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8. Februar 2017
Redaktion

Altersunterschiede beim Gehen unter Einfach- und Mehrfachtätigkeit

Altersunterschiede beim Gehen unter Einfach- und Mehrfachtätigkeit VON GRANACHER U1,2, MÜHLBAUER T1, BRIDENBAUGH S3, WEHRLE A3, KRESSIG RW3


Zusammenfassung
Das Alter ist geprägt durch kognitive und somatosensorische Funktionseinbußen, die zu Veränderungen im Gangbild führen. Daher war es das Ziel der Studie, die Auswirkungen kognitiver und motorischer Zusatzaufgaben auf die Gehgeschwindigkeit
junger und älterer Menschen zu untersuchen.

An der Studie nahmen 36 gesunde junge (n = 18, Alter 22,3 ± 3,0 Jahre, BMI 21,0 ± 1,6 kg/m²) und ältere Probanden (Pbn) (n = 18, Alter 73,5 ± 5,5 Jahre, BMI 24,2 ± 1,6 kg/m²) teil. Zur Bestimmung der kognitiven Leistung wurden der „Mini-Mental-State“ und der „Clock- Drawing-Test“ herangezogen. Die Gehgeschwindigkeit wurde mit Hilfe eines drucksensitiven Gangteppichs (GAITRite System®) unter Einfach- (Gehen), Doppel- (Gehen + kognitive Interferenz [KI] oder motorische Interferenz [MI]) und Dreifachtätigkeitsbedingung (Gehen + KI + MI) erfasst. Unabhängig von der Testbedingung gingen die älteren gegenüber den jüngeren Pbn langsamer (p < .001, in allen Bedingungen). Mit zunehmender Aufgabenkomplexität reduzierte sich die Gehgeschwindigkeit in beiden Altersgruppen (p ≤ .002, in beiden Gruppen). Die größere Reduktion der Gehgeschwindigkeit unter Mehrfachbedingungen älterer im Vergleich zu jüngeren Pbn deutet darauf hin, dass die Regulation des Ganges im Alter weniger automatisiert ist, das heißt mehr Aufmerksamkeitsressourcen benötigt. Aufgrund der alltagsnahen Bedeutsamkeit von Mehrfachtätigkeiten während des Gehens, wird zur Überprüfung der funktionellen Mobilität, die Ermittlung der Gehgeschwindigkeit unter Einbezug von Zusatzaufgaben empfohlen.

Problem- und Zielstellung

Der immer größer werdende Anteil älterer Menschen in unserer Gesellschaft führt zwangsläufig zu einer Zunahme ­altersspezifischer Erkrankungen und Verletzungen. Für diesen Sachverhalt ist das zunehmende Auftreten von Stürzen im Alltag beispielhaft (40).

Stürze sind häufige und folgenschwere Ereignisse für den älteren Menschen. Gesunde und selbstständig lebende Menschen im Alter von 65 Jahren und älter erleiden zwischen 0,3 und 1,6 Stürze pro Person und Jahr (im Mittel 0,6 Stürze). Bei Menschen, die in Pflegeheimen wohnen, ist die Sturzgefahr mit 0,6 bis 3,6 Stürzen pro Bett und Jahr erheblich höher (im Mittel 1,7 Stürze) (40).

Fünf Prozent aller Stürze führen bei selbstständig lebenden älteren Menschen zu Frakturen, wobei Oberschenkelhalsfrakturen mit einer Häufigkeit von 1 bis 2 Prozent auftreten (23). Bei Pflegeheimbewohner steigt der prozentuale Anteil der durch Stürze verursachten Frakturen auf 10 bis 25 Prozent an (40). Die durch Stürze verursachten Kosten im Gesundheitssystem sind immens. In den USA beliefen sich die Behandlungskosten für das Jahr 2000 auf 19,2 Milliarden US Dollar (43). Für Deutschland werden die direkten Kosten (überwiegend Kosten zur stationären und unmittelbar post-stationären Versorgung von hüftgelenksnahen Frakturen) auf etwa 2,5 Milliarden Euro eingeschätzt (44). Neben den finanziellen Belastungen für das Gesundheitswesen bedeuten Stürze für die betroffenen Individuen eine Einschränkung der Lebensqualität aufgrund reduzierter Mobilität und verschlechter-ter körperlicher Funktionen.

