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30. Januar 2023
Redaktion
Lipödem-Versorgung

Lipödem-Betroffene fordern effektivere Versorgung

Eine bessere und zeitnahe medizinische Versorgung von Patienten mit Lipödem-Erkrankung fordert eine Petition, die von 64 292 Menschen mitgezeichnet wurde. Schon vor Beendigung der bis Ende 2025 laufenden Erprobungsstudie (LIPLEG-Studie) solle die Liposuktion (Absaugung von Fettzellen) in allen Stadien der Erkrankung von den Krankenkassen übernommen werden.
öffentlichkeitswirksame
Foto: Lipödem Hilfe Deutschland e.V.
Inge Erdinger (vorne links) und Mitstreiterinnen im Jahr 2019 bei einer öffentlichkeitswirksamen Aktion.

Die Petition wurde vor dem Hintergrund verfasst, dass die gesetzliche Krankenversicherung die Kosten einer Liposuktion bislang in den ersten beiden Stadien der Erkrankung nicht übernimmt. Sie müssen privat getragen werden und liegen pro Eingriff bei rund 2000 bis 7000 Euro. Im Schnitt sind zwei bis drei Liposuktionen erforderlich (Oberschenkel, Unterschenkel, Gesäß, Arme). Eine finanzielle Belastung, die sich viele Frauen nicht leisten können. Selbst im dritten Stadium zahlen die Krankenkassen erst seit 2019, und das nur unter bestimmten Bedingungen (u.a. sollen Frauen mit BMI über 40 kg/m² nicht operiert werden) und vorerst befristet bis Ende 2024. Bis dahin werden die Ergebnisse einer 2017 vom Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) in die Wege geleiteten Erprobungsstudie zur Liposuktion bei Lipödem erwartet. Erst wenn die Studienergebnisse vorliegen, will der G-BA abschließend zur Methode für alle Stadien der Erkrankung entscheiden.
Für die Petentin Inge Erdinger dauert dies zu lange, in zweifacher Hinsicht – die Gründerin der Düsseldorfer Selbsthilfegruppe (SHG) „fett oder fett – Mein Leben mit Lip-/Lymphödem“ hat einen Kampf verloren, den um ihr Leben: Mitte November erlag sie einem Krebsleiden. Auch wenn die Trauer um diesen geschätzten Menschen nach wie vor groß ist, kämpfen ihre Mitstreiterinnen weiter für bessere Lebensbedingungen für Lipödem-Erkrankte. Jessica Rüther, die eine Leitungsfunktion bei der SHG innehat und mit Inge Erdinger bei der Anhörung im Petitionsausschuss war, erzählt: „Inge fragte: Was ist denn in all den Jahren seit 2017 passiert? Immer wieder wurde auf die Studie verwiesen.“

Betroffene vermuten Verzögerungstaktik

Die LIPLEG-Studie zur Beantwortung der Frage, welchen Nutzen die Liposuktion bei Lipödem im Vergleich zu einer konservativen, symptomorientierten Behandlung – insbesondere der komplexen physikalischen Entstauungstherapie (KPE) – hat, wurde im Februar 2021 begonnen. Die Vorlage von Zwischenergebnissen sei nicht vorgesehen, sagte Matthias Perleth als Vertreter des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) während der öffentlichen Sitzung des Petitionsausschusses.

Was ist ein Lipödem?

„Wir sehen hier eine klare Verzögerung zum Leidwesen der Betroffenen“, erklärt Jessica Rüther. Die Leiterin einer Kindertagesstätte hat sich 2020 für die Liposuktion entschieden: „Ein letzter Ausweg für mich: Ich hatte derart starke Schmerzen, dass ich kaum noch ein Kind hochheben konnte. Ich wäre arbeitsunfähig geworden.“

Die heute 38-Jährige hat mutierte Fettzellen nicht nur an den Armen und Beinen, sondern sogar im Nackenbereich entfernen lassen und leidet seitdem nicht mehr unter den sonst für sie üblichen starken Nacken- und Kopfschmerzen. Insgesamt 27 Liter krankhafter Fettzellen wurden in drei Eingriffen abgesaugt – auf eigene Kosten.

Ein gutes Jahr ist die letzte Operation nun her. Jessica Rüther ist immer noch von starken Hämatomen gezeichnet. Der Körper braucht ein Jahr oder länger, bis er sich „beruhigt“, auch das verbliebene Wasser ausscheidet. Hier helfen Lymphdrainagen, denn die Krankheit war mittlerweile so weit fortgeschritten, dass sich auch ein sekundäres Lymphödem entwickelt hatte. Aber das nimmt die junge Frau geduldig in Kauf: „Ich habe die Schmerzen nicht mehr. Als hätte ich extremen Muskelkater, so fühlte sich die permanente Spannung an. Das ist kaum auszuhalten. Und auch das Lymphödem kann sich wieder ganz zurückbilden.“

Schon in der Jugend, verstärkt in der Pubertät, sah Jessica Rüthers Köper anders aus, waren Gesäß und Oberschenkel fülliger. „Die Knöchellose“, nannte sie sich selber und verwies dabei auf den „gepolsterten“ Übergang von Unterschenkel zu Fuß. Diäten und Sport halfen wenig.

