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6. Juni 2017
Redaktion

Die Funktionen der plantaren Afferenzen und der myofaszialen Kette Bein

An der Sicherung und der Qualität der posturalen Regulationen (der Balance beziehungsweise des Gleichgewichts) für das Stehen und Gehen sind die Informationen sehr vieler Sensoren der Oberflächen- und Tiefensensibilität beteiligt. Ebenso beteiligt sind sie an der Organisation und der korrekten Dynamik der Bewegungskoordination.


Foto: gradt/fotolia

Die wesent­­lichen Sensorstandorte sind die Halswirbelsäule, der lumbosakrale Bereich und die plantare Haut, gemeinsam mit den Sensoren der myofaszialen Kette der unteren Extremität. Daraus leitet sich bereits ab, dass die Körperhaltung und der strukturelle und funktionelle Zustand der myofaszialen Strukturen dieser Kör­perregionen die Funktionsfähigkeit und die Qualität der statischen und dynamischen Balancekontrolle wesentlich bestimmen. Indirekt gilt dies auch für die Belastbarkeit.

Zwingend notwendig sind zugleich die Informationen des vestibulären Sys­tems. Dessen neurale Verarbeitungs­stationen im Hirnstamm haben eine zentrale Funktion. Die Informationen der Oberflächen- und Tiefensensibilität, aber auch die Informationen des optischen Systems, konvergieren auf diesen Verarbeitungsstationen. Alle Informationszuflüsse werden aufgaben- und situationsabhhängig für die Stütz- und Zielmotorik zentral integriert. Im Ergebnis entsteht die angepasste Ansteuerung für alle muskulären Reaktionen der Balance. Die volle Aufklärung dieses höchst komplexen integrativen Prozesses bedarf noch intensiver Forschungsarbeit.

Das propriorezeptive, das vestibuläre und das visuelle System sind somit im Sinne einer multisensorischen Konvergenz engstens miteinander verzahnt und integriert. Die integrierte Verarbeitung liefert den sogenannten Lage-, Posi­tions- und Bewegungssinn. Darauf aufbauend werden gerichtete Reaktionen im Schwerefeld, die Orientierung im Raum und die reflektorische Kontrolle der Kopf-, Körper- und Augenstellung generiert. Die Fähigkeit des sicheren Stehens und Gehens als Haltung und Bewegung der freien Verfügbarkeit basiert essenziell auf der Integration dieser Informationssysteme.

Aus den vestibulären Informationen generiert das Zentrale Nervensystem (ZNS) einen Referenzrahmen, in den die propriozeptiven und optischen Afferenzen bedarfsabhängig und variabel integriert werden. Grundlage ist die hoch kom­plexe Konvergenz der sensorischen Informa­tionssysteme auf verschiedenen Ebenen des ZNS. Eine Hauptzentrale sind die Vestibulariskerne (Gdowski und McCrea 2000). Auch auf kortikaler Ebene (Bottini et al. 2001) sind diese Prozesse nachweisbar.

Eine Störung propriozeptiver Afferenzen aus der unteren Extremität, zum Beispiel auf einer Vibrationsplattform, sorgt für eine verminderte posturale Antwort. Gleiches ist auch infolge der strukturellen und funktionellen Veränderungen durch den Alterungsprozess gut nachweisbar und führt zur altersbedingten Sturzgefährdung. Die Einflussfaktoren auf die Gangsensomotorik und auf die Wirksamkeit von Einlagen sind sehr komplex (Laube et al. 2017) und benötigen eine Ganzkörperbetrachtung über die gesamte pedo-craniale beziehungsweise cranio-pedale Funktionskette. Einlagenversorgung ist somit eine interdisziplinäre Aufgabe.

Die Funktionen der Sensor­informationen der Fußsohle und der myofaszialen Kette Bein

Die afferenten Informationen der Fußsohlenhaut verantworten wesentliche und sehr vielfältige Funktionen. Dies sind zum einen Funktionen der Stützsensomotorik, zum anderen betreffen diese Funktionen die Generierung und die phasenabhängige Koordination der Gang­motorik auf den unbewussten Ebenen.{pborder}

Die primäre Aufgabe der Sensorik der Fußsohlenhaut ist das Feedback für die Kontrolle des aufrechten Stehens und Gehens. Die Informationen sind ein essenzielles Element für die muskulären Reaktionen und Regulationen zur Sicherung der Balance und, direkt damit verbunden, für die räumliche Repräsenta­tion der Körperhaltung (Roll et al. 2002).

