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11. Juli 2017
Redaktion

Quo vadis, Hilfsmittelverträge?

Für Verträge im Hilfsmittelbereich hat der Gesetzgeber in § 127 SGB V Ausschreibungen und Verhandlungs- beziehungsweise Beitrittsverträge vorgesehen. Mit sogenannten „Open-House-Verträgen“ versuchen einige Krankenkassen nun, diese Verfahren zu umgehen. Was verbirgt sich hinter „Open-House-Modellen“ und sind sie für den Hilfsmittelbereich zulässig? Von Bettina Hertkorn-Ketterer

Hilfsmittelbereich
Foto: aaabbc/Fotolia

Am 11. April 2017 ist das Gesetz zur Stärkung der Heil- und Hilfsmittelversorgung (HHVG) in Kraft getreten. In Kommentierungen zum Gesetz ist teilweise zu hören beziehungsweise zu lesen, dass Ausschreibungen nun deutlich „eingeschränkt“ worden seien. Verwiesen wird in diesem Zusammenhang darauf, dass der Zuschlag bei Ausschreibungen nun nicht mehr nur auf den Preis beziehungsweise die Kosten erteilt werden darf, sondern dass im Rahmen einer Zuschlagsentscheidung Qualitätsanforderungen, die über die Anforderungen des Hilfsmittelverzeichnisses hinausgehen, berücksichtigt werden müssen. Darüber hinaus wird darauf hingewiesen, dass Ausschreibungen für individuell gefertigte Produkte und Versorgungen, die mit einem hohen Dienstleistungsanteil verbunden sind, nun als nicht zweckmäßig eingestuft wurden.

Es darf den unbedarften Leser daher durchaus verwundern, wenn gerade jetzt – wo doch Vieles geklärt scheint – die bereits vor Jahren geführte Diskussion „Muss nicht ohnehin alles ausgeschrieben werden?“ erneut aufflammt – und Kos­tenträger mit dem Argument, das Vergaberecht würde sie davon abhalten, Verträge nach §127Abs.2SGBV zu schließen, darauf hinweisen, nur Vertragsschlüsse, die im sogenannten „Open-House-Modell“ geschlossen würden, seien rechtssicher und zulässig (und daher ab sofort das Modell ihrer Wahl).

Was sind „Open-House-Verträge“?

Unter einem „Open-House-Vertrag“ versteht man einen Vertrag, bei dem ein öffentlicher Auftraggeber (z.B. eine Krankenkasse) von vornherein die Absicht hat, nicht nur mit einem oder einem begrenzten Kreis von Unternehmen eine Liefervereinbarung abzu­schließen. Bei „Open-House-Modellen“ plant der öffentliche Auftraggeber vielmehr, zu von ihm einseitig vorgegebenen Regelungen und Konditionen mit allen Unternehmen eine Vereinbarung zu schließen, die das Vertragsangebot annehmen wollen.

Warum wird die Zulässigkeit von „Open-House-Verträgen“ nun im Hilfsmittelbereich diskutiert?

Eine Krankenkasse veröffentlichte im August 2013 eine Bekanntmachung über ein „Zulassungsverfahren“ (=„Open-House-Modell“) für den Abschluss von Rabattverträgen nach §130aAbs.8 SGBV. Es ging im Ausgangsfall also nicht um Hilfsmittel, sondern um eine vertragliche Regelung über Rabatte für Arzneimittel. Der Rabatt war in Höhe von 15 Prozent vorgegeben.

Ein pharmazeutisches Unternehmen klagte gegen das Verfahren und machte geltend, dass es unzulässig sei, ein Verfahren durchzuführen, an dessen Ende eine Vielzahl von Unternehmen als Vertragspartner vorgesehen sei. Das Vergaberecht verlange, dass statt eines „offenen Verfahrens“ eine Ausschreibung durchzuführen sei, wozu der Abschluss von Exklusivverträgen (mit der Folge, dass der Ausschreibungssieger allein liefert) gehöre.

Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat durch seine Entscheidung vom 2. Juni 2016 (Aktenzeichen C-410/14) festgestellt, dass kein öffentlicher Auftrag vorliegt, soweit ein Vertrag geschlossen wird, dem am Ende ein nicht von vornherein begrenzter Kreis von Teilnehmern beitreten kann.

