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4. Mai 2017
Redaktion
Cerebralparese

Gangbildverbesserung durch eine Hilfsmittelversorgung

Durch geeignete orthopädieschuhtechnische und orthopädietechnische Hilfsmittelversorgungen können positive Gangbildveränderungen erzielt werden. Hierzu ist die Zusammenarbeit zwischen Patient, Eltern, Physiotherapie, Orthopädietechnik und Verordner von entscheidender Bedeutung. Bei Korrigierbarkeit der Befunde muss die Korrektur in der Orthese nachvollziehbar sein. Die Passgenauigkeit, Formschlüssigkeit und das Volumen der Or­these müssen korrekt sein, damit eine Funktionsverbesserung erzielt werden kann.

Entscheidend für eine suffiziente Korrektur, die auch den einwirkenden Kräften unter Steh- und Gehbedingungen gerecht wird, ist die Länge des Korrekturhebels, die am Unterschenkel den Wadenbauch mit einschließen sollte. Halbwadenhohe Unterschenkelorthesen sollten vermieden werden, um eine möglichst harmonische Druckumverteilung zu gewährleisten und über die Länge des Korrekturhebels die Dynamik der Carbonfeder zu erhöhen.

Im Rahmen einer medizinischen Hilfs­mittel­abnahme durch den Verordner soll die Pass- und Funktionsfähigkeit der Orthese überprüft und geklärt werden. Bei Vorliegen der Funktions- und Passfähigkeit ist die Akzeptanz der orthetischen Hilfsmittel in aller Regel problemlos. Geringes Eigengewicht der Orthese, Passgenauigkeit, Formschlüssigkeit und Funktionalität führen zu einer längeren Tragedauer und somit zu einer wirkungsvollen Orthesenversorgung, die die Kosten für eine solche Versorgung rechtfertigen.

Der Einsatz geeigneter orthopädietechnischer beziehungsweise ortho­pädieschuhtechnischer Hilfsmittel ist immer dann gerechtfertigt, wenn die Indikation zu einer Korrektur und Verbesserung des Gangbildes gestellt wurde. Die orthopädietechnischen Hilfsmittelversorgungen sind insbesondere bei der Behandlung cerebralparetischer Patienten hochindividuell, in ihrer Ausführung sehr variabel und in ihren Wirkungsweisen nur selten evidenzbasiert. Die Versorgungen erfolgen in aller Regel aufgrund der Expertise des Verordners sowie der handwerklichen Fähigkeiten des Leistungserbringers (Orthopädieschuh-machermeister / Orthopädietechnikermeister).

Welches orthopädietechnische Hilfsmittel für die einzelne Zielsetzung in Frage kommt, hängt von der Schwere des Befundes und dem therapeutischen Ziel ab. Eine Lagerungsorthese muss anderen Anforderungen gerecht werden als eine Orthese, die für das Stehen und Gehen eingesetzt werden soll. Die Korrigierbarkeit des Befundes entscheidet darüber, ob mehr gebettet oder korrigiert werden kann. Grundsätzlich gilt jedoch, dass das Hilfsmittel helfen und nicht behindern soll.

Lässt sich ein Fußbefund korrigieren, so sollte die Korrektur im Hilfsmittel zu erkennen sein. Ein Hilfsmittel, das einen Befund konserviert, ist nicht zielführend, um mehr Mobilität und eine lang­fristige Verbesserung der Prognose zu erreichen, sondern führt zu einer Manifestierung der Pathologie, die dringend vermieden werden muss. Ein Hilfsmittel soll korrigieren und nicht konservieren. Es ist nur dann medizinisch abzunehmen und vom Kostenträger zu finanzieren, wenn Pass­form, Volumen und Funktion des Hilfsmittels gegeben sind. Daher ist die Überprüfung des Hilfsmittels nach einer Erprobungsphase im Alltagsgebrauch obligat und sollte durch den Verordner erfolgen (medizinische Hilfsmittelabnahme). Wenn dies sichergestellt ist, lassen sich hierdurch erhebliche Über- und Unterversorgungen und Kosten vermeiden und es lassen sich Korrekturen in der Versorgung vornehmen, die der Mobilität des Patienten zugutekommen. Dies steigert die Qualität der Versorgung erheblich. Um hier Über- oder Unterversorgungen zu vermeiden, sind bei jeder Neuversorgung drei Fragen zu beantworten.

