Die Behandlung von Apoplex-Patienten mit der dynamischen Unterschenkelorthese in Prepreg-Technik nach Hafkemeyer
Dabei handelt es sich um ein individuelles Orthesenkonzept, mit dem die Tonusverhältnisse (Spastik) beeinflusst, die Fußheberparese kompensiert und die motorische Kontrolle während des Schrittzyklus verbessert werden. Diese Unterschenkelorthese ist nicht konfektioniert, hochindividuell anpassbar und ermöglicht verschiedene Vorfuß- und Unterschenkelhebel, Flexions-, Extensions- und Torsionsmöglichkeiten der Carbonfeder und eine Fußfassung von geringem Volumen, dass das Tragen von Konfektionsschuhen in der Regel möglich ist.
Seit mehr als 30 Jahren beschäftige ich mich sowohl physiotherapeutisch als auch medizinisch mit der Behandlung von cerebralparetischen Kindern und Jugendlichen, zu denen auch ein Großteil halbseitengelähmter Kinder zählen, die häufig bereits intrauterin einen Apoplex erlitten haben, der nach der Geburt durch die motorischen Seitendifferenzen auffällig wird. Diese Patienten sind orthopädietechnisch in aller Regel gut versorgbar und mit geeigneten Hilfsmitteln in der Lage, im Alltag mit ihrer Orthese ein hohes Maß an Selbstständigkeit zu erlangen.
Seit meiner Beschäftigung mit der dynamischen Unterschenkelorthese in Prepreg-Technik in Zusammenarbeit mit hervorragenden Orthopädietechnikern rücken wegen der Ähnlichkeit der motorischen Probleme auch Erwachsene mit Halbseitenlähmung nach Schlaganfall immer mehr in meinen Behandlungsfokus, wobei ich als Angehöriger eines SPZ´s nicht berechtigt bin, Patienten jenseits des 18. Lebensjahres regelmäßig zu untersuchen und zu behandeln. Die Betroffenheit dieser Schlaganfallpatienten ist im Straßenbild häufig sehr auffallend, da sie durch das motorische Ungleichgewicht in der Gangqualität und vor allem in der Gangsicherheit beeinträchtigt sind. Diese Auffälligkeiten werden durch viele Faktoren bedingt, die nicht selbst in der Natur des einzelnen Patienten begründet sind. Dennoch gibt es einen großen Teil der Patienten, die unversorgt bleiben, obwohl es geeignete Hilfsmittel gibt, mit denen diesen Patienten geholfen werden kann. Häufig sind auch insuffiziente oder falsche Versorgungen für die dauerhafte Beeinträchtigung des Gangbildes verantwortlich, wobei häufig der Eindruck besteht, dass auch von medizinischer Seite her das Wissen um die korrekte Versorgbarkeit dieser Patienten nicht vorhanden ist.
Kompetenz in Technischer Orthopädie vermitteln
Der Bereich der Technischen Orthopädie wird an den Deutschen Universitätskliniken immer mehr in den Hintergrund gerückt, wie zuletzt eindrucksvoll geschehen an der Uniklinik in Münster, wo der Lehrstuhl für Technische Orthopädie und Rehabilitation, der zunächst von Herrn Prof. Dr. med. G. G. Kuhn, später von Herrn Prof. Dr. med. R. Baumgartner und zuletzt von Herrn Prof. Dr. med. H. H. Wetz geleitet worden war. Dieser Lehrstuhl wurde im Frühjahr 2015 nicht mehr besetzt, sodass der letzte Lehrstuhl für Technische Orthopädie im deutschsprachigen Raum einschließlich Schweiz und Österreich nicht mehr existiert. Durch die „Initiative“ 93 unter der Leitung von Herrn Prof. Dr. med. B. Greitemann werden verschiedene, zertifizierte Fortbildungsmodule angeboten, die dem Interessierten Einblicke in die Technische Orthopädie geben. Auch im Studium wird der Bereich der Technischen Orthopädie lediglich genannt, eine Vertiefung der technischen Versorgungsmöglichkeiten findet jedoch nicht statt. Dieser Umstand wird auch langfristig dazu führen, dass das Wissen um die orthopädietechnische Versorgbarkeit dieser Patienten noch weiter abnehmen wird. Daher ist es seit vielen Jahren meine Aufgabe, auf zahlreichen Veranstaltungen, Vorträgen und Veröffentlichungen darauf hinzuweisen, das die Komplexität neuroorthopädischer Erkrankungen immer weiter zunimmt, der Wunsch nach Mobilität dieser Patienten ebenfalls stets größer wird, das Wissen um die Möglichkeiten orthopädietechnischer Versorgungen jedoch abnimmt. Damit geht die Schere zwischen dem Wissen einerseits und den Versorgungsmöglichkeiten andererseits immer weiter auseinander. Auch dieser Artikel soll dazu beitragen, diese Schere weiter zu schließen, damit auch langfristig die Prognose für eine bessere Mobilität von Patienten mit Schlaganfall verbessert wird.