Der EuGH urteilt in seiner Entscheidung, dass dies zumindest immer dann gilt, wenn durch den Auftraggeber ein Verfahren gewählt wird, das den Grundsätzen der Nicht-Diskriminierung und der Gleichbehandlung der Wirtschaftsteilnehmer sowie dem Transparenzgebot entspricht. Er hat also im konkreten Fall (Arzneimittelversorgung) bestätigt, dass die Krankenkasse im konkreten Fall auf die Durchführung eines „Vergabeverfahrens mit Exklusiventscheidung“ verzichten durfte. Der EuGH hat keinerlei Aussagen dazu gemacht, dass die im Verfahren vom Gericht bewerteten Kriterien des Verfahrens zum Vertragsschluss nun für alle Arten von Vertragsschlüssen eines Sozialversicherungsträgers als Maßstab anzulegen seien. Der EuGH hat sich damit – um es einfach auszudrücken – zur Frage der Zulässigkeit von Verträgen im Hilfsmittelbereich (oder anderen Verträgen) überhaupt nicht geäußert.

Sind „Open-House-Modelle“ im Hilfsmittelbereich zulässig?

Es bleibt die Frage, ob „Open-House-Modelle“ – neben Verfahren nach §127 SGBV – zulässig sind. „Open-House- Modelle“ zeichnen sich dadurch aus, dass keine Vertragsverhandlungen stattfinden. Die Krankenkasse gibt bei „Open-House-Verfahren“ den gesamten Vertragstext und die Vertragspreise einseitig vor, ohne dass Leis­tungserbringer die Möglichkeit hätten, hierauf Einfluss zu nehmen. Leis­tungserbringer, die für die Versorgung geeignet sind, haben nur noch die Möglichkeit, dem Vertrag beizutreten.

Das Verfahren steht damit in klarem Widerspruch zum Vertragsregime, wie es §127SGBV für den Bereich der Hilfsmittelversorgung vorsieht.

Verträge nach §127Abs.2SGBV werden häufig als „Verhandlungsverträge“ bezeichnet. Zwar taucht das Wort „Verhandlung“ im Gesetzestext selbst nicht auf. In der Gesetzesbegründung zum GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz, durch das im Jahr 2007 vom damals geltenden „Zulassungssystem“ auf ein „Vertragssystem“ umgestellt wurde, heißt es jedoch in der Gesetzesbegründung in Bezug auf die Verpflichtung der Krankenkassen, die Absicht von Vertragsschlüssen in geeigneter Weise öffentlich bekannt zu machen: „…auch bei Verträgen nach § 127 Abs. 2 muss ein ausreichendes Maß an Öffentlichkeit gewährleistet sein, damit interessierte Leistungserbringer sich in die Verhandlungen einbringen können“. Dem trägt auch das Bundesversicherungsamt als Aufsichtsbehörde der bundesunmittelbaren Krankenkassen Rech­nung, indem es in seinem Schreiben vom 28. Dezember 2010 (Az.: II 2 – 5471.1 1077/2010) klarstellt, dass Leis­tungserbringer grund­sätzlich einen Anspruch auf Vertragsverhandlung haben. Auch die Rechtsprechung des Bundes­sozialgerichts stützt diese Auslegung des § 127 SGB V (Urteil vom 10. März 2008, Az.: B 3 KR 26/08).

Daraus folgt: § 127 SGB V stellt für die Hilfsmittelversorgung zwei grundsätzliche Verfahren bereit, mit deren Hilfe Krankenkassen Verträge schließen können. Ausschreibungen nach Absatz 1, und Verhandlungs- beziehungsweise Beitrittsverträge nach Absatz 2 beziehungsweise 2a.

Krankenkassen haben als Körperschaften des öffentlichen Rechts beim Abschluss von Verträgen die gesetzlichen Vorgaben zu beachten. Daraus kann auch abgeleitet werden, dass Kosten­träger die in § 127 SGB V zur Verfügung gestellten „Vertrags-Findungs-Modelle“ einzusetzen haben.