Unterschiedliche epidemiologische Studien konnten eine Vielzahl von Faktoren ermitteln, die für das erhöhte Sturzrisiko im Alter verantwortlich sind (28). Defizite in der posturalen Kontrolle (11) und ein verändertes Gangbild (17) erhöhen nachweislich die Sturzgefahr im Alter. In diesem Zusammenhang konnten Guimaraes und Isaacs (17) bei hospitalisierten und gestürzten älteren Menschen im Vergleich zu Personen ohne Sturzvergangenheit reduzierte Gehgeschwindigkeiten, kürzere Schrittlängen und eine größere Variabilität der Schrittlänge feststellen.

Das Gehen ist eine hoch automatisierte Bewegung und wird beim jungen und gesunden Menschen weitestgehend im Unterbewusstsein über subkortikale Hirnregionen und das Rückenmark reguliert. Daher werden während des Gehens lediglich minimale Aufmerksamkeitsre­ssourcen beansprucht (19). Mit zunehmendem Alter setzen jedoch somatosensorische Defizite ein (15, 16, 41), die bei Betagten vermehrt Aufmerksamkeitsre­ssourcen während des Gehens binden. Werden nun während des Gehens zeitgleich Aufmerksamkeit benötigende ­kognitive und/oder motorische Tätigkeiten ausgeübt, können Interferenzen zwischen diesen konkurrierenden und auf gleiche Hirnareale zurückgreifende Aufgaben auftreten, was zu einer Überlastung („central overload“) der prozessierenden Strukturen führt (36). Zur Untersuchung dieses Phänomens wird das sogenannte Doppeltätigkeitsparadigma oder „Dual-Task Paradigma“ verwendet.

Das „Dual-Task Paradigma“ wurde vor zwölf Jahren erstmals von einer schwedischen Physiotherapeutin im Rahmen der Bestimmung des Sturzrisikos älterer Menschen beschrieben. Diese Arbeitsgruppe (29) konnte nachweisen, dass ­Senioren, die nicht gleichzeitig gehen und sprechen können, verstärkt sturzgefähr-det sind („stop walking when talking“). Weiterführenden Studien ist zu entnehmen, dass das Gehvermögen unter „Dual-Task“-Bedingungen einerseits vom Funktionsgrad der zerebralen Exekutivfunktion und andererseits vom Schwierigkeitsgrad der gestellten Zusatzaufgabe abhängig ist (7). Unter dem Begriff ­Exekutivfunktion werden hierbei diejenigen kognitiven Fähigkeiten zusammengefasst, die für Planung, Kontrolle, Ausführung und Abfolge komplexer und zielgerichteter Handlungen erforderlich sind (38). Aus der InCHIANTI-Studie geht eine eindrückliche Assoziation zwischen einer eingeschränkten Exekutivfunktion und einer Gehverlangsamung unter „Dual-Task“-Bedingungen hervor, die sich bei Probanden (Pbn) mit einer normalen Exekutivfunktion nicht feststellen ließ (7).

Daher bestand das Ziel der vorliegenden Studie in der Überprüfung der Auswirkung kognitiver und motorischer Zusatzaufgaben auf die Gehgeschwindigkeit junger und älterer Menschen. Es wurde angenommen, dass sich die Gehgeschwindigkeit beider Experimentalgruppen bei gleichzeitiger Ausführung einer kognitiven und/oder motorischen Interferenzaufgabe reduziert, wobei die Verminderung der Gehgeschwindigkeit bei den älteren Pbn aufgrund altersbedingter kognitiver und somatosensorischer Funktionseinbußen stärker ausgeprägt sein müsste.{pborder}

Methodik Probanden

An der Studie nahmen 36 gesunde junge (n = 18, 14 Frauen, 4 Männer) und ältere (n = 18, 12 Frauen, 6 Männer) selbstständig lebende Pbn teil, die ihre schriftliche Einverständniserklärung zur Teilnahme an der Studie gaben (Tab. 1). Die Pbn waren neurologisch, kardiovaskulär und orthopädisch gesund und hatten keine Verletzungen der unteren Extremitäten, die sich auf die Ergebnisse der Studie auswirken könnten. Alle Teilnehmer benutzten für die Fortbewegung keine Gehhilfen und hatten keine Vorerfahrungen mit den Tests der Studie. Die Studie wurde nach den Richtlinien der Deklaration von Helsinki durchgeführt und war von der Ethikkommission der Universität Basel bewilligt.

