Der menschliche Gang ist einer der unsichersten Fortbewegungvorgänge, die es unter Lebewesen in der Natur gibt“, heißt es wenig überraschend in einer Forschungsstudie der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin von 2008. Thema war die Ermittlung von Einflussfaktoren, die zum Stolpern und Umknicken führen, um die Sicherheit rund um den Arbeitsplatz zu verbessern. Dabei wird auch unfallträchtige Fußbekleidung analysiert. Von den drei wesentlichen Gefahrenmomenten, die zum Stolpern führen können, nämlich Erhöhungen oder Vertiefungen der Laufebene und sogenannte Fußangeln ist das „Hängenbleiben mit der Schuhspitze“ neben dem Umknicken besonders tückisch: „Ein zu lang gewählter Schuh begünstigt das Stolpern, denn mit jeder Bewegung muss der Schuh übermäßig weit nach vorn gleiten, um an der schuhtechnisch vorgegebenen Stelle abrollen zu können.“
Mittelalterliche Modeopfer
Dass statistisch gesehen jeder fünfte Unfall bei der Arbeit auf Stolpern, Rutschen, Stürzen zurückgeht und die möglichen Folgen von blauen Flecken bis zu komplizierten Knochenbrüchen reichen, ist eine moderne Erkenntnis. Sie hat unsere Sicherheit am Arbeitsplatz in den letzten hundert Jahren wesentlich verbessert. Ob sie, wenn sie weitere Jahrhunderte früher Einzug gehalten hätte, eine der bizarrsten Schuhmoden der Geschichte, den mittelalterlichen Schnabelschuh mit überlanger Schuhspitze hätte verhindern können, darf man bezweifeln. Zu mächtig erscheint die Autorität modischer Eleganz, über die sich auch im Mittelalter schon die Gemüter erregten, allen voran die kirchlichen Autoritäten, aber auch amüsierte Zeitgenossen wie etwa Geoffrey Chaucer, ein hoher Beamter am englischen Königshof, der sich 1387 in seinen „Canterbury Tales“ auch über die unziemliche Kleidung von Mönchen ausließ. Der Name Chaucer ist vom französischen chausseur für Schuhmacher abgeleitet und lässt auf entsprechende Vorfahren schließen. Verhindert haben jedoch alle wortmächtigen Kritiker diese Mode nicht, deren Popularität und Verbreitung nun ein Wissenschaftler-Team von der Universität Cambridge unter der Leitung von Jenna M. Dittmar im Rahmen eines großen Forschungsprojekts „Nach der Seuche: Gesundheit und Geschichte im mittelalterlichen Cambridge“ untersucht und für die Stadt Cambridge als paleopathologische Fallstudie „Fancy shoes and painful feet: Hallux valgus and fracture risk in medieval Cambridge, England“ genauer beziffert hat. {pborder}

Statussymbol und Körperdeformität als soziologische Marker
Neben Distinktionsgewinn dürften die genannten „Schnabelschuhe“ ihren Trägern auch einige Qualen beschert haben. Denn die Hallux valgus-Zehenfehlstellungen nahmen, wie die Studie konstatiert, mit wachsender Popularität der spitzen Schuhe signifikant zu und brachten sodann – in dieser Reihenfolge – durch die gestörte Motorik beim Gehen die Betroffenen vermehrt zu Fall. Was die Archäologen durch die ebenfalls gehäuft auftretenden Knochenbrüche belegt sehen wollen. Dieser Kausalität muss man nun nicht unbedingt folgen. Mit einiger Plausibilität lassen sich die Stürze und Brüche, siehe die eingangs genannte Forschungsstudie, nämlich auch als Folge der disfunktionalen Schuhformen begreifen. König Edward IV. erließ 1463 sogar ein Gesetz, das Schuhschnäbel, die länger als moderate 5 Zentimeter (2 inch) maßen, in London verbot – womöglich nicht nur im Kampf gegen die Eitelkeit. Wobei auch das Gehen mit manieriert auswärts gesetzten Fußspitzen, das bis weit ins 19. Jahrhundert als „schöner Gang“ so beliebt wie unter Schuhreformern verhasst war, hier seinen Ursprung hat, weil der lange Schuhschnabel ein normales Abrollen unmöglich machte. Tatächlich macht die Studie bei alledem eindrucksvoll sichtbar, wie sich anhand des Statussymbols Schuh, sowie einer dadurch hervorgerufenen anatomischen Veränderung, Distinktion generieren lässt und sich darüber zugleich die Verlaufslinien gesellschaftlicher Zugehörigkeiten zwischen, vereinfacht gesprochen, reichen Bürgern einerseits und armen Bauern andererseits nachzeichnen lassen.