In der Praxis findet diese physiologische Tatsache ihren pathophysiologischen Ausdruck bei Patienten mit einer Poly­neuropathie. Bei ihnen sind die Qualität und die Quantität der Afferenzen und das Erreichen der zentralen Verarbeitungsstrukturen stark verändert, eingeschränkt und verzögert. Das subjektive Gefühl der Patienten, „wie auf Watte“ zu gehen, und die motorische Gang­unsicherheit sind das Ergebnis und klinisch sehr gut bekannt. Eine sehr häufige Ursache ist der Diabetes mellitus, bei dem zugleich die myofaszialen Ketten ausgeprägt dekonditioniert und die Mikro­zirkulation gestört sind. Der erhöhte Zuckerspiegel führt sowohl direkt als auch indirekt über die Gefäßschäden zu Strukturzerstörungen der Nervenbahnen. Solange noch keine völlige Zerstörung vorliegt, können intensivere Reizsetzungen durch Einlagen den Afferenzstrom noch verstärken und somit je nach Krankheitsstadium die Informationsbasis von Haltung und Bewegung bessern. Bei gesunden Personen haben die Afferenzen der Fußsohlenhaut wichtige, nicht ersetzbare richtungs- und bewegungsphasenabhängige Funktionen für die Generierung kompensatorischer, ausgleichender Schritte in Situationen, in denen das Gleichgewicht gestört ist. Sie liefern Informationen

  1. zu den nach hinten gerichteten (pos­terioren) Stabilitätslimits während der Einleitung eines Rückwärtsschritts,
  2. zur Kontrolle des Fersenkontakts und der folgenden Gewichtsverlagerung während der Beendigung eines Vorwärtsschritts und
  3. zur Erhaltung der Stabilität während einer verlängerten Schwungphase bei seitwärts ausgeführten Überkreuzschritten (Perry et al. 2000).

Es muss hervorgehoben werden, dass die plantaren Afferenzen gleichzeitig reflektorisch die muskulären Aktivitäten des gesamten Körpers verknüpfen. Durch ihre Verschaltung mit den Motoneuronenpools generieren sie eine automatische, dynamische Modulation der Mus­kel­aktivitäten sowohl der unteren (Fallon et al. 2005) als auch der oberen Extremitäten (Bent und Lowrey 2013). Sie verantworten also im Bedarfsfall auch die reflektorische Einleitung von Arm­bewegungen, die das Gleichgewicht stabili­sieren oder wiederherstellen. Die so­matosensorischen Informationen der un­te­ren Extremität triggern die zentral organisierten posturalen Synergien des gesamten Körpers. Sie fungieren hierbei direkt als sensorischer Feedback wie  auch als „vorausgegangene Erfahrung“. Als eine solche haben die somatosensorischen Informationen der unteren Extremität einen antizipatorischen Wert, wenn es darum geht, die Antwortamplitude automatischer posturaler Reaktionen bei Gleichgewichtsstörungen zu bemessen (Inglis et al. 1994).

Die plantaren Afferenzen bestimmen auf der unwillkürlichen Ebene signifikant und prägnant die Zielsensomotorik des Gehens, indem sie die phasenabhängige Dynamik der Muskeln des Sprung-, Knie- und Hüftgelenks generieren (Eils et al. 2004).

Erstmalig haben Fallon et al. (2005) am Menschen nachgewiesen, dass geringschwellige Mechanorezeptoren der Fußsohle reflektorisch über spinale und  transkortikale Wege mit den Muskeln des Sprunggelenks (M tibialis anterior, M. gastrocnemius medialis und lateralis, und M. soleus) verknüpft sind. Dies gilt sowohl für Mechanorezeptoren des langsam als auch des schnell adaptierenden Typs (Laube et al. 2017).

Im Gegensatz zu den Verhältnissen an der Hand konnte zusätzlich gezeigt werden, dass alle plantaren Rezeptoren eine solche Verknüpfung haben. Somit sind   alle plantaren Afferenzen an der Generierung des Gehens wie auch der Balance beteiligt.

Die Afferenzen der Mechanosensoren der Fußsohle sind auch an der auf den ganzen Körper bezogenen Bewegungsempfindung beteiligt. Die Stimulation dieser Afferenzen provoziert die Empfindung einer Körperschräglage, somit beteiligen sich die Afferenzen auch an der räumlichen Repräsentation der Körperhaltung (Roll et al. 2002).