Apparatur

Zur Bestimmung der abhängigen Variable „Gehgeschwindigkeit“ wurde ein Gangteppich der Firma GaitRite System® (Havertown, USA) verwendet. Über Drucksensoren, die in dem zehn Meter langen Teppich integriert sind, wird die Druckverteilung während des Gehens mit einer Abtastrate von 80 Hz erfasst (Abb. 1). Die Gehgeschwindigkeit (cm/s) wurde über den Quotienten Schrittlänge durch Schrittdauer berechnet. Die Pbn wurden angewiesen, den Test mit ihrer habituellen Gehgeschwindigkeit durchzuführen. Die Testbedingungen (zum Beispiel Raumbeleuchtung, Temperatur, Lautstärke) waren in Übereinstimmung mit den Richtlinien für posturografische Messungen (24).

Frage- und Assessment Bogen

Der „Mini Mental State“ (MMS) ist ein valider Test zur Überprüfung der kognitiven Leistung. Der Test unterscheidet ­Patienten mit kognitiven Störungen von Patienten ohne eine solche Störung. ­Anhand von neun Aufgabenkomplexen werden zentrale kognitive Funktionen überprüft (zeitliche und räumliche Orientierung, Merk- und  Erinnerungsfähigkeit, Aufmerksamkeit, Sprache und Sprachverständnis, außerdem Lesen, Schreiben, Zeichnen und Rechnen). Die Test-retest-Reliabilität ist mit einem r von .89 hoch. Die Kreuzkorrelation mit dem „Wechsler Adult Intelligence Score“ ergab einen Korrelationskoeffizienten von r = .78 (13). In Anlehnung an Folstein et al. (13), trennt ein MMS Ergebnis von weniger als 20 Punkten Patienten mit Demenz oder Psychosen von gesunden Personen.

Die „Falls Efficacy Scale-International (FES-I)“ erfasst die sturzassoziierte Selbstwirksamkeit älterer Menschen anhand von 16 Fragen zur Ausübung von Alltagsaktivitäten. Die FES-I zeigt sowohl eine hohe interne Konsistenz (Cronbachs = .96) als auch eine hohe Test-retest- Reliabilität (r = .96) (8). Darüber hinaus konnte eine akzeptable Konstruktvali-dität der FES-I in verschiedenen Kohorten unterschiedlicher Länder ermittelt werden (r = .79 bis .82) (25). Mit dem so genannten „Clock-Drawing-Test“ (CDT) können Hirnleistungsstörungen (Störungen der Exekutivfunktion) bei Patienten diagnostiziert werden (47). Der CDT verlangt dabei von der untersuchten Person, eine Uhr in einem vorgegebenen Kreis zu zeichnen und diese dann auf eine ganz bestimmte Uhrzeit einzustellen. Die Interrater-Reliabilität des Tests liegt zwischen 75,4 und 99,6 Prozent je nach konsultierter Studie (47). Die Test-retest- Reliabilität kann mit einem r von .90 als hoch bezeichnet werden (30). Die Kreuzkorrelation mit dem MMS ergab einen Korrelationskoeffizienten von r > . 50 (42). Im Ergebnis unterscheidet der Test zwischen pathologischen Patienten und gesunden Personen.