Jessica Rüther ging zielstrebig ihren beruflichen Weg, nahm weiter an Gewicht zu. 2018 endlich bekam sie die Diagnose Lipödem, verdrängte diese aber anfangs, schottete sich ab und sah sich zunächst auch nicht in der Lage, die Kosten für eine Operation aufzubringen. Bis zu ihrem mutigen Schritt in Jahr 2020. Heute geht sie alle drei Monate zur Nachsorge beim Phlebologen; oft mit der Angst, dass noch krankhafte Fettzellen vorhanden sind, denn diese könnten sich dann schnell wieder aufbauen. Aber Jessica Rüther ist zuversichtlich und schaut nach vorne.

Krank, nicht dick!

Inge
Foto: privat
Inge Erdinger hat sich mit Herz und Verstand für Menschen mit und ohne Lipödem eingesetzt.

Vor 20 Jahren gab es nur wenige engagierte Ärzte unterschiedlicher Fachrichtungen, die Frauen mit schmerzhaft dicken Beinen und Armen ernst nahmen und über die Kompressionstherapie hinaus einen chirurgischen Eingriff wagten. Erst im Januar 2017 wurde das Lipödem als krankhafte Fettverteilungsstörung anerkannt – für die Betroffenen, die nicht nur unter Schmerzen und Folgeerkrankungen, sondern auch unter der Stigmatisierung (dick!) leiden, ein elementarer Wendepunkt. Noch immer wissen nur wenige, was ein Lipödem ist und dass rund vier Millionen Menschen und damit jede zehnte Frau daran erkrankt. Viele Betroffene wissen selber nicht von ihrer eigenen Erkrankung, schämen sich für ihre „unschönen“ Beine, versuchen sich vergeblich in unzähligen Diäten, entwickeln Essstörungen und Depressionen. Dennoch nehmen sie meistens weiter zu, vor allem an den Beinen, oft auch an den Armen. Jede Berührung tut weh, Sport und Bewegung werden zum Martyrium – ein Teufelskreis, der vielfach von Adipositas und Diabetes begleitet wird.

Liposuktion könnte dauerhaft helfen

Dieser unendliche Leidensweg könne beendet werden: Durch eine Liposuktion, vor allem schon im frühen Stadium, wenn der Körper noch nicht oder wenig von Folgeerkrankungen gezeichnet ist, sind die Petentinnen überzeugt.

Inge Erdinger sprach es im Bundestag offen an: Nach Anerkennung der Krankheit sei die Entwicklung größer angelegter, wirkungsvoller Therapieansätze aus der Ärzteschaft heraus ausgeblieben. Der Unmut der vielen vom ipödem betroffenen Frauen erweckte Ende 2018 die Aufmerksamkeit des Bundesgesundheitsministers, der 2019 die Ärzteschaft mit ihren Fachgesellschaften unter Druck setzte, eine solide medizinische Behandlung des Lipödems zu etablieren. In der Folge gründete sich am 19. Februar 2020 die Deutsche Gesellschaft für Lipödem-Chirurgie e.V. (DGfLC). Gemeinnützig agierend, unterstützt die DGfLC nach eigenen Angaben als unabhängige wissenschaftlich-medizinische Fachgesellschaft Forschung, Lehre und Praxis mit dem Fokus konservativer und chirurgischer Lipödem-Therapie. Ziel der Gesellschaft ist es unter anderem, die Vereinheitlichung der Behandlungsstandards zur Diagnose, Therapie und Nachsorge des Lipödems voranzubringen. Für eine bedarfsgerechte Versorgung will sich auch die Lipödem Gesellschaft e.V. einsetzen.

Schon im Vorfeld der Petition von Inge Erdinger forderten Betroffenenverbände und die Lipödem Gesellschaft die Gesundheitspolitik auf, Frauen in allen Stadien der Erkrankung nicht länger auf eine effektive Versorgung warten zu lassen. Sie kritisierten neben den Problemen beim Zugang zur Versorgung von Frauen in Stadium III besonders die Situation von Frauen mit einer Erkrankung im Stadium I und II.

