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15. Juli 2016
Redaktion

Laufschuhe und Beratung werden sich verändern

Wie setzt man die Erkenntnis, dass Dämpfung und Pronation nach aktuellem Stand der Wissenschaft keine wesentliche Rolle bei Verletzungen spielen, in der Schuhentwicklung und in der Beratung im Handel um? Ansätze dazu lieferte das Laufschuhsymposium der Zeitschrift Runners World bei der
ISPO-Messe am 25. Januar in München.
Von Wolfgang Best

Foto: ISPO-Messe

Es war ein Requiem für die Dämpfung und die Pronation“, blickte Runners World Redakteur Urs Weber auf das letzt­jährige Symposium zurück. Fast genau ein Jahr zuvor hatten Prof.  Benno Nigg und Prof. Gert-Peter Brüggemann mit der wissenschaftlich untermauerten Erkenntnis, dass Pronation und Dämpfung für die Vermeidung von Laufverletzungen keine Rolle spielen, zwei der zentralen Säulen der Laufschuhentwicklung und auch des Laufschuhverkaufs gekippt. Beide hatten überzeugend dargelegt, dass es keinen wissenschaftlichen Beweis dafür gibt, dass man mit gut gedämpften Schuhen oder Schuhen, welche die Pronation einschränken, sein Verletzungs­risiko verringern kann. Im Gegenteil: Die Pronation soll sogar nötig sein, um Verletzungen zu vermeiden. Das legte zumindest eine aktuelle Studie aus Dänemark nahe, in der Läufer, die moderat pronierten, weniger häufig verletzt waren, als die sogenannten Neutralfußläufer.
Laufsporthändler und Schuhhersteller zeigten sich auf jenem Symposium einigermaßen geschockt von den neuen Erkenntnissen. „Nach welchen Kriterien sollen wir jetzt verkaufen?“, war eine der am häufigsten gestellten Fragen, begleitet vom Unbehagen, den Kunden womöglich erzählen zu müssen, dass man 20 Jahre lang nach den falschen Kriterien beraten hat. Das diesjährige Symposium knüpfte bei diesen Fragen an und versuchte, Perspektiven aufzuzeigen, welche Kriterien künftig in die Laufschuhberatung integriert werden können.
Den bevorzugten Bewegungsablauf, der bei jedem Menschen unterschiedlich ist, und den Komfort, den der Läufer  im Schuh empfindet, das seien künftig die wichtigen Kriterien für die Laufschuhauswahl. Wenn der Schuh komfortabel ist, sagte Benno Nigg, unter Verweis auf eine eigene Studie, und wenn der Sportler durch den Schuh in seinem bevorzugten Bewegungsablauf unterstützt statt gehindert wird, dann hilft der Schuh dabei, Verletzungen zu vermeiden. Oder anders gesagt: Dann ist der Schuh wenigstens nicht schuld, wenn sich der Läufer verletzt. Denn welche Rolle die Schuhe tatsächlich bei Verletzungen spielen ist noch in der Diskussion und kam auch beim Laufschuhsymposium zur Sprache.

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Spielen die aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisse bei den Läufern überhaupt schon eine Rolle? Eher nicht, auch wenn laut der Umfrage von Runners World unter über 9000 Läufern viele Läufer angegeben hatten, dass sie beim Laufschuhkauf auf  gute Passform, Qualität und Komfort achten. Bei dieser Umfrage, die auch Erkenntnisse zum Kaufverhalten der Läufer lieferte, gaben jedoch auch viele an, dass Dämpfung für sie beim Kauf immer noch ein wichtige Rolle spielt. In Sachen Komfort scheinen die Läufer also eher intuitiv das richtige zu tun, was die Wissenschaft seit kurzem empfiehlt.