Testablauf

Nach dem Betreten des Testraums erhielten die Pbn schriftliche Instruktionen zum Testablauf. Im Anschluss daran wärmten sich die Pbn über zehn Minuten auf einem Fahrradergometer bei 80 W auf. Die Belastungsintensität wurde während der Aufwärmphase über das subjektive Belastungsempfinden (Borg Skalenbereich: 11 bis 13) kontrolliert. Unmittelbar danach wurde die Ganganalyse über den zehn Meter langen Gangteppich durchgeführt. Die Messung startete jeweils einen Meter vor dem Teppich und endete einen Meter nach dem Teppich, um mögliche Effekte von Beschleunigungs- und Abbremsvorgängen auf die Gehgeschwindigkeit ausschließen zu können.

Die Erfassung der Gehgeschwindigkeit (Einfachbedingung) wurde zusätzlich mit einer motorischen (MI) und/oder kognitiven (KI) Interferenzaufgabe (Zweifach-/Dreifachbedingung) kombiniert. Die motorische Zusatzaufgabe sah das Halten von zwei Stäben vor, deren ringförmige Enden mit einem Durchmesser von vier Zentimetern ineinander verschlungen waren (vgl. Abb. 2). Für die Pbn bestand die Aufgabe darin, ein Berühren der beiden Enden möglichst zu vermeiden. Da ein schwacher Strom durch die Ringe floss, konnte die Güte der Umsetzung ­sowohl über die Anzahl als auch die Dauer der realisierten Kontakte kontrolliert werden (26).

Die zusätzliche kognitive Aufgabe erforderte das Rückwärtszählen um den Wert „3“ beginnend mit einem zufällig ausgewählten Anfangswert aus dem Zahlenbereich von 300 bis 900 (31,36). Bei der Ausführung der Tests unter Zweifach- und Dreifachbedingung lautete die Bewegungsanweisung durch den Untersuchungsleiter, die Aufgaben so gut wie möglich zu absolvieren. Es wurde mit ­Absicht keine Priorität auf das Gehen gelegt, da dies aus funktioneller und alltagsmotorischer Sicht unrealistische und nicht alltagsnahe Be­dingungen erzeugen würde (4). Eine Zusammenfassung der verschiedenen Testbedingungen kann ­Tabelle 2 entnommen werden. Für den gesamten Untersuchungsablauf galt, dass die Reihenfolge der einzelnen Tests zufällig erfolgte.

Statistik

Eine 2 (Gruppe: jung, alt) x 4 (Bedingung: Einfach, Zweifach + KI, Zweifach + MI, Dreifach) Varianzanalyse (ANOVA) mit Messwiederholung auf den Faktor Bedingung wurde durchgeführt, um Unterschiede zwischen den beiden Altersgruppen und den vier Aufgabenbedingungen für den Parameter „Gehgeschwindigkeit“ herauszustellen. Post-hoc-Tests mit Bonferroni-korrigiertem α wurden berechnet, um statistisch signifikante Vergleiche darzustellen. Die Bestimmung und Klassifikation der Effektgröße f erfolgte unter Verwendung des partiellen η2 p. Ein f-Wert von .10 kennzeichnet einen schwachen, von .25 einen mittleren und von .40 einen starken Effekt (5). Das Signifikanzniveau wurde auf = 5 Prozent festgelegt. Die statistische Datenanalyse erfolgte mit dem Programmpaket SPSS (Version 16.0).

Ergebnisse Frage- und Assessmentbogen

Die ermittelten Ergebnisse im MMS (27.6 ± 2.3), im CDT (alle Pbn nicht pathologisch) und in der FES-I (19.5 ± 2.3) weisen darauf hin, dass die älteren Teilnehmer dieser Studie über intakte kognitive Funktionen (zum Beispiel Exekutivfunktion) verfügen und keine Einschränkungen in der sturzassoziierten Selbstwirksamkeit haben.

