinik für Technische Orthopädie, Universität Münster
Angeborener Klumpfuß als Folge einer Amnionumschnürung. 15-jähriger Knabe. Der Patient steht auf dem Fußrücken (Algerien 1974).
Klumpfüße
Abb. Klinik für Technische Orthopädie, Universität Münster
Klumpfüße wegen amyotrophischer Lateralsklerose.
Posttraumatischer
Abb. Klinik für Technische Orthopädie, Universität Münster
Posttraumatischer Klumpfuß, seitlich mit Vollhautlappen bedeckt.
Leisten
Abb. Albrecht Breymann
Leisten für einen unbehandelten Klumpfuß eines Erwachsenen.
Erwachsener
Abb. B. Friemel, Zürich
Erwachsener mit Klumpfuß.
Liesten
Abb. B. Friemel, Zürich
Zur obigen Abbildung gehöriger Leisten.

Orthopädische und orthopädie-schuhtechnische Untersuchung

Könnte es sich bei den römischen Leisten auch um die Zeugen einer frühen ortho­pädieschuhtechnischen Versorgung handeln? Heute, zweitausend Jahre später, staunen wir über die kunstgerechte Leis­tenherstellung und suchen nach den handwerklichen Spuren des Schuhbaues.
Die Leisten sind aus einem Stück ­Ahornholz gearbeitet, geschnitzt, geraspelt, gefeilt und geschliffen. Eine orthopädische Sensation bietet aus Sicht der Orthopädie und der Orthopädieschuhtechnik der linke Leisten, der für eine Klumpfuß-Versorgung gefertigt worden sein könnte. Die Ähnlichkeit mit den aus der Orthopädieschuhtechnik bekannten Klumpfußleisten ist frappant (s. Abb. oben). Besonders interessant sind die gut sichtbaren handwerklichen Arbeitszeichen (siehe Abb. unten). Sie geben Hinweise auf die Machart. Es müssen hohe, knöchelüberragende Schuhe mit einem eher kräftigen Schaft und festem Boden gewesen sein. Der Fachmann erkennt den Zwickvorgang zum Aufformen und Anheften des Schaftes an kleinen und größeren Nagellöchern sowie ihre Platzierung und ihr Abstand am Leistenboden. Ein markantes Loch an der Leistenspitze und in der Fersenmitte diente dem Fixieren der sogenannten Brandsohle. Abdrücke wie Dellen und Kerben geben Hinweise auf den Einsatz der Werkzeuge. Aufgrund der Zahl der Nagellöcher wurden über den Leisten ­etwa zwei Paar Schuhe gefertigt. Es spricht also einiges dafür, dass es eine Maßanfertigung war.
Die ursprünglich schöne, asymmetrische Form, die am rechten Leisten zu erkennen ist, löst Bewunderung aus. Noch heute würde sie zu gesunder Schuhmode passen. Wäre es also denkbar, die Schuhe seien für eine Frau gefertigt worden?

Deutlicher
Abb. Bruno Friemel, Zürich
Deutlicher Hinweis, dass über diese Leisten Schuhe gezwickt wurden: Auf der Leistenunterseite sind ein Nagelloch vom Heften der Brandsohle zu erkennen.
Deutlicher
Abb. Bruno Friemel, Zürich
Deutlicher Hinweis, dass über diese Leisten Schuhe gezwickt wurden: Auf der Leistenunterseite sind Nagellöcher von dünnen Zwickstiften zu sehen.

Orthopädische Versorgung oder Holzverformung?