  1. Konnte das medizinische Versorgungsziel erreicht werden?
  2. War die Versorgung „zu wenig“ und muss nun die Orthese mit einem höheren Korrekturhebel ausgestattet werden?
  3. Oder war die Orthese „zu viel“, so dass der Korrekturhebel reduziert werden kann?

Wenn diese drei Fragen geklärt sind, lässt sich in der Regel eine Falsch- oder Fehlversorgung vermeiden. Hier ist die Zusammenarbeit zwischen Patient, Eltern, Therapeuten, Orthopädietechniker, Orthopädieschuhmachermeister und dem Verordner von hoher Bedeutung.

Fallbeispiel

Im Folgenden wird ein Patient mit bilateraler Cerebralparese vorgestellt. Im Rahmen des pubertären Wachstums veränderten sich seine Fußbefunde deutlich, er nahm an Gewicht zu und entwickelte sukzessive eine Schmerzsymptomatik der Füße. Diese beeinträchtigte seine Gehfähigkeit derart, dass er als Patient mit einer zentral bedingten Bewegungsstörung im Sinne einer spastischen Diparese einen Mobilitätsgrad nach GMFCS (Gross Motor Function Classification Sys­tem, standardisiertes System zur Klassifizierung der motorischen Beeinträchtigung auf einer 5-Punkte-Ordinalskala von Patienten mit Cerebralparese) Level III entwickelte (GMFCS Level III: gehfähig im Hause mit äußeren Gehhilfen, außerhalb des Hauses im Rollstuhl selbstständig mobil).

Die im Folgenden in Bildern dargestellten Fußbefunde hatten schon frühzeitig die Notwendigkeit einer operativen Behandlung erkennen lassen. Da jedoch bei diesem Patienten eine Operation höchst risikoreich war – infolge einer ausgeprägten narbigen Verengung der Trachea (Luftröhre) und auch durch vormalige operative Behandlungen war das Leben des Kindes schon mehrmals in ­Gefahr geraten – hatten sich sowohl die Eltern als auch der Patientin gegen operative Maßnahmen entschieden und die konservative Behandlung stets bevorzugt. Als Behandler dieses Kindes, der diesen Patienten über Jahre hinweg betreut, waren wir gezwungen, ein Behandlungskonzept zu entwickeln, das einerseits die Schmerzen reduzieren und die Korrektur der Fußfehlstellung gewährleisten und andererseits die Mobilität des Patienten verbessern und den Aktionsradius erweitern sollte.

Dynamische Unterschenkel­orthese in Prepreg-Technik

Diese Ziele sollten mit Hilfe einer dynamischen Unterschenkelorthese in Prepreg-Technik erreicht werden. Dabei handelt es sich um eine Unterschenkelorthese nach Gipsabdruck in Prepreg-Technik mit vollkontaktiger Fußfassung in anatomischer Korrektur von oberem und unterem Sprunggelenk, Längswölbung und Rückfuß mit tibialer Kondylenfassung und dynamischer Prepreg-Carbonfeder (Abb. 2 – 6).

Die Prepreg-Carbonfeder kann hochindividuell auf die Bewegungsumfänge im oberen Sprunggelenk, aber auch auf die Torsionsmöglichkeiten Einfluss nehmen. Durch das Zusammenspiel von Feder und langsohliger plantarer Fuß­führung können die Dynamik im Abrollverhalten, aber auch die extendierenden Momente im Kniegelenk beeinflusst werden. Durch die konstruktiv bedingten, fort­laufenden Korrekturkräfte werden har­monische Bewegungsabläufe ermöglicht. Wir beobachten bei Patienten mit Spitzfußgang, der mit primärem Vorfußkontakt erfolgt (retrograde Fußbelas­tung), in den meisten Fällen eine Umkehr der Fußabwicklung mit primärem Fersenkontakt (anterograde Fußbelastung) und somit ein Belastungsbild, das dem physiologischen Gangbild angeglichen ist.

Aufgabe des Orthopädietechnikers war es, nach Demonstration der Korrigierbarkeit beider Füße, diese Korrektur auch in einem Gipsabdruck zu repräsentieren, um dann die verordnete dynamische Unterschenkelorthese fertigen zu können.

Wie auf den Abbildungen des klinischen Befundes (Abb. 7–11) und des Korrekturbefundes (Abb. 12 – 15) zu erkennen ist, konnte der ursprünglich konvexe Fußrand konkav ausgestaltet, der extreme Rückfußvalgus in einem physiologischen Valguswinkel korrigiert und durch den unterschenkellangen Korrekturhebel das Korrekturergebnis auch unter Belastung sichergestellt werden.