Gehgeschwindigkeit

Unabhängig von der absolvierten Gehbedingung, erzielten die alten Menschen im Mittel eine geringere Gehgeschwindig-keit als die jungen Menschen (Abb. 3). Der Unterschied in der Gehgeschwindigkeit zwischen Jung und Alt nahm mit ­ansteigender Aufgabenkomplexität (Gehen | Gehen + KI | Gehen + MI | Gehen + KI + MI) zu (Tab. 3). Weiterhin konnten für die jungen (von 137,0 bis 98,3 cm/s) wie für die alten Menschen (von 129,7 bis 57,2 cm/s) reduzierte Gehgeschwindigkeiten mit zunehmender Aufgabenkomplexität festgestellt werden (Tab. 3). Die statistische Analyse ergab einen statistisch signifikanten Haupteffekt für den Faktor Gruppe, F(1,38) = 31.3, p < .001, η2 p = .45, f = .90, sowie für den Faktor Bedingung, F(3,234) = 108.7, p < .001, 2 p = .74, f = 1.69. Des Weiteren konnte ein signifikanter Inter­aktions­effekt Gruppe x Bedingungen, F (3,234) = 13.3, p < .001, η2 p = .26, f = .59, beobachtet werden. Post-hoc-Analysen in Form von paarweisen Einzelvergleichen zeigten, dass in beiden Altersgruppen die Bedingung Gehen ohne Zusatzaufgabe mit signifikant höheren Gehgeschwindigkeiten umgesetzt wurde als die Bedingung Gehen mit Zusatzaufgabe (p ≤ .002).

Diskussion

Die Ergebnisse der vorliegenden Studie weisen eindrücklich darauf hin, dass (1) die älteren Pbn unabhängig von der Testaufgabe im Mittel langsamer gingen als die jungen, wobei der Unterschied in der Gehgeschwindigkeit zwischen den beiden Gruppen mit ansteigender Aufgabenkomplexität zunahm; (2) sich die Gehgeschwindigkeit bei jungen und bei älteren Pbn mit zunehmender Aufgabenkomplexität reduzierte, wobei die Verringerung bei den älteren Pbn stärker ausgeprägt war.

Die Resultate dieser Studie sind in Übereinstimmung mit der Literatur. In ­einer kürzlich veröffentlichten Untersuchung von Laessoe et al. (26) konnten ebenfalls reduzierte Gehgeschwindigkeiten älterer Pbn im Vergleich zu jüngeren festgestellt werden. Bei Einbezug kognitiver und motorischer Interferenzaufgaben wurde der Unterschied in der Geh­geschwindigkeit zwischen Jung und Alt größer. Im Gegensatz zur Studie von Laessoe et al. (21), in der die Probanden in Achterschleifen gehen mussten, konnten wir dieses Ergebnis unter den natürlichen Bedingungen des Geradeausgehens ermitteln.

Die Tatsache, dass sich in unserer Studie und in der Studie von Laessoe et al. (26) die Gehgeschwindigkeit der älteren Pbn bei zeitgleichem Vollzug einer kognitiven und/oder motorischen Zusatzaufgabe stärker verringerte als diejenige der jüngeren, deutet darauf hin, dass die ­Regulation des Ganges älterer Menschen weniger automatisiert ist, das heißt mehr Aufmerksamkeitsressourcen benötigt, als die jüngerer Pbn. Eine natürlich eingeleitete Verringerung der Gehgeschwindig-keit weist auf eine Kompensationsstrategie zur Aufrechterhaltung der Haltungskontrolle und zur Wiederherstellung der Gangsicherheit hin (18).

Vor diesem Hintergrund ergibt sich die Frage nach den Gründen für die stärkere Reduktion der Gehgeschwindigkeit älterer Menschen im Vergleich zu jüngeren bei zeitgleicher Ausführung kognitiver und/oder motorischer Interferenzaufgaben. Altersbedingte kognitive und ­somatosensorische Funktionseinbußen scheinen für diesen Sachverhalt verantwortlich zu sein. Kognitive Dysfunktionen lassen sich insbesondere am Beispiel der Exekutivfunktion beschreiben. Die Exekutivfunktion ist neben der Planung, Kontrolle, Ausführung und Abfolge komplexer und zielgerichteter Handlungen auch für die konzertierte Zuteilung der vorhandenen Aufmerksamkeitsressourcen auf die zu bewältigende kognitive und/oder motorische Zusatzaufgabe verantwortlich (38). Unterschiedlichen Studien ist zu entnehmen, dass sich die Qualität der Exekutivfunktion im Alternsgang verschlechtert (39).