Alle diese Wirkungen der plantaren Afferenzen machen verständlich, dass verletzungs-, degenerations- und altersbedingte Veränderungen die Gangsensomotorik direkt und bleibend beeinflussen. Es wird aber auch deutlich, dass eine verstärkte Aktivierung noch vorhandener Sensoren eine Wirkung auf Haltung, Balance und Gehen haben, insbesondere, wenn verschiedene plantare Regionen unterschiedlich aktiviert werden.

Die Interaktion der plantaren Afferenzen mit den anderen Sensorsystemen

Die plantaren Afferenzen konvergieren mit den vestibulären Afferenzen und modulieren die Reflexaktivitäten, zum Beispiel des M. soleus, mit mittellanger Latenzzeit (70–120ms). Infolge der Re­duzierung der plantaren Afferenzen sind die vestibulären Reflexe mit mittlerer Latenz um 35 Prozent erhöht (Muise et al. 2012). Das bedeutet, dass sich bei Ausschaltung oder Reduzierung der plantaren Afferenzen die Interaktionen zwischen den Informa­tionsquellen in den verarbeitenden Nervenstrukturen verändern. Natürlich sind dann auch die Verarbeitungsergebnisse (die motorischen Efferenzen) verändert, indem zum Beispiel die vestibulären Reflexe mit mittlerem Zeitbedarf einen intensiveren Einfluss bekommen. Eine hoch komplexe Integration bedeutet eben auch – zumindest zunächst – gute Kompensationsmöglichkeiten. Ihr Auftreten und ihre ändernden Auswirkungen sind klinisch nicht zwingend sofort zu erkennen. Es liegen Störungen beziehungsweise Veränderungen vor, doch das klinische Bild zeigt es nicht, noch nicht oder nur dem sehr erfahrenen, interdisziplinär denkenden Untersucher. Allenfalls Schmerz fällt deut­licher auf.

Somit ist auch das Gleichgewichtsverhalten bei Patienten mit Zuständen nach Verletzungen der Gelenke der unteren Extremität (siehe unter anderem funktionelle Teilparesen der Muskulatur; Laube et al. 1998 a/b, Laube 2009) und bei Patienten mit degenerativen Erkrankungen nachteilig beeinflusst. Auch der Alterungsprozess führt zu solchen Veränderungen des Gleichgewichtsverhaltens, unter anderem durch den Verlust von Sensoren für schnelle, mechanische Veränderungen und die zentrale Verarbeitungskapazität.

Eine artifizielle Intensivierung der plantaren Afferenzen mittels Einlagen kann helfen, die Informationsbasis für die Balance wie auch für die Stimulation der Bewegungsgenerierung zu verbessern.

Abhängig von der Bewegungsphase des Gehens, liefern die plantaren Afferenzen zusammen mit den visuellen Informationen, die der Gehende über die eigene Bewegung und die Bewegung der umgebenden Objekte erhält, einen Beitrag zur Kontrolle des Centers der Körpermasse (Perry et al. 2001). Der Funk­tionszustand des optischen Systems ist somit ein wichtiger diagnostischer und bei Bedarf auch therapeutischer Faktor für ein sicheres oder altersabhängig ausreichendes Gleichgewichtsverhalten, das die Sturzgefährdung reduziert.

Kutane Rezeptoren von Fuß und Unterschenkel kodieren auch die Raumorientierung

Die Bewegungsempfindung und die Raumorientierung einer Gelenkbewegung basiert sowohl auf den Afferenzen der Mechanosensoren der Haut als auch auf den Sensoren der gelenkbewegenden Muskulatur (Propriorezeption). Dies ergibt sich schon grundsätzlich aus der generalisierten Aktivierung (population coding) aller Sensoren des Körperbereichs, der bewegt wird.

Aus der Sicht der Propriorezeption resultiert die Wahrnehmung einer Gelenkbewegung und deren Geschwindigkeit aus der Verarbeitung der Muskelspindelafferenzen aller Muskeln, die an der Gelenkbewegung aktiv und passiv beteiligt sind. Jeder Muskel liefert mit seinen propriorezeptiven Informationen einen unmittelbar orientierenden und gewichteten Beitrag bei der Kodierung der Gelenkkinematik (Ribot-Ciscar und Roll 1998, Ribot-Ciscar et al. 2002).