Andere Friedhöfe, andere Füße
Vier Friedhöfe wurden im Rahmen der Studie ausgewertet. Der am Stadtrand gelegene Pfarr-Friedhof All Saints wurde von ca. 940 bis 1365 genutzt und bietet einen guten Querschnitt durch die sozialen Klassen der Universitätsstadt mit dem damals hohen Klerikeranteil. Verschiedene Grabungen zwischen 1972 bis 1994 beförderten hier insgesamt 215 Skelette zutage. 50 daraus wurden für die Studie ausgewählt. Der zweite Friedhof gehört zum Hospital St. John Evangelist, das die Armen und Bedürftigen versorgte. Der Friedhof wurde von 1204 bis 1511 genutzt. 2010 bis 2011 wurden bei Grabungen 400 Skelette geborgen, neben Hospitalinsassen auch einige ältere Bürger, die ihre Pflege durch Schenkungen an das Hospital abgalten. Der dritte Friedhof gehörte zum Augustiner Mönchskloster. Er wurde ab 1279 bis zur Klosterauflösung 1538 genutzt. Bei Grabungen zwischen 1908 und 1909 wurden 47 Individuen gesichert und 2016/17 weitere 38 geborgen – Klosterbrüder und Laien-Wohltäter, die ohne die typische Mönchs-Gürtelschnalle beerdigt wurden. Der vierte und letzte Friedhof von Cherry Hinton gehörte zu einer ländlichen Gutsherrschaft 6 Kilometer außerhalb von Cambridge, die zwischen 940 und 1170 in Gebrauch war. Die Bestatteten repräsentieren die regionale Mischung aus freien und unfreien Bauern der Gegend. 1999 wurden 980 Individuen geborgen, von denen 37 für die Untersuchung herangezogen wurden.
Mönche als Fashionvictims
Insgesamt 177 Skelette wurden am Ende für die Studie ausgesucht, makroskopisch untersucht sowie mit einem Röntgengerät durchleuchtet. Die relevanten Teile des Großzehs wurden nach den von Mays (2005) definierten Kriterien auf Hallux valgus-Anzeichen geprüft. Dabei wurden vier Altersgruppen definiert: Jugendliche Erwachsene (18 – 25 Jahre), mittelalte Erwachsene (26 – 44 Jahre), reife Erwachsene (45 – 59 Jahre), alte Erwachsene (60+ Jahre). So ergab sich folgendes Bild: Im Mittel zeigen 18 Prozent der Untersuchten Hallux valgus typische Knochenveränderungen. Den Spitzenplatz mit 45 Prozent Hallux valgus belegt das Augustiner Mönchskloster. Wobei von gesamt 21 Mönchen gleich beide Mönche der Kategorie junge Erwachsene (18 – 25 Jahre) Hallux valgus-Pathologien zeigen. Während bei den mittelalten, reifen und alten Individuen auch mindestens ein Mönch Zehendeformitäten zeigte, die Häufigkeit in der Jugend am höchsten war und – entgegen moderner Evidenz – im Alter kleiner wurde. Starke Zehenfehlstellung war damals offenkundig keine gute Voraussetzung, um damit alt zu werden. Immerhin noch 40 Prozent der hier bestatteten Laien zeigen ebenfalls Hallux valgus-Deformationen. Gefolgt werden sie von 23 Prozent bei den Individuen vom Friedhof des Hospitals und von 10 Prozent bei den Individuen vom Pfarrfriedhof am Stadtrand. Das Schlusslicht bildet der ländliche Friedhof Cherry Hinton, in dem von gesamt 37 untersuchten Individuen nur eine einzige mittelalte Frau Hallux valgus-Pathologien aufweist. Das entspricht einem Prozentsatz von 3 Prozent.