Teilkonfektionierte Orthesen nutzen nicht das volle Potenzial
Bei der dynamischen Unterschenkelorthese in Prepreg-Technik handelt es sich um eine Unterschenkelorthese, die individuell nach Gipsabdruck angefertigt wird, über eine vollkontaktige Fußfassung verfügt, die den Fuß in maximaler anatomischer Korrektur von OSG, USG, Rückfuß und Längswölbung einstellt und über eine dorsal geführte Carbonfeder mit einer tibialen Kondylenumgreifung für einen langen Korrekturhebel sorgt, der auch unter Belastung das Korrekturergebnis sichert (Hafkemeyer, 2017).
Am Markt werden zahlreiche teilkonfektionierte und konfektionierte Orthesenmodelle angeboten, die jedoch allesamt nicht über eine individuelle vollkontaktige Fußfassung verfügen und oftmals den individuellen anatomischen Korrekturhebel des jeweiligen Patienten nicht ausreichend individuell nutzen (Abbildung 1). Der individuelle Korrekturhebel entspricht der anatomischen Unterschenkellänge des Patienten und muss so gestaltet werden, dass eine Knieflexion von ca. 110° – 120° möglich ist, ohne die Wadenweichteile einzuengen. Der Korrekturhebel am Unterschenkel ist hauptverantwortlich für die Suffizienz des Korrekturergebnisses und die Dynamik der Carbonfeder entscheidend für das Abrollverhalten des jeweiligen Patienten (Körpergröße, Körpergewicht, Kniewinkel während des Schrittzyklus, Vorfußhebel, etc.). Diese von Patient zu Patient unterschiedlichen Parameter werden in der dynamischen Unterschenkelorthese in Prepreg-Technik berücksichtigt, sodass eine suffiziente Gangbildverbesserung, eine deutliche Verbesserung der Gangqualität und eine Erweiterung des Aktionsradius für den Patienten resultieren (Hafkemeyer, 2010).
Die Fußheberparese wird ausgeglichen, das retrograde Belastungsbild mit primärem Vorfußkontakt wird korrigiert und umgekehrt in ein anterogrades physiologisches Gangbild, wie es in zahlreichen Untersuchungen und in unserem Ganglabor im SPZ Westmünsterland bewiesen werden konnte (s. Fallbeispiel auf Seite 22). Die Umkehr des initialen pathologischen Vorfußkontaktes in einen initialen physiologischen Fersenkontakt bedeutet eine Normalisierung des Belastungsbildes und ist die entscheidende Größe für die qualitative Verbesserung des Gangbildes, die wiederum erheblichen Einfluss auf die Gangsicherheit ausübt, sodass Patienten mit korrekter Versorgung ein erhebliches Benefit in ihrem Alltag in Bezug auf die selbstständige Mobilität schildern.
Fuß muss korrigierbar sein
Voraussetzung für eine erfolgreiche Versorgung ist die Korrigierbarkeit des spastischen oder schlaff gelähmten Fußes, sodass die Basis, auf der der apoplektische Patient seinen Körperschwerpunkt ausbalancieren muss, anatomisch korrekt einstellbar ist. Bei einem Spitzfuß von bis zu 25° ist eine Modifikation der Rückfußeinstellung im Sinne einer Fersensprengung obligat erforderlich, um die Ferse lotrecht in der Orthese positionieren zu können. Dabei wird der Rückfuß gegenüber dem Vorfuß angehoben und in ein unterschiedliches Niveau gebracht, was zu unterscheiden ist von der Positionierung im Spitzfuß, da beim Spitzfuß der Rückfuß in einer plantigraden Einstellung des OSG eingestellt wird. Dieses ist unbedingt zu vermeiden, weshalb der Vorfuß abgesenkt, die Ferse wie auf einem Absatz angehoben wird, ohne dabei im oberen Sprunggelenk eine Plantarflektion zuzulassen (Hafkemeyer, 2014).
Bei Fersensprengung muss die Gegenseite mit einer Ausgleichseinlage versorgt werden, um gegebenenfalls Beinlängendifferenzen auszugleichen. In jedem Fall benötigt der Patient mit Halbseitenlähmung auf der contralateralen Seite eine Ausgleichseinlage, die handwerklich gefertigt, langsohlig und je nach Befund über suffiziente dämpfende Materialien verfügen muss, um die Überlastung des nicht betroffenen Beines zu mindern und ggfs. Folgeschäden der schon eingetretenen Überlastung zu korrigieren. Hier kommt der Orthopädieschuhtechnik eine besondere Rolle zu, da auch weitere Schuhzurichtungen (Abrollsohle, Pufferabsatz, Richtungsrollen etc.) notwendig werden können, im Sinne eines Feintuning die Unterschenkelorthese in ihrer Wirksamkeit zu optimieren.