Aber die kutane Sensorik ist gleichfalls an der Bewegungsempfindung, zum Beispiel des Sprunggelenks, beteiligt (Aimonetti et al. 2007). Die Informationen aus beiden grundsätzlichen Informa­­­­ti-onsquellen haben jeweils eine „eigenständige Funktion“ bei der Kodierung. Aber durch eine gleichzeitige, sich gegenseitig ergänzende und dadurch erweiternde Verarbeitung (co-processing) sind die Afferenzen der Oberflächen- wie der Propriosensoren gemeinsam an der Bewegungsempfindung beteiligt. So ­verstärken dehnungsbedingte Afferenzen der Haut und vibrationsbedingte Afferenzen aus der Muskulatur den Umfang der Bewegungsempfindung der Interphalangealgelenke des Zeigefingers, des Ellenbogen- und des Kniegelenks (Collins et al. 2005). Dieses Ergebnis kann auf alle Gelenke des Körpers übertragen werden.

Die Hautsensoren einer bestimmten Hautfläche um das Sprunggelenk und des äußeren Unterschenkels sind bewegungssensitiv. Damit kann durch die integrative Verrechnung aller ihrer Informationen die Bewegungsrichtung berechnet werden. Diese Oberflächensensoren liefern somit zugleich proprio­rezeptive Informationsinhalte. Hierbei sind die Informationen jedes Sensors eines Hautareals für einen spezifischen Bewegungsbereich der Bewegungsrichtung, also für einen Bewegungssektor, besonders empfindlich. Es zeigte sich gleichzeitig, dass die Hautafferenzen und die Afferenzen der darunterliegenden Muskeln die gleiche spezifische Richtungssensitivität bezogen auf den Sektor und die Bewegungsrichtung aufweisen (Aimonetti et al. 2007). Sie kodieren dieses kinästhetische Merkmal gemeinsam. Eine strikte funktionelle Trennung zwischen Oberflächen- und Tiefensensibilität ist somit nicht mehr als aktuell anzusehen. Beide haben eigenständige Funktionen, aber sie sind Ko-Akteure für die Bewegungserkennung und damit die Bewegungsregulation der Stütz- und Zielsensomotorik.

Was ist die praktische Konsequenz?

Die Sensoren der plantaren Haut, des Unterschenkels und der Muskulatur der Gelenke der unteren Extremität sind für das Gleichgewicht und das Gehen absolut prägend. Für den neurologisch Eingeweihten seien die charakteristischen Veränderungen der spinalen Ataxie genannt, welche die Aussage klinisch belegen. Das bedeutet, gesunde Strukturen und Funktionen des Fußes und der unteren Extremitäten (eigent­lich der gesamten pedo-cranialen myofaszialen Kette) sind für eine sichere und leistungsfähige Gang­sensomotorik essenziell. Mit dieser Aussage kann aber auch eine Brücke geschlagen werden. Eine leistungsfähige Gangsensomotorik garantiert zugleich eine korrekte Mechanik der Gelenkkette und diese bestimmt die Belastbarkeit der beteiligten Gelenke über die Wirbelsäule bis zu den oberen Extremitäten. Im Alter ist sie für die Sturzgefahr bestimmend.

Die funktionellen Auswirkungen von strukturellen Veränderungen des Fußes (durch Normvarianten, Pathologien, Verletzungen, Alterungsprozess) und der aufsteigenden Fuktionskette können durch mechanische Veränderungen der Schnitt­­stelle Fuß – Boden, also durch Einlagen, beeinflusst werden. Diese Beeinflussung besteht aus sensomotorischer Sicht aus einer Modifizierung oder Intensivierung der Sensorinformationen an das ZNS. Kann dadurch das Informationsmuster in Richtung „physiologischer Norm“ verändert werden, können die Balance, das dynamische Gleichgewicht beim Gehen und die Gelenkbelas­tungen positiv modifiziert werden. Damit sind Einlagen nach eingehender Diagnostik auch für Gesunde indiziert, die Sport treiben oder beruflich bedingt sehr hohen Belastungen der Füße ausgesetzt sind.

Da sich Strukturen nur durch Funk­tion erhalten beziehungsweise ihre Struktur adaptiv anpassen, ist die Gangschulung, also das erneute „Gehen­lernen“, eine wichtige Komponente der präventiven und therapeutischen Einlagenversorgung. Das Gehenlernen hat eben auch das Ziel, die integrative Funktion des ZNS – und damit auch die dafür verantwortlichen neuronalen Strukturen für die bedarfsgerechte Nutzung aller Informationsquellen – zu qualifizieren.

Eine Einlagenversorgung muss bei entsprechender Klinik auch eine Dia­gnos­tik des optischen und des vestibulären Systems einschließen.

Anschrift für die Verfasser:

PD Dr. med. sc. (habil) Wolfgang Laube, Kolumbanstr. 4, 6844 Altach

Ausgabe 06 / 2017

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Foto: Andrey Popov/AdobeStock_495062320
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