Beim Besuch in der Kantonsarchäologie wollen die beiden Archäologen Stephan Schreyer und Dr. Verena Jauch, die auch die Grabungsleiterin war, der orthopädischen Argumentation leider nicht folgen.
Sie machen „taphonomische“ Gründe für die Deformierung der linken Schuhleiste verantwortlich. Das Holz habe im Laufe der Jahre den Leisten in seine gegenwärtige Form verzogen. Ein Holzsachverständiger habe bestätigt, dass solch eine Verformung denkbar sei. Ahorn sei ein weiches Holz und das Holz arbeite, wenn es dauerhaft nass sei, auch ohne extremen Druck. Auch der rechte Leisten sei teilweise etwas verformt. Dort seien der Fußaußenrand und der Ballen zu weit aufgestellt. Zudem sei der linke Leisten wahrscheinlich aus dem Rand- oder Wurzelbereich des Stamms gefertigt und dadurch anfälliger für Verformungen. Kurzum: Aus der Sicht der Archäologen kann die Verformung aufgrund der Holzbeschaffenheit und der 2000 Jahre währenden Lagerung entstanden sein.
Doch wie konnte es denn kommen, dass die Nagellöcher zum Fixieren der Brandsohle einen solchen Vorgang unbeschadet überstanden haben? Wir meinen, das seien gute Gründe für unsere orthopädische Interpretation, dass die Leisten ihre Originalform behalten haben. Weitere Funde aus der Siedlung bezeugen, dass dort viele Handwerker ansässig waren, vermutlich also auch
ein Schuhmacher. Dass es zu römischer Zeit schon Klumpfüße gab, ist wahrscheinlich. Ob sie damals auch schon schuhtechnisch mit Maßanfertigungen versorgt wurden, können wir nicht nachweisen. Angesichts der Form der gefundenen Leisten ist das aber zumindest denkbar.
Was geschah denn mit den vielen anderen Leisten des Schuhmachers in der Römersiedlung? Wanderten sie ins Kaminfeuer oder fielen sie einem Brand zum Opfer? Unsere Orthopädieschuhmacher bewahren die Leisten ihrer Kunden fein säuberlich geordnet im Keller auf. Haben sie ihren Dienst getan, sind sie gut genug für das Kaminfeuer. Das trockene Buchenholz eignet sich hervorragend. (Fagus, lat. = Buche nennt
sich eine bedeutende Leistenfabrik in Deutschland). Von der Idee angetan, gab mir ein befreundeter Orthopädieschuhmacher eine Kiste voll alter Leisten mit nach Hause. Ich habe es nicht übers Herz gebracht, sie zu kremieren. Da begann mir jeder plötzlich seine ganz persönliche orthopädische Geschichte zu erzählen. Wie lautet die Diagnose? Wie oft wurde er verwendet? Was musste alles daran geändert werden? Mein Sohn hatte da weniger Skrupel. Er ist Psychiater.

Literatur:
(1) Baumgartner R. und Ochsner P.: Checkliste Orthopädie, 3. Auflage, S. 160-162.
Georg Thieme Verlag Stuttgart (1986).
(2) Debrunner H.-U und W. R. Hepp: Orthopädisches Diagnostikum, 6. Auflage, S. 216-217,  Georg Thieme Verlag Stuttgart (2014).
(3) Imhoff A. B., R. D. Linke, R. Baumgartner:  Checkliste Orthopädie, 3. überarbeitete Auflage, S. 296-300, Georg Thieme Verlag Stuttgart (2014).
(4)Jauch V. und M. Volken: ein Paar römische Schuhleisten aus dem vicus Vitudurum – Oberwinterthur (Schweiz): Germania 88, 2010.

Danksagung:
Wir danken Stephan Schreyer und Dr. Verena Jauch vom Amt für Raumentwicklung Abteilung Archäologie und Denkmalpflege des Kantons Zürich für den freundlichen Empfang und die Unterstützung.

Anschriften für die Verfasser:
Prof. em. Dr. med. René Baumgartner
Langwisstrasse 14, CH-8126 Zumikon
Bruno Friemel, OSM
Friemel Orthopädie-Schuhtechnik
Badenerstrasse 29, CH-8004 Zürich
bruno@friemel.ch

Artikel aus OST-Ausgabe 5/2016

 

Foto: Andrey Popov/Adobe Stock
Schuhsohle
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