Das operative Verfahren: Die Liposuktion

LIPLEG-Studie soll Klarheit bringen

Ob und wann es hier finanzielle Unterstützung für eine Liposuktion zulasten der GKV geben wird, hängt von den Ergebnissen der LIPLEG-Studie ab, die federführend von der Universität Köln gemeinsam mit der Hautklinik des Klinikums Darmstadt durchgeführt wird. Nach Berechnungen des Aktionsbündnisses gab es im Jahr 2020 im Rahmen der Übergangsregelung rund 900 ambulante als auch stationäre Eingriffe an insgesamt etwa 300 Frauen, wie das Deutsche Ärzteblatt berichtet. Jessica Rüther schränkt ein: „Soweit ich weiß, werden nur die Beine behandelt – was das Ganze dann für mich fragwürdig macht, wenn z. B. auch die Arme betroffen sind. Denn dann verbleiben kranke Fettzellen im Körper.“

Die Anliegen der Petition

In ihrer öffentlichen Petition fordert Inge Erdinger nicht nur, dass die Liposuktionsbehandlung in allen Stadien der Erkrankung durch die Krankenkasse finanziert wird. Auch müsse die Aufgabe der Begutachtungen, die derzeit durch den Medizinischen Dienst der Krankenkassen (MDK) wahrgenommen wird, von unabhängigen Gutachtern übernommen werden, die sich täglich mit der Erkrankung beschäftigen. „Die beim MDK tätigen Personen sind nicht adäquat geschult, um sich auch nur annähernd auf dem Gebiet der Lymphologie auszukennen“, heißt es in der Petition. Da das Lipödem, „respektive die Lymphologie“, im medizinischen Studium nicht beziehungsweise kaum beachtet werde, müsse es eine Ausbildungsverpflichtung im Studium und in der Weiterbildung geben. Hausärzte, aber auch Fachärzte, wie etwa Gynäkologen, Kinderärzte und vor allem Dermatologen, müssten die Krankheit frühzeitig erkennen können, betont die Petentin.

Ärztliche Unterstützung

Unterstützt wurde ihre Forderung von dem Facharzt für Gefäßkrankheiten Michael Offermann aus Essen. „Nach einer Operation, wenn sie denn früh genug durchgeführt wird, ist das Lipödem vorbei“, betonte der Experte. „Das ist schon seit 20 Jahren so“, fügte er hinzu. Auf anderslautende Stellungnahmen von Lymphologen hingewiesen, sagte er: Die Lymphologie habe eigentlich mit dem Lipödem nichts zu tun. Das Lipödem sei eine trockene Erkrankung. Die Fettzellen seien zu groß, es sei aber kein Wasser in ihnen. Eine Lymphdrainage bringe daher nichts, die Kompressionstherapie mache lediglich zur Schmerzstillung Sinn, bzw. dann, wenn sich zusätzlich zum Lipödem noch ein sekundäres Lymphödem entwickelt hat.

Offermann stellte sich auch hinter die Forderung der Petentin, den Body-Maß-Index (BMI) nicht als Kriterium für eine Kostenübernahme der Liposuktionsbehandlung anzusehen, sondern eher das Verhältnis Hüfte zur Taille heranzuziehen. G-BA-Vertreter Perleth sagte dazu, der G-BA sei schon an die oberste Grenze der Empfehlungen von Experten beim BMI gegangen, um möglichst vielen Patientinnen die Behandlung zu ermöglichen. In der entsprechenden Richtlinie finde sich auch keine absolute Grenze. In Einzelfällen könne es also Ausnahmen geben. Auch wenn die Aussagekraft des BMI in bestimmten Konstellationen an seine Grenzen komme, sei er ein international etablierter Standard, den der G-BA nicht „einfach so“ durch einen anderen Wert ersetzen könne, gab Perleth zu bedenken.

Von verschiedenen Seiten wurde eine Verzögerung des gesamten Entscheidungsprozesses kritisiert. Perleth entgegnete, beim G-BA sei das Thema nicht auf die lange Bank geschoben worden. Man habe sich sehr ernsthaft bemüht, sich dem Thema zu widmen „und eine gute Lösung zu finden“. Eine solche umfangreiche Studie zu planen, sei aber komplex und dauere seine Zeit.

Wie geht es weiter?

„Erst einmal müssen wir den plötzlichen Tod unserer Freundin und Mitstreiterin Inge Erdinger verarbeiten und einiges neu strukturieren“, sagt Martina Schulte-Schiefelbein, die wie Jessica Rüther eine Leitungsfunktion in der Düsseldorfer SGH hat. „Die Petition geht im Bundestag durch die Instanzen. Das dauert. Wenn das Votum positiv ausfällt, kommt das Thema auf die Tagesordnung im Bundestag. Solange bauen wir weiter unsere Kontakte zu Politiker*innen auf. Wir hatten das Gefühl, mit offenen Armen empfangen zu werden. Zumindest sind wir hier in Deutschland vom medizinischen Erkenntnisstand her weltweit am weitesten fortgeschritten. Deshalb kommen ja auch so viele Betroffene z. B. aus Frankreich und England zur Behandlung nach Deutschland – mit großer Hoffnung!“

Anschrift der Verfasserin:
Ulrike Kossessa
KOCOM Kossessa Communications
Meertal 32
41464 Neuss

 

ULRIKE KOSSESSA

Foto: Andrey Popov/Adobe Stock
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