Orthese wirkt über individuelle Anpassung
Im Alltag sehe ich immer wieder Patienten, die insuffizient versorgt wurden, zum Beispiel mit einfachen Peronaeusschienen, die weder für eine ausreichende Korrektur noch für eine suffiziente Stabilität sorgen, sodass die Patienten „dem Hilfsmittel eine Form verleihen“. Andere Orthesen „konservieren“ den pathologischen Befund und sind nicht in der Lage, die mögliche Korrektur zu nutzen, um eine funktionelle Verbesserung im Gangbild zu erzielen. Die maximale mögliche Fußkorrektur und die vollkontaktige Fußfassung sind obligate Voraussetzungen für den Erfolg einer orthetischen Versorgung, da so die spastischen Kräfte korrekt und ausreichend beantwortet werden, was mit einer alleinigen plantaren Führung nicht gelingt.
Die Bodenreaktionskräfte, die nur über die Fußsohle wirken, reichen je nach Tonusverhältnissen und Tonusqualität bei den konfektionierten Orthesen nicht aus, die medizinisch notwendige Korrektur bzw. leichte Überkorrektur zur gewünschten Tonusregulation und Tonuskontrolle sicherzustellen. Die Abweichung des Fußes bei erhöhtem Muskeltonus in eine Supinations-Spitzfußstellung und die dadurch medizinisch notwendige leichte Überkorrektur in der Orthese stellt die größte Herausforderung dar.
Der Konfektionsschuh mit der industriell gefertigten Orthese „versteckt“ häufig über einen längeren Zeitraum die Fehlstellung, die dann, wenn sie „entdeckt“ bzw. erkannt wird, bereits teilweise kontrakt ist. Die geforderte, angestrebte Tonusregulation kann in diesen Fällen nur noch schwer erreicht werden, da die häufig notwendige diskrete Überkorrektur zur Dehnung der spastischen verkürzten Muskulatur nicht mehr umgesetzt werden kann. Dann können nicht selten operative Interventionen notwendig werden.
Fußfassung wirkt auch sensorisch
Die vollkontaktige Fußfassung muss ebenfalls individuell auf die einwirkenden Kräfte (Muskeltonus), abgestimmt werden und wirkt so auch sensorisch, da der Fuß großflächig gefasst wird. Auch dies beeinflusst den Muskelspannungszustand. Das bedeutet, dass bei moderaten Tonusverhältnissen zum Beispiel eine Streifyflexfassung ausreichend sein kann, jedoch bei hohem Muskeltonus eine formstabile, korrigierende zum Beispiel Copolymer- oder Polypropylen-Fußfassung notwendig wird. Ebenfalls können auch andere Kombinationen unterschiedlicher Materialien verwendet werden (Abbildung 2).
Diese vollkontaktige, tonusregulierende und zugleich sensorisch wirkende Fußfassung gelingt am besten ohne Druckzonen, wenn die plantare Korrektur und somit die Ausmodellierung der lateralen Fußgewölbe und Strukturen zur effektiven Einleitung der Bodenreaktionskräfte konsequent umgesetzt wird und der Fuß sowie auch das untere Sprunggelenk vorfußpronierend und wenn möglich auch leicht rückfußvalgisierend eingestellt werden kann (Kapandji, 2009). Eine vollkontaktige Fußfassung ohne die Ausmodellierung der plantaren Strukturen, zur Einleitung der Bodenreaktionskräfte, wird zu erhöhten Druckbelastungen lateral führen.
Bei kontrakten Fußfehlstellungen kann über eine vollkontaktige Fußfassung, ein lateraler Orthesenbodenausbau, ein lateraler Schuhbodenausbau und über eine anschließende hülsenförmige, bis zum Außenknöchel reichende Unterschenkelfassung eine Verbesserung des Gangbildes erreicht werden.
In Einzelfällen versorgen wir die Patienten auch mit einer plantaren Fußfassung, die medial und lateral den Fuß stützt und korrigiert, der passgerechte Schuh jedoch dann für den notwendigen Vollkontakt sorgen muss (Abbildung 3). Dabei ist es verpflichtend notwendig, dass der Schuh fest am Fuß angelegt wird, damit Fuß, Schuh und Orthese zu einer funktionellen Einheit zusammengeführt werden. Bei nicht fest angelegtem Schuhwerk, bei falschem Orthesenvolumen, bei fehlender Passgenauigkeit und auch bei insuffizienter Materialauswahl ist die notwendige funktionelle Einheit nicht zu erzielen, die jedoch für den Erfolg der Versorgung unabdingbar ist.