Veränderungen des Gangbildes (zum Beispiel reduzierte Gehgeschwindigkeiten) können unter „Dual-Task“ Bedingungen die Folge sein (7). ­Neben altersbedingten Einbußen der Exekutivfunktion tragen vor allem degenerative Prozesse im somatosensorischen Sys­tem zu Gangveränderungen bei (17). Aus verschiedenen Untersuchungen geht hervor, dass sich im Alter die sensorische Bewegungswahrnehmung (visuell, propriozeptiv, vestibular) (41), die integrative Verarbeitung sensorischer Signale (zum Beispiel veränderte präsynaptische Hemmung [10], numerische Reduktion der Interneurone [46]) sowie deren Umsetzung in geeignete neuromuskuläre Antworten (reduzierte Leitungsgeschwindigkeiten, verringerte Anzahl an Alpha-Motoneuronen, Verlust der Muskelmasse [27,32]) verschlechtert. Aufgrund dieser somatosensorischen Einschränkungen benötigen ältere Menschen vermutlich mehr Aufmerksamkeitsressourcen zur Aufrechterhaltung der Gangstabilität als junge Menschen (37, 45). Dieser Sachverhalt bedarf jedoch weiterer Klärung. Weiterhin führt die zeitgleiche Verarbeitung kognitiver und/oder motorischer Zusatzaufgaben während des Gehens zu einer Überforderung prozessierender Hirnstrukturen und damit zu Leistungseinbußen sowohl in den Zusatzaufgaben als auch in der Gangstabilität (9,26). Dieses parallele Wetteifern verschiedener Aufgaben um einen beschränkten Ressourcenpool bezeichnet man auch als sogenannten „crosstalk“ oder auch als „neural structure theory“ (14,35). Ein weiterer Ansatz, der häufig für die Erklärung der Leistungseinbußen bei zeitgleichem Vollzug mehrerer Aufgaben herangezogen wird, ist die sogenannte „bottle neck theory“. Diese besagt, dass zwei oder mehrere Aufgaben, die zeitgleich kognitive Verarbeitungsre­ssourcen beanspruchen, aufgrund eines entstehenden Engpasses („bottle neck“) nur sequentiell umgesetzt werden können (35).

Die Aufrechterhaltung der Gangstabilität unter Doppeltätigkeitsbedingungen ist für den älteren Menschen vor allen Dingen in Alltagssituation von großer ­Bedeutung. Alleine das Überqueren der Straße kann in unterschiedlichen Situationen zu einer Vielzahl von Mehrfachtätigkeitsbedingungen führen. Zu­nächst ist es für den älteren Menschen bereits unter Einfachtätigkeitsbedingungen eine Herausforderung, einen Schritt von der Bordsteinkante nach unten auf die Straße zu tätigen, diese schnellstmöglich zu überqueren und am Ende die Schrittlänge so anzupassen, dass der letzte Schritt auf die Bordsteinkante erfolgen kann. Gleichzeitig sollte die Ampel im Auge behalten werden, um die Zeit für die Überquerung der Straße in etwa abschätzen zu können. In der Regel tragen ältere Menschen während der Straßen­überquerung ihre Einkäufe mit sich und führen möglicherweise das Enkelkind an der noch freien Hand. Dieses alltagsnahe Beispiel soll veranschaulichen, dass ältere Menschen sehr häufig mit Mehrfachaufgaben während des Gehens konfrontiert sind, die Gangveränderungen in Form ­reduzierter Gehgeschwindigkeiten zur Folge haben. Zur sicheren Überquerung einer Straße ist eine mittlere Gehgeschwindigkeit von 122 cm/s notwendig (20).