De viribus quantitatis
Ein plausibler Befund. Fragwürdig erscheint dagegen nun die Interpretation der ebenfalls erhobenen Knochenbrüche bei 159 Individuen (86 männliche, 47 weibliche, 26 unklares Geschlecht). Während der rein numerische Befund bei gleichbleibender Bezugsgröße von 159 untersuchten Gesamtpersonen wenig auffällig erscheint, wird er durch eine spezielle Lesart nach einem nicht weiter ausgeführten „Fisher’s test“ dramatisiert und sodann missverständlich resümiert, dass „ein signifikant höherer Teil von Individuen mit Hallux valgus zugleich Brüche hatte als solche ohne Hallux valgus.“ In absoluten Zahlen betrachtet, stellt sich die Situation durchaus anders dar: 29 Personen von gesamt 159 (= 18 %) zeigen Hallux valgus-Veränderungen. Während 55 von 159 (= 34 %), also fast doppelt so viele, einen oder mehrere Brüche erlitten. Die Schnittmenge von 15 Personen, die Hallux valgus haben und Brüche erlitten, ist gegenüber 40 Personen, die Stürze und Brüche ganz ohne Hallux valgus erlitten, relativ gering und legt im Umkehrschluss nahe, dass offenbar nicht der Schiefzeh das Straucheln und Stürzen „getriggert“ hat, sondern anderes – beispielsweise disfunktional geformte Schuhe mit zu langer Spitze. Man fühlt sich an den großen italienischen Renaissance-Mathematiker Luca Pacioli (1445 – 1508) erinnert, der nicht nur als erster die Doppelte Buchführung beschrieb und den Goldenen Schnitt erforschte, sondern 1508 auch eine Arbeit über mathematische Scherze und Zaubertricks mit dem sprechenden Titel „De viribus quantitatis“ (Von den Kräften der Menge[nangabe]) veröffentlichte.
Die Position der Spitze zählt
Uneingeschränkt aussagekräftig ist dabei die Beobachtung der Studie, dass an Personen aus dem 11. bis 13. Jahrhundert markant weniger Hallux valgus-Pathologien beobachtet wurden als im 14. und 15. Jahrhundert, als die Schuhe sich zuspitzten. Ein ähnliches Gefälle zeigen auch die verschwindend wenigen Hallux valgus-Befunde bei den Bauern vom Landfriedhof Cherry Hinton, die überwiegend praktisch und druckarm geschnittene Schuhe getragen haben müssen, wenn sie nicht sowieso barfuß liefen, gegenüber der deutlich höheren bis hohen Häufigkeit bei den städtischen Bürgern. Rundum zustimmen kann man daher der Aussage der Studie, dass erst weitere Recherchen zu Hallux valgus-Pathologien in archäologischen Kontexten eine substanzielle Diskussion über Schuhmoden und mittelalterliche Gesellschaft ermöglichen werden. Vorrangig wünschenswert erscheint dabei eine exaktere Spezifizierung der Vorfußgestaltungen, die bisher unter der Sammelbezeichnung Schnabelschuh/ spitzer Schuh untergegangen sind. Zumal auf dem europäischen Kontinent markante Unterschiede des Großzehenwinkels durch die zahlreich erhaltenen Schuhleisten in den norddeutschen Hansestädten belegt sind (siehe Abb. 3 und 4). Die unterschiedlich platzierten Spitzen in Relation zu zeitgenössischen Zehendeformationen zu setzen, verspricht weitere Einblicke in das funktionale Verständnis dieser bis heute verbreiteten Pathologie.
Literatur
Siehe PDF.
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