Dieser Aspekt erscheint besonders bedeutsam zu sein – hat der Gesetzgeber doch im Hilfsmittelbereich im Jahr 2007 von einem Zulassungssystem auf ein Vertragssystem umgestellt und den Leis­tungserbringern damit das bis dahin geltende Recht auf „Teilnahme am Versorgungssystem“ weggenommen. Aus den Gesetzen und den entsprechenden Gesetzesbegründungen aus dieser Zeit ist eindeutig der Wille des Gesetzgebers zu entnehmen, dass den Leistungserbringern als „Ersatz“ für diesen „Statusverlust“ ein Recht gewährt werden sollte, an Verträgen teilzunehmen und die Inhalte der Verträge durch ein Recht auf Verhandlung mitzugestalten.

Nur zehn Jahre später scheint von dieser Absicht nicht mehr viel übrig zu sein. Einige Krankenkassen scheinen es als ihr „natürliches Recht“ anzusehen, die Lieferbedingungen einseitig vorgeben zu können – und es mutet schon befremdlich an, wenn die Begründung hierfür im Vergaberecht gesehen wird, während das Sozialrecht komplett ausgeblendet wird.

Die oben genannte Entscheidung des EuGH stellt die Anwendbarkeit des §127 SGB V nicht in Frage. Denn zum einen ist die Entscheidung für den Bereich der Arzneimittel getroffen worden (§130a Abs. 8 SGB V normiert vollkommen andere Anforderungen an Verträge im Arzneimittelbereich, als § 127 SGB V das für den Bereich der Hilfsmittel vorsieht). Zum anderen hat der EuGH auch überhaupt keine Aussage darüber getroffen, unter welchen Bedingungen Beitrittsverträge im Gesundheitswesen abgeschlossen werden müssen. Das System des

  • 127 SGB V ist durch die Entscheidung des EuGH nicht in Frage gestellt worden. Auch aus dem derzeit viel zitierten Beschluss des OLG Düsseldorf vom 21. Dezember 2016 (Az. VII Verg 26/16) folgt nichts anderes.

Fazit

Es gelten weiterhin die gesetzlichen Vorgaben (§ 127 SGB V). Danach sind ein­seitige Preisdiktate – und damit auch „Open-House-Modelle“ – im Hilfsmittelbereich als unzulässig anzusehen. Diese Einschätzung wird auch vom Bundesministerium für Gesundheit sowie der Aufsicht (Bundesversicherungsamt) geteilt (Stellungnahme des Bundesversicherungsamtes vom 22. Mai 2017, Az.: 211-59012.505 1399/2017).

Ausblick

Die Hoffnung, dass sich die Kostenträger, die die einseitige Vorgabe von Vertragstexten und -preisen als Modell ihrer Wahl sehen, dieser Auffassung anschließen, von „Open-House-Modellen“ künftig absehen und an den Verhandlungstisch zurückkehren werden, dürfte sich vermutlich als naiv erweisen. Aus Sicht der Leistungserbringer und der Patienten ist dies eine bittere Erkenntnis. Denn:

Die eigentliche Absicht des Gesetzgebers war es, durch die Veränderungen im SGBV (HHVG) für mehr Qualität für die Versicherten zu sorgen. Indirekt ist damit ein zwingend logischer Anstieg der Vertragspreise verbunden – denn mehr Qualität zu immer niedrigeren Preisen ist (auch im Hilfsmittelmarkt) nicht zu haben.

Es bleibt daher ein mehr als fader Beigeschmack, wenn nur wenige Tage nach Inkrafttreten der Reform absehbar ist, dass einzelne Kostenträger ihr Recht auf einseitige Vertragsdiktate mit aller Gewalt durchsetzen wollen – wohl um genau die vom Gesetzgeber intendierte Folge des neuen Gesetzes zu verhindern. Für die Branche bedeutet der Streit, dass entweder die Gerichte in langwierigen Verfahren klären müssen, ob „Open-House-Modelle“ neben Verträgen nach

  • 127 SGB V zulässig sind. Alternativ könnte auch der Gesetzgeber tätig werden und eine Klarstellung in das Gesetz aufnehmen. Angesichts der bevorstehenden Wahl in diesem Jahr erscheint Letzteres im Moment wenig wahrscheinlich.

Anschrift der Verfasserin:
Rechtsanwältin Bettina Hertkorn-Ketterer
Röckesbergstraße 2
53227 Bonn

 

Ausgabe 07 / 2017

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