In einer Studie von Hoxie und Rubenstein (20) wurde festgestellt, dass 96 Prozent der über 65-Jährigen beim Überqueren einer Straße eine langsamere Gehgeschwindigkeit als 122 cm/s aufwiesen. Die Pbn der vorliegenden Studie können als kognitiv und körperlich gesund klassifiziert werden, waren im Mittel 73,5 Jahre alt und gingen mit einer Gehgeschwindigkeit von 129,7 cm/s unter Einfachtätigkeitsbedingungen (nur Gehen). Unter Mehrfachtätigkeitsbedingungen reduzierte sich die Gehgeschwindigkeit erheblich, um unter Dreifachtätigkeitsbedingungen ein Minimum von 57,2 cm/s zu erreichen (Tab. 3). Unsere Probanden wären damit in der Lage, unter Einfachtätigkeitsbedingungen die gegenüberliegende Straßenseite innerhalb der Grünphase zu erreichen. Unter Doppel- oder gar Dreifachtätigkeitsbedingungen würde dies jedoch miss­lingen. Da Doppel- oder Dreifachtätigkeitsbedingungen im Alltag von Senioren eher die Regel als die Ausnahme darstellen, sollten zukünftige Ganganalysen zur Bestimmung eines möglichen Sicherheitsrisikos immer unter Anwendung eines Doppeltätigkeitsparadigmas durchgeführt werden. Weitere Vorteile der Analyse von Gehgeschwindigkeiten liegen in der einfachen und kostengüns­tigen Testanwendung sowie im Erfassen relevanter Informationen zur funktionellen Mobilität von Seniorinnen und Senioren (6). Sollte es sich zeigen, dass im Rahmen von Ganganalysen Werte ≤ 122 cm/s auftreten, so wäre die präventive Verschreibung eines Gangtrainings die logische Konsequenz. In der Tat gibt es Hinweise, dass durch ein zwölfwöchiges kombiniertes Kraft- und Gleichgewichts­training mit älteren Menschen (mittleres Alter 82,1 Jahre) die Gehgeschwindigkeit statistisch signifikant um 8 Prozent verbessert werden konnte (22).

Mit der Gehgeschwindigkeit wurde ein relativ globales Maß zur Erfassung der dynamischen Haltungskontrolle gewählt. Die Gehgeschwindigkeit stellt jedoch einen etablierten Gangparameter dar, welcher in zahlreichen Studien zur Kennzeichnung der Gleichgewichtsleis­tung während des Gehens verwendet wurde (22,34). Er bietet den Vorteil, dass er sowohl räumliche (Schrittlänge) als auch zeitliche (Schrittdauer) Informationen einschließt. Aus diesem Grund wurde die Gehgeschwindigkeit als essentieller Parameter und primärer Endpunkt vor Studienbeginn festgelegt. Weiterhin korreliert die Gehgeschwindigkeit hoch mit Parametern der funktionellen Mobilität (zum Beispiel Treppen steigen, aus einem Stuhl aufstehen, Bewältigen eines ­Hindernisparcours) (21,33,34) sowie mit der Kraft von Muskeln der unteren Extremität (1,12,2,3). Ein weiterer Vorteil der Gehgeschwindigkeit ist, dass sie sich methodisch einfach/ökonomisch erfassen lässt, was wiederum für den Prak­tiker/ Therapeuten von großer Bedeutung ist.

Die Ergebnisse dieser Studie zeigen, dass unabhängig von der Testbedingung die Gehgeschwindigkeit älterer Men­schen im Vergleich zu jungen Menschen reduziert ist. Unterschiede in der Geh­geschwindigkeit zwischen Jung und Alt steigen mit zunehmender Aufgabenkomplexität an. Vor dem Hintergrund funktioneller Schwellenwerte der Geh­geschwindigkeit sollten Ganganalysen unter Berücksichtigung des Doppeltätigkeitsparadigmas in den klinischen Alltag integriert werden, um bei negativem ­Resultat umgehend präventive Trainingsmaßnahmen einleiten zu können.

Überarbeitet mit freundlicher Genehmigung nach: Granacher U, Mühlbauer T, Bridenbaugh S, Wehrle A, Kressig RW. Altersunterschiede beim Gehen unter Einfach- und Mehrfachtätigkeit. Dtsch Z Sportmed. 2010; 61: 258-263.

Anschrift des Verfassers:

Prof. Dr. Urs Granacher

Professur für Trainings- und Bewegungswissenschaft

Campus Am Neuen Palais

Am Neuen Palais 10

14469 Potsdam

Ausgabe 01/ 2017

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Foto: Andrey Popov/AdobeStock_495062320
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