Tragen in Konfektionsschuhen möglich
Befürworter der konfektionierten Peronaeusschienen betonen bei der Handhabung den „Vorteil“, dass diese konfektionierten Orthesen in jedem passgerechten Schuh genutzt werden können, ohne dass eine größere Schuhgröße gewählt werden muss, um die Orthese im Schuh unterzubringen. Der Hauptgrund hierfür ist das Fehlen einer individuellen, vollkontaktigen Fußfassung, die jedoch je nach Schwere der Spastik unbedingt erforderlich ist, um ein zufriedenstellendes Behandlungs- und Mobilisationsergebnis zu erreichen. Je nach spastischer Muskeltonusstärke kann die Fußfassung reduziert und die Carbonfeder je nach Spastik, Gewicht und Dynamik des Patienten gestaltet werden. Wie bereits oben beschrieben, muss mit Hilfe des Schuhes eine feste Verbindung zwischen Orthese, Fuß und Schuh hergestellt werden. Die verschiedenen Modifikationen der Fußfassungen an der dynamischen Unterschenkelorthese in Prepregtechnik können befundbedingt so modifiziert und reduziert werden, dass auch ein brandsohlenadapierter Fußhebel, der im Schuh, zum Beispiel unter einer Einlage positioniert wird, ausreichend ist. Dieser Fußhebel entspricht der Länge der Brandsohle und ist an die Form des Schuhs angepasst. Er sollte jedoch die Möglichkeit bieten, verschiedene Schuhmodelle des Patienten nutzen zu können. Die Länge und Rigidität des Vorfußhebels, die tonusabhängige Federkonstruktion und die Torsions-(Rotations-)möglichkeiten der Carbonfeder sind individuell auf den Befund des Patienten einzustellen, was bei den konfektionierten Orthesen nicht oder nur in engen Grenzen möglich ist. Die individuelle Adaptation des Hilfsmittels an den jeweiligen Befund, aber die feste Verbindung zwischen Fuß und Schuh sind die entscheidenden Faktoren für den Erfolg und die Wirksamkeit der Versorgung.
Durch die Orthese kommt es zu einer Harmonisierung der Bewegung auf der kontralateralen Seite. Kniebeugung und Dämpfung werden physiologischer.
Mit Orthese verbessert sich die Symmetrie der Bewegung im Becken.
Bei schlaffen Lähmungen kann oftmals auf eine vollkontaktige Fußfassung verzichtet und lediglich eine plantare Fußbettung in Verbindung mit der dynamischen Unterschenkelorthese ausreichend sein (Hafkemeyer, 2015).
Wie die bisherigen klinischen Erfahrungen und die Untersuchungen in unserem Ganglabor gezeigt haben, sind die besten Funktions- und Mobilisationsergebnisse dann zu erzielen, wenn mit Hilfe der vollkontaktigen Fußfassung in anatomischer Korrektur vom oberen und unteren Sprunggelenk, Längsgewölbe und Rückfuß die Statik des Fußes korrigiert und stabilisiert ist und unter Belastung während des Schrittzyklus diese anatomische Form gesichert wird. Damit wird in den allermeisten Fällen das pathologische primäre Vorfußbelastungsmuster (retrogrades Gangbild) in ein physiologisches primär fersenbelastetes Gangbild überführt (anterogrades Gangbild).
Durch die suffiziente Führung des Fußes und durch die ausreichend starke Carbonfeder wird die pathologische Tonussteigerung (Spastik) suffizient gebahnt, um das pathologische Spitzfußmuster zu vermeiden und so funktionell eine erhebliche Verbesserung im Gangbild zu erzielen.
Die hier beschriebene dynamische Unterschenkelorthese in Prepreg-Technik ist bei korrekter Anfertigung in ihrem Materialvolumen so schlank konzipiert, dass es in der Regel kein Problem ist, Konfektionssschuhe in Verbindung mit der Orthese zu nutzen und auf spezielles Orthesenschuhwerk verzichten zu können.
Die Schuhe sollten über einen weiten Einstieg und über eine breite, scharfrandig begrenzte, gerade Sohle verfügen, eine feste Hinterkappe aufweisen und schnürbar oder mit Klettverschlüssen ausgestattet sein. Individuelle Schuhzurichtungen können in Einzelfällen notwendig werden, das Gangbild zu optimieren.
Anschrift für die Verfasser:
Dr. med. U. Hafkemeyer
Facharzt für Orthopädie / Kinderorthopädie
Physio- und Bobaththerapeut, SPZ Westmünsterland
Christophorus-Kliniken GmbH
St.-Vincenz-Hospital
Südring 41, 48653 Coesfeld
Artikel aus OST-Ausgabe 02 / 2018