In der dynamischen, klinischen Ganganalyse zeigte sich beim Barfußgehen ein kleinschrittiges, von Schmerzen begleitetes Belastungsbild, wobei beide Füße im Vorfuß medial betont extrem belastet und abduziert wurden, der Rückfuß endgradig valgisierte (30°), das untere Sprunggelenk verblockte und eine kompensatorische Außenrotation der unteren Extremitäten beobachtet werden konnte. Aufgrund der Schmerzsymp­tomatik war der Patient gezwungen, zusätzliche externe Entlastungshilfen (Unterarmgehstützen) zu nutzen, um seinen Aktionsradius zu erweitern und die Belastungen beider Füße tolerieren zu können.

Zum Zeitpunkt der Indikationsstellung für die Versorgung mit einem Paar dynamischer Unterschenkelorthesen in Prepreg-Technik befand sich der Patient nach dem Gross Motor Function Classification System im Level III, der durch die Verwendung der Unterschenkelorthese in den Level I bis II verbessert werden konnte (GMFCS Level II: uneingeschränkt gehfähig im Haus, außerhalb leicht eingeschränkt, Einschränkungen bei Treppe, Hindernisse und Bewegungsradius;

LevelI: uneingeschränkter Außenbereichsgeher, unauffälliges Gangbild). Die klinische dynamische Ganganalyse zeigte nach der Versorgung ein achsengerechtes Belastungsbild beider Füße, eine vollständige Schmerzfreiheit des Patienten, ein Verzicht auf externe Hilfsmittel und eine erhebliche Dynamisierung und Harmonisierung des Gangbildes, das einem unauffälligen, physiologischen Gangbild entsprach. Nach diesem erfolgreichen Versorgungsergebnis steht nun für den Patienten und auch seinen Eltern ein operatives Vorgehen nicht mehr im Fokus, das Risiko einer operativen Behandlung konnte ausgeschaltet und auch die langfristige Prognose für die Belastungsfähigkeit der Füße verbessert werden.

Überzeugungsarbeit führt zu guter Akzeptanz

Als Verordner stehe ich häufig zwischen dem Wunsch des Patienten, mit möglichst wenig technischer Hilfe auskommen zu wollen, und andererseits der ­Notwendigkeit einer höhergreifenden orthopädieschuhtechnischen oder ortho­pädietechnischen Versorgung, um das Versorgungsziel erreichen und eine suffiziente Belastungsfähigkeit des Patienten erreichen zu können. Das ist nur mit einem ausreichend langen Korrekturhebel möglich. Hier gilt es, den Patienten als Arzt und Verordner davon zu überzeugen, dass dies medizinisch notwendig ist, da ansonsten die Prognose für die weitere Befundentwicklung negativ eingestuft werden muss. Die Praxis der vergangenen Jahre zeigt mir jedoch immer wieder:  Wenn die Überzeugung durch eine Verbesserung des Hilfsmittels erreicht wird, ist die Akzeptanz des Hilfsmittels keine Frage mehr. Kinder denken hier „geradeaus“ und werden vor allem dann das Hilfsmittel immer wieder einfordern, wenn sie hierdurch mehr motorische Leis­tungsfähigkeit erreichen. Dann ist die „orthetische Höhe“ keine Frage mehr, sondern sie wird aufgrund der suffizienten Belastungsfähigkeit in aller Regel problemlos akzeptiert. Wenn es dann noch gelingt, die jugendlichen Patienten mit Konfektionsschuhwerk auszustatten, obwohl sie Orthesenträger sind, dann ist das Behandlungskonzept rund und schlüssig und von hoher Akzeptanz.

Eine Untersuchung in unserem Ganglabor konnte bei den 3D-Ganganalysen feststellen, dass bei einseitiger Betroffenheit (unilaterale Cerebralparese) Gangbildverbesserungen in mehr als 80 Prozent der Fälle dokumentiert werden konnten. Bei doppelseitiger Betroffenheit (bilaterale Cerebralparese) wurden Gangbildverbesserungen bei zirka 70 Pro­zent der Patienten beobachtet.

Anschrift für die Verfasser:

Dr. Ulrich Hafkemeyer Christophorus-Kliniken Abteilung für Technische Orthopädie und pädiatrische Neuroorthopädie SPZ Westmünsterland, Südring 41, 48653 Coesfeld

Artikel aus OST-Ausgabe 05 / 2017

 

Foto: Andrey Popov/AdobeStock_495062320
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