„Knie sticht Fuß“
Die drei Referenten des Symposiums zeigten, dass sich sowohl Hersteller, aber auch der Handel schon aktiv mit den neuen Erkenntnissen auseinandersetzen und versuchen, daraus neue Konzepte für Schuhe und die Beratung zu entwickeln.
„Knie sticht Fuß“ brachte es Björn Gustafsson auf den Punkt. Auch er bezog sich auf die Studie aus Dänemark, nach der die Pronation eine natürliche, notwendige Bewegung ist. Für ihn hat deshalb die Pronation als Parameter für Schuhverkauf ausgedient. Stattdessen muss man, so Gustafsson, den Blick auf das Knie und die Beinachse richten, denn die Beinachse sei die Verbindungslinie zwischen Hüfte und Fuß. Sie sei entscheidend dafür, dass die Gelenke achsengerecht belastet werden. Gustafsson demonstrierte dies an einem Fallbeispiel eines Läufers mit einer leichten Prona­tion, die man früher versucht hätte, auszugleichen. „Die interessiert mich gar nicht“, erklärte er. Ihn interessiere, wie der Schuh die Bewegung verändert. In der Videoanalyse konnte er zeigen, dass ein Stabilschuh bei diesem Läufer zwar die Pronation sehr gut korrigiert, dafür aber die Beinachse sehr stark nach außen rotiert. Auch ein Neutralschuh hatte einen negativen Einfluss auf die Knierotation. Er würde deshalb einen Schuh wählen, der den Läufer bei der Stabilisierung der Beinachse unterstützt. „Aber“, gab Gustafsson zu bedenken, „man weiß nicht, wie der Läufer auf einen Schuh reagieren wird.“ Ob er stark auf das „Interface“ zwischen Fuß und Boden reagiert oder sich davon nicht beeindrucken lässt.
„Der Schuh verändert die Art, wie man läuft“, meinte auch Spencer White, Leiter des Forschungslabors beim Laufschuhhersteller Saucony. Man müsse den Bewegungsablauf des Läufers verstehen, damit man ihm den passenden Schuh verkaufen kann. Bei den Kriterien für die Beurteilung setzte er jedoch andere Schwerpunkte als Gustafsson.
Wie ein Laufschuh auf den Körper wirkt, hänge auch vom Laufstil ab und der Art, wie der Fuß auf den Boden aufsetzt, eher flach oder eher steil mit dem Erstkontakt an der Ferse. Aus diesem Grund empfände jeder Läufer denselben Schuh anders. Als Kriterium, wie der Läufer auf den Schuh reagiert, schlug White die Knieflexion in der Standphase vor. Die Steifheit der „Bein-Feder“ passe sich an die „Schuh-Feder“ an. Ein weicher Schuh dämpft nicht primär durch das Material, sondern er verändert die Reaktion des Läufers, der in weicheren Schuhen das Knie stärker flektiere. Man sollte bei der Beurteilung  eines Schuhes deshalb der  Sagittalachse in der Standphase Aufmerksamkeit schenken.
„Es gibt nicht den einen Schuh für alles“, sagte White.  So verändere die Laufgeschwindigkeit auch die Belastung, weshalb Läufer unterschiedliche Schuhe für unterschiedliche Bedingungen bräuchten. Ein Schuhwechsel verhindere, dass der Körper einseitig belastet wird.
Dr. Simon Bartold von Salomon wagte einen Ausblick auf die künftige Laufschuh-Entwicklung. Noch immer gebe es sehr wenige Erkenntnisse zur Verletzungsvermeidung, aber es sei heute schon klar, dass man bisherige Konzepte,  wie Stabilitätsschuhe, überdenken muss. Die Schuhe seien in den letzten Jahren zwar mit Technologie vollgestopft gewesen, doch meist ohne funktionellen Nutzen für den Läufer. Der Schuh sei dadurch nur schwerer geworden.
 Schuhe werden in Zukunft leichter und flexibler werden, während Materialien wie Gel oder Sohlen in unterschiedlichen Härten verschwinden, erwartet Bartold. Durch flachere Sohlenkonstruktionen und geringere Sprengungen rücke der Hebelarm näher an das Sprunggelenk, wodurch die Belastung verringert werde. Die derzeitigen Kategorien, nach denen Laufschuhe eingeteilt werden, hält Bartold für überholt. Sie seien nicht geeignet, dem Läufer den richtigen Schuh zuzuordnen.

Individualität des Läufers berücksichtigen
Doch wie geht es mit der Beratung im spezialisierten Laufschuhfachhandel weiter? In der Diskussionsrunde zum Ende des Symposium war keine eindeutige Richtung auszumachen. Jörg Seifert von der Vereinigung „Die Laufprofis“ betrachtet den Wandel durchaus als Chance für die qualifizierte Beratung: „Der Händler kann zeigen, dass er auf dem aktuellen Stand des Wissens ist“. Und damit könne man sich auch vom Online-Handel abgrenzen, der dies nicht leisten könne. Ganz aufgeben wollen viele Händler die alten Konzepte noch nicht. „ Wir haben in den letzten 25 Jahren auch viele richtige Schuhe verkauft“, erklärte ein Teilnehmer. „Wir hatten tausende zufriedene Kunden“, warf ein anderer ein. Die neuen Erkenntnisse sollten sicher Anlass zum Überdenken der bestehenden Konzepte in der Beratung sein, aber ohne den Kunden zu verunsichern.
 „Wir müssen den Menschen mehr in den Vordergrund stellen“, forderte Björn Gustafsson vor dem Hintergrund, dass die Läufer unterschiedlich auf denselben Schuh reagieren. Allein über Stützen und Dämpfen zu reden, reiche heute nicht mehr. Man benötige neue Parameter, um den richtigen Schuh auswählen zu können. „Ich muss individueller mit den Menschen und Problemen umgehen“, sagte Runners World Chefredakteur Martin Grüning. Das könne nur der kompetente Fachhandel.
 In der Diskussion wurde angemahnt, sich bei Verletzungen nicht nur auf den Schuh zu konzentrieren. Verletzungen könnten viele Ursachen haben, der Schuh sei hier nur eine Möglichkeit. Der Läufer habe es mit seiner Trainingsgestaltung auch selbst in der Hand, ob er sich verletzt oder nicht. Verletzungen könne man vermeiden, indem man die Belastung variiert, zum Beispiel durch den Wechsel des Untergrunds, der Verwendung unterschiedlicher Schuhe oder durch Ausgleichssportarten mit anderen Anforderungen und Belastungen.
Das Laufschuhsymposium zeigte, dass die Verunsicherung in der Branche angesichts der neuen Erkenntnisse zu Dämpfung und Pronation noch groß ist. Gleichzeitig waren jedoch schon Ansätze erkennbar, welche Kriterien künftig eine wichtige Rolle für die Laufschuhauswahl wichtig werden können. Welche sich davon durchsetzen, wird sich in den nächsten Jahren zeigen.

Ausgabe 3/2016

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Foto: Andrey Popov/Adobe Stock
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